Zweite Liebe



In der Kuchenvitrine des Kaffeehauses, in dem Kurt wochentags, bevor er zum Dienst ging, einen kleinen Braunen zu sich nahm, lagen wie gewohnt nur ein paar schrumplige Krapfen. Er nahm es mit Genugtuung zur Kenntnis, denn er wünschte nicht, daß in Kaffeehäusern, in denen er Kraft schöpfte wie ein Gläubiger in der Kirche, gegessen wurde. Er war an diesem Morgen der einzige Gast. Die aushängenden Zeitungen standen ihm allein zur Verfügung. Doch er überflog nur die Titelseiten, auf denen in fast gleichlautenden Schlagzeilen von einer Giftmüllkatastrophe berichtet wurde. Was in der Welt geschah, interessierte ihn nicht. Der Zweck der Zeitungslektüre lag für ihn darin, sich täglich aufs neue die Bedeutungslosigkeit dessen vor Augen zu führen, was andere Menschen für wichtig hielten.

Während er überlegte, ob er zur Beschleunigung des noch ausstehenden Stuhlgangs eine zweite Tasse bestellen sollte, trat durch den Türvorhang eine Frau, die ihn, kaum sah er sie, magisch in ihren Bann zog. Mit leerem Kopf, dumpf und erregt zugleich, beobachtete er, wie sie Muff und Mantel ablegte. Als sie sich setzte, trafen sich ihre Blicke. Es schien, als grüßte sie ihn mit einem Lächeln. Ihr langes, gewelltes Haar fiel über Schläfen und Wangen. Sie warf es zurück. Kurt erhob sich wie ferngesteuert. Als er vor ihr stand, wußte er nichts zu sagen. Mit ausladender Geste bot sie ihm Platz an. Der Ober wartete kupplerisch, bis die Lage soweit geklärt war, daß er sie in seinem Sinne beeinflussen konnte.

"Wünschen der Herr Professor, daß ich ihm die Tasse herüberbringe?" fragte er, sich kaum merklich verneigend.

"Sie sehen doch, daß er jetzt hier sitzt", sagte die Frau.

Er bückte sich tiefer.

"Mir bringen S' einen Tee, und dazu einen Krapfen."

"Einen Tee, einen Krapfen", wiederholte er, so als sollten diese Worte einmal bedeutsam werden.

Kurt, der früh im Leben begonnen hatte, sich und seine Existenz zum Gegenstand der Betrachtung zu machen, fühlte sich in einen kindlichen Zustand versetzt, der ihn, da er ihn sich nicht erklären konnte, in die schlimmste Verlegenheit stürzte.

"Verzeihen Sie!" sagte er.

Im Gesicht der Frau ging eine Veränderung vor, die er als ein Zeichen von Mißmut deutete. Die Vernunft, über die er nur noch in der Form des Irrealis verfügte, nämlich indem er sich vorzustellen versuchte, wie er die Situation in normaler Gemütsverfassung gemeistert hätte, gebot den sofortigen Rückzug. Er jedoch ergriff beide Hände der Frau, senkte den Kopf und küßte die Fingerspitzen.

"Glauben Sie mir, ich weiß nicht, was ich tue. Sie haben mich um den Verstand gebracht. Noch nie habe ich mich auf so plumpe Art einer Dame genähert."

Der Ober brachte vom anderen Tisch das Tablett mit der leeren Tasse und einem noch halb gefüllten Glas Wasser.

"Wünschen die Gnädige den Tee mit Milch oder Zitrone?"

"Das ist mir vollkommen egal", kam in gereiztem Tonfall die Antwort, "wenn Sie uns nur endlich in Ruhe lassen."

"Also mit Milch", sagte er.

Kurt, von dem Verlangen erfaßt, sich auf die Knie zu werfen, rutschte zur Stuhlkante vor.

"Ich beschwöre Sie, lassen Sie es nicht zu, daß ich einen Hanswurst aus mir mache. Schicken Sie mich an meinen Platz zurück."

"Das würde nichts nützen", sagte die Frau, schob einen Geldschein unter den Aschenbecher und verließ, Muff und Mantel über dem Arm, das Kaffeehaus.

Sich aus der durch sie ausgelösten Bewußtseinstrübung befreiend, starrte Kurt die Tischplatte an. Als der Ober mit undurchdringlicher Miene, schwungvoll wie immer, Tee und Krapfen servierte, war der Professor zu einem Entschluß gekommen. Sie ist fort, dachte er, ist sie überhaupt hiergewesen? Er trank den Tee, aß den Krapfen. Den Geldschein zerriß er in kleine Schnitzel und legte sie in den Aschenbecher. Indem er das Geschehene als Ausgeburt seiner, wie er gern zugeben wollte, krankhaften Phantasie interpretierte, glaubte er, sich den Folgen entziehen zu können. Die Gelassenheit, mit der der Ober die Papierschnitzel auf den Krapfenteller umschüttete und mit Teekanne und Tasse vom Tisch nahm, erleichterte es Kurt, so zu tun, als wäre nichts vorgefallen. Es ist alles nur eine Frage der Konzentration, sagte er sich, ich muß die Ruhe bewahren. Daß er an diesem Tag zu spät zum Dienst kommen würde, war zu verschmerzen. Dafür ließ sich eine Ausrede finden. Irreparabel jedoch, dies schien ihm gewiß, wäre der Schaden, der entstünde, wenn es ihm nicht gelänge, das Kaffeehaus und die Erinnerung an die Frau, die dem Raum, seinem einzigen Kraftquell, anhaftete wie ein Makel, voneinander zu trennen.

Sein Blick schweifte über Tische und Stühle. Durch die hohen Fenster fiel wie auf eine leere Bühne das Licht. Die dadurch hervorgehobenen Gegenstände, das dunkle Parkett, die geschwungenen Messingscharniere an der Aborttür, weckten in ihm Gefühle der Zärtlichkeit, wie er sie für ein Lebewesen niemals empfunden hatte. Doch mischte sich in diese Gefühle, die all seine Sehnsüchte, sein Selbstmitleid, seine gelegentlich aufblitzende Liebe zur Schöpfung enthielten, zum erstenmal eine Hoffnung, die ihn verstörte. Obwohl er beschlossen hatte, die Frau aus seinem Gedächtnis zu streichen, wünschte er, daß sie wiederkomme. Gefangen im Dilemma zwischen Wille und Neigung, bestellte er sich ein Glas Rotwein.

Noch nie hatte er im Kaffeehaus etwas anderes als Kaffee getrunken. Schon der Anblick des rot schimmernden Kelches auf dem gesprenkelten Marmor machte ihn glauben, er habe den Ort gewechselt. Der Geschmack auf der Zunge und die berauschende Wirkung verstärkten den Eindruck. Er leerte vier Gläser. Dann ging er zum Telefon und rief das Büro an. Er sei verhindert. Auf dem Rückweg stieß er mit dem Fuß einen Stuhl um und stürzte zu Boden. Erst als er aufgestanden war, den Stuhl an seinen Platz gestellt und sich wieder hingesetzt hatte, näherte sich der Ober.

"Haben der Herr Professor noch einen Wunsch?"

"Josef, ich vergesse mich", sagte Kurt, das Gesicht mit den vom Sturz schmutzigen Händen bedeckend.

Der sanfte Druck auf die Augenlider öffnete in seinem Innern die Schleusen zu einem ihm bis dahin verschlossenen Reservoir angestauter Verzweiflung. Er spürte warme Feuchtigkeit unter den Fingern. Die Gefahr eines Tränenausbruchs machte ihn nüchtern. Sich bezwingend, faltete er die Hände über Mund, Kinn und Nase. Als er sie vom Gesicht nahm, erschrak der Ober.

"Die Gulaschsuppe wäre heute sehr zu empfehlen", sagte er, teils um sein Erschrecken zu tarnen, teils in der Hoffnung, der Professor könnte durch eine Magenverstimmung zum Aufsuchen der Toilette veranlaßt werden und einen Blick in den Spiegel werfen.

Kurt schüttelte nur den Kopf. Seit dem Erscheinen der Frau war ihm nichts mehr begreiflich. Er riß eine Seite aus seinem Notizbuch, schrieb eine Nummer darauf und schob sie zum Rand des Tisches.

"Rufen Sie mich an, wenn sie wiederkommt!"

Daß er ging, ohne zu zahlen, lag, so schien es, an seiner Zerstreutheit. In Wahrheit wollte er damit zum Ausdruck bringen, daß man ihn, solange seine Affäre mit der Frau nicht geklärt war, als im Kaffeehaus anwesend und seine Wohnung als einen dem Kaffeehaus zugehörigen Nebenraum zu betrachten habe. Er wohnte, nur wenige Minuten entfernt, in einem um die Jahrhundertwende erbauten Mietshaus, in dessen zwecklosem Prunk sich auf für ihn tröstliche Weise die Trennung von Nutzen und Schönheit manifestierte. Wie immer ging er die kurze Strecke zu Fuß. Das Gaffen der Menschen, die sein verschmiertes Gesicht bemerkten, nahm er als ein weiteres Glied in der Kette des Unbegreiflichen ohne Verwunderung hin. Zu Hause zwang ihn eine plötzliche Müdigkeit, sich sofort hinzulegen. Er konnte gerade noch das Telefon neben das Bett stellen, bevor ihn der Schlaf übermannte.

Als ihn das Klingeln weckte, brach schon die Dämmerung an. Am Apparat war die Frau, deren Stimme er gleich erkannte. Sie sprach ihn mit "du" an. Er könne sich mit ihr, wenn er wolle, in einer halben Stunde an der Pestsäule treffen. Ohne auf Antwort zu warten, hängte sie ein. Kurt, auf dem Rücken liegend, den Hörer ans Ohr gepreßt, schaute zur Decke, von der, durch Zugluft bewegt, ein Staubfaden hing.

"Pestsäule", sagte er, als spräche er eine Zauberformel. Über die verblassenden Traumbilder in seinem Kopf breitete sich der Schatten einer Erinnerung, die entschwand, als er sie festhalten wollte. Er sprang aus dem Bett. Die Geschmeidigkeit seines Körpers, die wippende Gangart, mit der er die Zimmer durchquerte, der Kraftüberschuß, der noch in der kleinsten Handlung, dem Drücken des Liftknopfs, sich zeigte, signalisierten ihm ein Verhängnis, dem er, obwohl er es dunkel vorhersah, nicht mehr entgehen konnte. Zu sehr sehnte er sich nach dem Geheimnis. Statt sich zu fragen, woher die Frau seine Telefonnummer wußte und weshalb sie ihn duzte, registrierte er mit heimlicher Freude, daß beides zur Vervollständigung des Mysteriums beitrug, dessen Enträtselung er sich zum Ziel gesetzt hatte. Mit jugendlichem Überschwang, der zu seinem Alter, er war fast fünfzig, nicht paßte, eilte er, am Universitätsgebäude vorbei, über die Ringstraße dem Stadtinneren zu.

"Wie siehst du denn aus", rief die Frau, als er ihr gegenüberstand.

Sein Atem flog. Die ihm einzig mögliche Tat wäre in diesem Augenblick eine Umarmung gewesen. Bis in die Geschlechtsteile fühlte er die Macht der Versuchung. Um ihr nicht zu erliegen, verharrte er in soldatischer Haltung, den Blick auf eine mit Rubinen besetzte Brosche geheftet, die am Revers des Pelzmantels prangte, den die Frau schon am Morgen, allerdings ohne die Brosche, getragen hatte. Wieder durchzuckte ihn eine Ahnung, der sofort das Vergessen folgte. Seine Miene verzog sich zu einem hilflosen Lächeln. Er senkte die Augen. Obwohl es ihm peinlich war, sich so wenig in der Gewalt zu haben, begann er, es zu genießen. Als ihm die Frau mit einem Taschentuch, das sie mit Spucke befeuchtet hatte, über die Wangen wischte, spürte er, daß sich sein Glied versteifte.

"Kindskopf", sagte sie. "Erkennst du mich nicht?"

Da verlor er die Selbstbeherrschung. In einem Anfall von Wollust umschlang er mit dem rechten Arm ihre Taille und küßte sie, während er die linke Hand unter den Mantel schob, auf die Lippen. Sie wehrte sich nicht. Passanten beobachteten vom Trottoir aus die in das kalte Neonlicht der Straßenbeleuchtung getauchte Szene. Männer in blitzenden Limousinen riefen Anzügliches durch die geöffneten Fenster.

"Komm", sagte die Frau.

Es hatte zu schneien begonnen. Vor den gläsernen Schreinen der Juweliergeschäfte sammelten sich die Menschen. Schaufensterpuppen posierten, grell kostümiert, für das Defilee der Flaneure. Kurt, wie betäubt von der Fülle der Bilder, ließ sich willenlos über die Straße führen. Durch die in alle Richtungen strömende Menge zog ihn die Frau hinter sich her. Es gelang ihm kaum, mit ihr Schritt zu halten. Sie bog in den Stephansplatz ein. Sich losreißen, dachte er, bevor es zu spät ist. Aus dem Dom tönte das Brausen der Orgel.

Die Gläubigen traten ins Freie. Ein verkrüppelter Bettler ermöglichte ihnen, sich barmherzig zu zeigen. Oder war es ein Abfalleimer? Der Professor erkannte die Dinge nicht mehr. Die am Straßenrand abgestellten Fiakergespanne hielt er, getäuscht durch die eigene Fortbewegung, für eine fliehende Kavalkade. Gesichter wurden zu Fratzen, Kleidungsstücke zu Farbexplosionen. Mitgehörte Gesprächsfetzen, die keinen Sinn ergaben, überschwemmten seine Gedanken. Die Stadt erschien ihm als ein Gewirr von Geräuschen und Formen, das ihn zu verschlingen drohte.

"Warten Sie!" bat er, so laut er konnte.

Die Frau ignorierte ihn. Zielstrebig stürmte sie durch die Strobelgasse, vorbei an dem Briefmarkengeschäft, in das er als Knabe seine Schätze getragen hatte, auf die Wollzeile zu. Er versuchte, sie aufzuhalten, vergeblich. Der uneingestandene Wunsch, sich ihr ganz und gar auszuliefern, äußerte sich in einem physischen Schwächegefühl, das ihn, obwohl es auf Einbildung beruhte, so kraftlos wie ein Kind an der Hand seiner Mutter machte. Da somit seine einzige Waffe im Kampf um die Freiheit die Sprache war, sagte er:

"Entweder Sie lassen mich los, oder ich rufe um Hilfe."

Der Satz amüsierte die Frau so sehr, daß sie von einem Lachzwang befallen wurde, dem sie aber erst in der nahezu menschenleeren Schönlaterngasse nachgab, weil sie kein Aufsehen erregen wollte. An eine Hauswand gelehnt, mit schlaff herabhängenden Armen, als wäre sie zu erschöpft, um zu lachen, stieß sie Schmerzensschreien ähnliche Laute aus, die nur in ihrer Gesamtheit als Heiterkeitsausbruch erkennbar waren. Kurt, den ihr Verhalten angesichts einer mit bettelnden Abfalleimern und fliehenden Droschkengäulen bevölkerten Welt nicht in Erstaunen setzte, ging wie von einer fremden Macht gelenkt weiter. Sein Blick war auf Unsichtbares gerichtet. Er bemerkte die Kothaufen nicht, in die er hineintrat. Vor einer Litfaßsäule, die ihm den Weg versperrte, machte er eine Verbeugung. Einen Hydranten streichelte er, bevor er ihm auswich. Ohne die Frau, die ihm nachgelaufen war, zu beachten, steuerte er auf genau jenes Haus zu, vor das sie ihn hatte zerren wollen. Es war ein kleines Hotel mit renovierter Fassade. Einen Augenblick schien er irritiert durch die Farbe des Anstrichs. Auch die Eingangstür war erneuert worden. In der Empfangshalle hatte sich nichts verändert. Er fragte, ob das Balkonzimmer im zweiten Stock mit dem Renoir über dem Doppelbett frei sei.

"Sie haben Glück", sagte der Rezeptionsangestellte mit hintergründigem Schmunzeln.

Er hatte sich über das Verhältnis der beiden sofort eine Meinung gebildet, denn er war es gewohnt, sich die Langeweile durch erdachte Romane, die er für sich behielt, zu vertreiben.

"Ich nehme an, die Herrschaften sind ohne Gepäck." Mit diesen Worten übergab er den Zimmerschlüssel.

"Der Aufzug ist links hinter der Treppe. Frühstück ab sieben."

Sein Gesicht drückte aus, daß man auf Formalitäten verzichten konnte. Kurt jedoch nahm einen der auf dem Empfangspult liegenden Meldescheine und verlangte nach einem Kugelschreiber. Er trug seinen Namen ein, darunter den Vornamen der Frau, Wohnort, Staatsbürgerschaft, sogar das richtige Datum. Mangels anderer Identitätsbeweise legte er seine Scheckkarte neben den Zettel. Die Entschlossenheit, die von ihm ausging, überraschte den Angestellten. Er sah sich noch einmal die Frau an, die in einem Prospekt blätterte, als ob sie sich für die Sehenswürdigkeiten der Stadt interessierte. Ein leichtes Zucken der Mundwinkel verriet, daß sie nervös war. Es griff auf die Nase über und erfaßte die Augenbrauen. Zuletzt entglitten die Hände ihrer Kontrolle. Beim Umblättern rissen die Seiten ein.

"Kurt", rief sie, "ich kann nicht mehr. Bitte hör auf damit."

Der Professor warf ihr einen entgeisterten Blick zu. Wie ein Schauspieler, dessen Partnerin sich plötzlich anders benimmt als ihre Rolle es vorschreibt, wußte er nicht, wie er nun reagieren sollte. In seiner Verwirrung füllte er ein zweites Formular aus, zerknüllte das erste und ging dann zögernden Schrittes zum Lift, wo er, da ihm die Frau nicht folgte, von einer Art Lähmung befallen wurde, die sich erst löste, als aus dem Fahrstuhl ein etwa gleichaltriger Mann trat, der ihn auf englisch begrüßte. Obwohl er sich nicht erinnern konnte, ihn jemals gesehen zu haben, nahm er die dargebotene Hand, drückte sie leidenschaftlich und beantwortete, so gut er es in der fremden Sprache vermochte, einige Fragen, die sich auf sein Befinden, das Wetter in London und die nach Meinung des Mannes von dort nach Wien unternommene Reise bezogen. Gezwungen zu lügen, ließ er seiner Phantasie freien Lauf. Ihm sowie der Familie gehe es ausgezeichnet. Der Schwiegervater habe einen Herzinfarkt heil überstanden, die Tochter den dritten Enkel geboren. Das Londoner Wetteramt melde den seit Menschengedenken mildesten Winter. Im Hyde Park schlügen die Bäume aus. Hätte er es nicht mit eigenen Augen gesehen, er würde es nicht für möglich halten.

Was das Reisen betreffe, dies sagte er mit deutlich gesenkter Stimme, so sei das für ihn schon immer eine Strapaze gewesen, da er nicht fliege. Zum Fliegen werde er sich wohl nie überwinden können. Allein der Gedanke, in ein Flugzeug zu steigen, verursache ihm ein Gefühl der Beklemmung. Nachts schrecke er, naß geschwitzt, mit jagendem Puls, aus dem Schlaf auf, weil er vom Fliegen träume. Im Traum sei er meistens Pilot. Indem er sich todesmutig für den Beruf des Fliegers entscheide, ersetze er die Angst vor dem Flug durch die Angst vor dem Absturz. Natürlich sei diese wie jede Angst, das brauche er dem Mann nicht zu erklären, eine verkappte Sehnsucht und das Entsetzen angesichts der drohenden Katastrophe in Wahrheit der brennende Wunsch, daß sie eintreten möge. Eigentlich könne er sich nichts Schöneres vorstellen als einen Flugzeugabsturz. Abzustürzen wäre für ihn eine Erlösung. Doch wache er jedesmal auf, bevor die Maschine am Boden zerschelle.

"Are you Mr. Rosenholzer?" fragte der Mann.

Inzwischen war die Frau, von Neugier getrieben, hinzugekommen. Kaum des Englischen mächtig, stutzte sie erst, als sie den Namen hörte.

"I don't know, who I am", sagte Kurt.

Das verstand sie. Mit einem Lächeln, das den Engländer von weiteren Fragen abhalten sollte, drängte sie den Professor zum Aufzug. Eben noch fest entschlossen, unter keinen Umständen mit ihm zu schlafen, war sie nun förmlich versessen darauf, ihn durch jenes äußerste Mittel zu zwingen, endlich Vernunft anzunehmen. Schon im Lift knöpfte sie Mantel und Bluse auf. Die knochigen Hände sowie der von Falten durchzogene Hals offenbarten, daß ihre Schönheit das Ergebnis eines kosmetischen Eingriffs war. Unter dem vom Schnee feuchten Haar, das in Strähnen herabhing, kamen die Narben zum Vorschein. Kurt wandte sich ab. Die Kabine blieb stehen. Aussteigen, dachte er. Seinen Handlungen gingen Befehle voraus, die er sich selbst erteilte. Der Gang über den Flur glich einer militärischen Unternehmung, wobei er sich zu jedem Schritt neu überwinden mußte. Im Zimmer ließ er es dunkel. Wie aus einem Projektionsapparat fiel das Schattenbild des von außen erleuchteten Fensters auf die geblümte Tapete. Die Gardinen bewegten sich leicht im Lufthauch der von den Heizkörpern aufsteigenden Wärme. Der Rolladen an der Balkontür war zur Hälfte herabgelassen.

"Alles wie damals", sagte die Frau, "die schäbigen Möbel, der Modergeruch, das Tapetenmuster, das du nicht ausstehen konntest."

Während sie sprach, betrachtete sie das im fahlen Schein des reflektierten Lichts gespensterhaft bleiche Gesicht des Professors.

"Erinnerst du dich? Hier haben wir uns geliebt."

Nicht die kleinste Bewegung in seinen Zügen entging ihr.

"Du hast dich immer gleich ausgezogen und auf das Bett gelegt. Ich bin ins Bad gegangen. So hatten wir es vereinbart. Du wolltest, daß ich dich auf die Folter spanne."

"Sei still", sagte er. Das trieb sie noch mehr an.

"Im Bad mußte ich Geräusche erzeugen, als ob ich beschäftigt wäre. Gewöhnlich ließ ich das Wasser laufen oder zog die Toilettenspülung. Wann ich herauskommen sollte, wußte ich nicht. Meist kam ich zu früh. Deine Ungeduld hatte den Grad noch nicht erreicht, den du Begehren nanntest. Ich legte mich neben dich. Du versuchtest, dir etwas vorzustellen, das dich erregte. Ohne mich anzusehen, befühltest du meinen Körper."

"Sei still", sagte er wieder. "Sei still!" Sein Gesicht verzerrte sich zur Grimasse.

"Zuletzt, wenn alles nichts half", fuhr sie fort, "mußte ich dir von meinem Mann erzählen. Daß ich mit ihm schlief, obwohl ich für ihn nichts mehr empfand, stimulierte dich. Du fragtest nach Einzelheiten. Anfangs fiel es mir schwer, darüber zu sprechen. Gewisse Wörter, auf die es dir ankam, hatte ich nie zuvor in den Mund genommen. Ich schämte mich. Aus Scham sprach ich nicht laut genug oder verschluckte einzelne Silben. Du batst mich zu üben. Ich hielt das für einen Scherz. Doch es war ernst gemeint. Du wolltest, daß ich mich für dich vorbereite, so als spielte ich eine Rolle auf dem Theater. Nicht der kleinste Fehler durfte mir unterlaufen. Sogar auf die Betonung mußte ich achten. Schon das Atemholen zwischen zwei Sätzen machte dich impotent."

Mehr konnte die Frau nicht sagen. Der Professor hatte die Hände um ihren Hals gelegt. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, als wollte sie ihm nach oben entschlüpfen. Er wunderte sich, wie leicht es war, sie zu erwürgen. Erst als sie tot auf dem Boden lag, merkte er, welche Anstrengung es ihn gekostet hatte. Erschöpft ließ er sich in den einzigen Sessel fallen. Dem Bedürfnis, sich hinzulegen, widerstand er, indem er sich das Erstaunen vor Augen führte, daß ein neben seinem Opfer schlafender Mörder verursacht hätte. Auch den Plan, sich zu stellen, verwarf er. Er wollte auf den weiteren Verlauf der Ereignisse keinen Einfluß nehmen. Ihm genügte, sich auszumalen, was alles ohne sein Zutun geschehen würde. Das Zimmermädchen würde morgens die Leiche finden und einen Schrei ausstoßen. Der Rezeptionsangestellte würde die Polizei anrufen. Kriminalbeamte würden erscheinen. Ein Kommissar würde Fragen stellen. Das kleine Hotel würde sich wie das Geburtshaus eines Unsterblichen in einen Ort verwandeln, an dem ein Abwesender herrschte.

Währenddessen würde er, Kurt, im Kaffeehaus sitzen und auf seine Verhaftung warten. Josef, der Kellner, würde ihm wie gewohnt einen kleinen Braunen und ein Glas Wasser bringen. In der lichtdurchfluteten Kuchenvitrine würden zwei verschrumpelte Krapfen liegen. Die in Holzrahmen gespannten Zeitungen an einem der Kleiderständer würden ihm allein zur Verfügung stehen. Er schmunzelte bei dem Gedanken an die Katastrophenberichte der Titelseiten. Ob er sie lesen würde?

Aus dem Nebenzimmer drang das Stöhnen eines koitierenden Paares.

"Liebe ist eine Krankheit", sagte er.

Sein Blick ruhte auf dem Gesicht der Toten, dessen chirurgisch verjüngte Züge nun, da kein Mienenspiel sie zusammenhielt, einer auf groteske Weise mißlungenen Maske glichen. Ein dumpfer Aufprall ertönte. Die Lustgeräusche verstummten. Er stieg über den Körper der Frau, hob den Hörer vom Telefon, das auf dem Nachtkästchen stand, und bat die ihm der Stimme nach unbekannte Person, mit der er, ohne gewählt zu haben, verbunden war, man möge ihn um sieben Uhr wecken. Dann zog er den Rolladen hoch, öffnete die Balkontür und trat ins Freie.

Unter ihm brandete der Verkehr, über ihm leuchtete der volle Mond am sternklaren Himmel. Sein Atem bildete Dampf in der Kälte. Ihn fror. Er war hungrig. Doch statt sich zu wärmen, zog er den Mantel aus, und zur Verstärkung des Hungergefühls stellte er sich ein üppiges Mahl vor. Kann ein Gericht, fragte er sich, die Sehnsucht nach Schmerz als mildernden Umstand werten? Der Mantel fiel in den Schnee. Hinter einem Fenster auf der anderen Seite malte ein Kind, von Lichtreklamen in wechselnde Farben getaucht, Buchstaben an die beschlagene Scheibe. Aus dem Straßenlärm löste sich die Melodie eines Leierkastens. London, dachte er, Alpträume, Rosenholzer. Bruchstückhaft stieg die Erinnerung in ihm auf. Ein Schwindel ergriff ihn. Sein Herz klopfte spürbar. Er freute sich auf die Verhöre.

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Erschienen in: André Müller, "Zweite Liebe", Bibliothek der Provinz, 1991