Im Titel Ihres zuletzt erschienenen Lyrikbandes* bezeichnen Sie sich als "das
Arschloch der achtziger Jahre". War das ein taktischer Schachzug, um
den Beschimpfungen Ihrer Gegner zuvorzukommen?
WOLF WONDRATSCHEK: Nein, das war ein Reflex auf die oft sehr preziösen Titel
anderer Lyrikbände, die mich geärgert haben.
Das Gedicht, dem die Zeile entstammt, läßt eher auf Selbstzweifel schließen.
WONDRATSCHEK: Sicher habe ich Zweifel. Ich weiß nicht mehr, ob ich noch zeitgemäß
fühle. Es gibt eine Modekultur, hot zu sein oder cool, leidenschaftlich oder
gelangweilt. Ich erlebe immer wieder, daß ich entweder zu stark oder zu schwach
empfinde.
Woran merken Sie das?
WONDRATSCHEK: An den Reaktionen von Frauen zum Beispiel. Ich war mit der Frau,
der das Buch gewidmet ist**, vor einigen Jahren in Spanien. Wir machten Station
in der kleinen Stadt Ronda, tranken Sangria, unterhielten uns. Plötzlich geschieht
etwas, ein falsches Wort, eine Bewegung. Die Frau steht auf und verschwindet.
Ich finde sie weder im Hotel noch in der Stadt, wanke betrunken durch die
andalusische Nacht, schaue die Sterne an und denke, da ist es wieder, statt
die Geliebte in den Armen zu halten, irrst du umher und begreifst den Grund
nicht. Die Folge war, daß ich anfing zu überlegen, ob es in meiner Kindheit
und Jugend Erlebnisse gab, die möglicherweise eine Erklärung sind für meine
beschädigte oder bizarre oder vielleicht auch kranke Gefühlswelt.
Sind Sie zu einem Ergebnis gekommen?
WONDRATSCHEK: Was mir als erstes einfiel, war eine Nachbarin, die sich im
Garten nach Äpfeln bückte. Ich erinnere mich, wie dieser riesige Arsch vor
meinen Augen war. Ich wollte hinfassen. Ich war sechs Jahre alt. Von diesem
Körperteil ging ein unglaublicher Sog aus. Ähnliches müssen die spanischen
Eroberer vor dem Gold der Azteken empfunden haben. Ich dachte, ich werde verrückt.
Aber ich habe nicht hingefaßt. Ich fürchtete mich vor der Strafe. Ich wußte,
das waren verbotene Früchte.
Hatten Sie schon so früh sexuelle Gelüste?
WONDRATSCHEK: Nein, das kam später. Mit vierzehn lernte ich eine Nymphomanin
kennen. Die war einundsechzig. Zu der bin ich jeden Tag hingeradelt, sobald
ich die Hausaufgaben geschrieben hatte. Meine Brüder gingen zum Fußballspiel.
Ich massierte dieser Frau mit einer Bürste den nackten Körper. Danach hat
sie mich angepißt, sich über meinen Schenkeln entleert und begonnen, mich
auf die perverseste Art zu verführen. Ich geriet in einen Zustand der Raserei.
Aber die Zeit war knapp. Um sechs mußte ich wieder zu Hause sein, damit meine
Eltern nichts merkten. Es war Wahnsinn. Es war die erste große Sucht meines
Lebens.
Für einen psychischen Schaden jedenfalls reicht es.
WONDRATSCHEK: Das habe ich nicht so empfunden. Ich fand es erregend, zumindest
erregender als irgend ein gleichaltriges Mädchen, das im Schwimmbad sagt,
kannst mir mal mit Nivea den Rücken einreiben. Den Mädchen in meinem Alter
habe ich Angst gemacht. Denen war ich nicht zahm genug. Ich dachte, wer ein
Mädchen küssen will, geht hin und küßt es.
Woher nahmen Sie den Mut, sich so extrem zu benehmen?
WONDRATSCHEK: Aus Büchern. Ich habe Baudelaire gelesen, Tennessee Williams,
aber ich habe das nicht für Poesie gehalten, sondern für das wirkliche Leben.
Dagegen fand ich das bürgerliche Milieu, in dem ich aufwuchs, vollkommen öde.
Ich fragte mich, warum zum Teufel bin ich nicht in Louisiana zur Welt gekommen?
Warum wohne ich in Rüppurr bei Karlsruhe? Dort herrschte so eine lähmende
Leere. Ich sah mir die Leute an und dachte, wozu leben die überhaupt? Wo ist
deren Vergnügen? Niemand strömte Vitalität aus. Das habe ich nicht verstanden.
Das schien mir ein falsches Konzept zu sein. Ich verspürte eine schreckliche
Langeweile.
Hat die Nymphomanin Sie nicht in Spannung gehalten?
WONDRATSCHEK: Doch, sicher, mit der war ich zufrieden. Unzufrieden war ich
mit der Mittelmäßigkeit in so einer Kleinstadt, auch mit der Art, wie es bei
uns daheim zuging. Ich durfte nicht kommen und gehen, wann ich wollte. Mein
Vater hatte sich einen Hund angeschafft, damit er hörte, wann ich nach Hause
kam. Der bellte immer. Seither hasse ich Hunde. Wenn ich nicht pünktlich war,
gab es Prügel. Ich wurde mit dem Rohrstock erzogen. Aus Protest bin ich bei
Regen barfuß hinausgelaufen, habe mich erkältet und konnte nicht in die Schule
gehen. Das spitzte sich zu. Eines Tages habe ich dann zurückgeschlagen. Also
ich habe meinen Vater verprügelt. Darauf sagte er, ich solle sofort das Haus
verlassen, er wolle mich nie wieder sehen. Das war der glücklichste Moment
meines Lebens. Es gibt bei Nietzsche einen Satz, den ich mir unterstrichen
hatte. Da heißt es, wenn dir deine Eltern nicht passen, suche dir neue.
Das haben Sie getan?
WONDRATSCHEK: Ja, ich bin zu meinem Religionslehrer gegangen, den ich sehr
mochte, und habe ihm die Lage erklärt, worauf er bereit war, sich für mich
einzusetzen. Eltern, die mich adoptiert hätten, waren vorhanden. Doch leider
wollte meine Mutter mich wiederhaben. Der Vater erschien in der Schule und
verlangte, daß ich nach Hause käme. Darauf habe ich vor dem Jugendgericht
gegen ihn prozessiert.
Klingt ja unglaublich.
WONDRATSCHEK: Sicher war es nicht das, was man gemeinhin als glückliche Kindheit
bezeichnet. Aber ich wünsche mir keine andere. Ich bedaure nichts.
Haben Sie den Prozeß gewonnen?
WONDRATSCHEK: Natürlich nicht. Ich erinnere mich an ein wahnwitziges Plädoyer
für die Freiheit des Individuums, das ich gehalten habe. Aber es half nichts.
Ich wurde verdonnert, innerhalb einer Woche zurückzukehren.
Daß Sie sich bei alldem gelangweilt haben, ist schwer zu begreifen.
WONDRATSCHEK: Sie haben recht. Mir erscheint das im Rückblick auch unverständlich.
Haben Sie zu dieser Zeit schon geschrieben?
WONDRATSCHEK: Ich habe einen Einakter über die Nymphomanin geschrieben, den
ich Elisabeth Flickenschildt widmen wollte. Als meine Mutter das Manuskript
fand, fiel sie in Ohnmacht. Ich dachte, wunderbar, welche Wirkung Geschriebenes
haben kann. Von da an war es mein Ziel, ein berühmter Schriftsteller zu werden.
Mein Vater konnte das natürlich nicht akzeptieren. Er war im Krieg Oberst
gewesen. Kaum gab es die Bundeswehr, ist er sofort wieder eingetreten. Er
wünschte sich seine Söhne als Berufssoldaten in der Armee. Ich drohte mit
Selbstmord und daß ich dort alles kurz und klein schlagen würde. So kam es,
daß ich als einziger freigestellt wurde.
Heute sind Sie der meistgelesene Lyriker Deutschlands. Marcel Reich-Ranicki
hat Sie als Klassiker der Moderne gefeiert.
WONDRATSCHEK: Das ist nicht meine Sache.
Sie scheinen im Trend zu liegen.
WONDRATSCHEK: Das hat sich aus einer Reihe wunderbarer Mißverständnisse, die
meiner Karriere genützt haben, ergeben. Aber es stimmt nicht. Ich richte mich
nicht danach, was gut ankommt. Es glaubt mir keiner, aber mich interessiert
vor allem die Form. Ich überlege stundenlang, wo ein Reim angebracht ist und
wo ich darauf verzichte. Mir macht das Schreiben die größte Mühe.
Ist das der Grund, weshalb Sie so erstaunlich wenig geschrieben haben?
WONDRATSCHEK: Ja, ich würde gern schneller schreiben, müheloser. Aber es gelingt
nicht. Die meiste Zeit sitze ich nichtstuend in meiner Wohnung*** oder laufe
orientierungslos durch die Gegend, hasse die Stadt, ärgere mich über das Wetter.
Abgesehen von den im Jahr drei bis vier glücklichen Monaten, in denen ich
arbeiten kann, quäle ich mich herum in der Hoffnung, daß etwas geschieht,
das mich genug fasziniert, um darüber zu schreiben.
Könnten Sie nicht versuchen, die Qual und die Hoffnung in Poesie zu verwandeln?
WONDRATSCHEK: Das will ich nicht. Denn diese gräßliche Literatur können Sie
schon in jeder Buchhandlung kaufen. Die Qual des Schreibens ist ein heute
beliebtes Thema.
Ihr Thema wäre aber die Qual des Wartens.
WONDRATSCHEK: Darüber gibt es ein klassisches Werk, "Warten auf Godot",
in dem bereits alles gesagt ist. Mich faszinieren andere Themen, zum Beispiel
die Frage, warum Männer mit Frauen nicht glücklich werden.
Neu ist das auch nicht.
WONDRATSCHEK: Nein, aber Sie müssen zugeben, daß der Grundkonflikt zwischen
den Geschlechtern auch nach zweitausend Jahren Literatur nicht gelöst ist.
Ein Mann und eine Frau können einander kurze Zeit lieben, kurze Zeit hassen
oder gleichgültig sein. Eine Dauer scheint mir nicht möglich.
Das wollen Sie ändern?
WONDRATSCHEK: Ich will es beschreiben.
Kann das gelingen, solange Sie von einer Liebesaffäre in die andere taumeln?
WONDRATSCHEK: Sie übertreiben.
Muß ein Künstler zum Dargestellten nicht Abstand halten?
WONDRATSCHEK: Das ist die Frage. Flaubert hat es verlangt. Er hielt es für
schädlich zu trinken, wenn man Trunkenheit schildern will, zu lieben, um ein
Liebespaar darzustellen. Auch mich interessiert die Kunst mehr als das Erleben.
Aber selbst Proust hatte seine Céleste.
Ja, die brachte ihm den Kaffee. Das war seine Hausangestellte, nicht seine
Geliebte.
WONDRATSCHEK: Also gut, dann kann ich nur sagen, daß ich mich nicht wie ein
Schriftsteller verhalte. Ich habe den Frauen in meinem Leben sicher mehr Zeit
geschenkt, als ihnen zusteht.
Lesen Sie Proust?
WONDRATSCHEK: Ich gehe ihm aus dem Weg. Proust macht mich völlig lethargisch
mit seiner Allgewalt. Ich liege da wie im Opiumrausch, strecke alle viere
von mir, hilflos dieser hohen Kunst ausgeliefert. Lieber lese ich Feuchtwanger,
Bukowski, Truman Capote. Die kräftigen mich. Nelson Algren hält mich in Form
wie ein Sparringspartner. Man muß, um gut zu sein, starke Gegner haben, aber
man darf von diesen Gegnern nicht überwältigt werden. Proust ist gefährlich,
weil er mich süchtig macht.
Nehmen Sie Drogen?
WONDRATSCHEK: Natürlich nehme ich Drogen. Mich wundert, daß das von den Kritikern
noch keiner bemerkt hat. Ein großer Teil meiner Gedichte ist nur durch Drogenrausch
zu erklären. Mit klarem Kopf kann man so etwas gar nicht schreiben.
Widerspricht das nicht Ihrem formalen Ehrgeiz?
WONDRATSCHEK: Nein, denn es gibt verschiedene Räusche. Manchmal kommt lauter
Schwachsinn heraus, manchmal etwas sehr Gutes. Die Vorstellung, daß vielleicht
gerade jene Gedichte, die ich unter Drogen geschrieben habe, die Zeit überdauern,
hat auf mich eine beruhigende Wirkung.
Leider werden Sie das nicht überprüfen können.
WONDRATSCHEK: Das will ich auch gar nicht. Ob etwas übrigbleibt, ist mir im
Grunde egal. Den Begriff der Unsterblichkeit habe ich immer eher mit der Musik
verbunden. Manchmal beneide ich Musiker, weil von denen niemand verlangt,
darüber zu sprechen, welche Gefühle ihren Kompositionen zugrunde liegen. Mit
einem Musiker unterhält man sich über die Machart eines bestimmten Werkes.
Ein Schriftsteller wird nach den privaten Hintergründen gefragt. Das finde
ich überflüssig. Statt Ihnen zu sagen, was ich von Frauen denke, würde ich
viel lieber erklären, warum ich einen Knittelvers, an anderer Stelle den Jambus
oder die rhapsodische Form verwende. Ich will ja mit meinen Gedichten keine
Meinungen äußern.
Aber Sie tun es. Man denke nur an Ihre lyrischen Attacken gegen die Frauenbewegung.
WONDRATSCHEK: Worauf spielen Sie an?
Auf Ihr Gedicht "Carmen". Da ist von "Podiumsdiskussionen über
Hängetitten" die Rede, von Frauen, "dem Verstand hörig wie andere
ihrem Kerl".
WONDRATSCHEK: Das habe ich möglicherweise geschrieben, weil es in das Versmaß
gepaßt hat. Aber, im Ernst, warum soll ich denn das nicht schreiben? Ist es
nicht erfrischend, daß ein Schriftsteller einmal ohne den Anspruch auf Neutralität
sagt, welche Frauen ihn faszinieren, weil sie sein Schicksal sind, und welche
nicht? Wenn ich auf einen Parteitag der Grünen gehe oder in ein vegetarisches
Restaurant, erlebe ich Frauen, die mit einem Kind vor der Brust wie Indianerinnen
und diesem typischen humanoiden Blick durch die Gegend laufen, als ginge sie
nichts etwas an, nicht einmal der Mann, der das Kind gezeugt hat. Den nennen
sie dann den Kindesvater. So etwas stört mich.
Sind Ihnen Frauen lieber, die meinen, ohne Männer nicht auszukommen?
WONDRATSCHEK: Es scheint so. Ich schreibe gerade den Text für eine Arie, den
sich ein befreundeter Komponist von mir gewünscht hat. Da besucht eine Frau
das Grab ihres Mannes und beschimpft ihn, weil er gestorben ist, statt sie
glücklich zu machen. Sein Kopf ragt noch ein Stück aus dem Boden. Sie zieht
ihre Schuhe aus und drückt ihn mit bloßen Füßen hinunter. Ursprünglich sollte
es ein Requiem für die Wiener Festwochen werden. Das hat sich zerschlagen,
weil der Bedarf an Requiems offensichtlich gedeckt ist.****
Denken Sie jetzt schon ans Sterben?
WONDRATSCHEK: Ich bin vierundvierzig. Daß ich so alt werde, hätte ich nie
gedacht. Die Vorstellung, im Rollstuhl zu enden, läßt mich erschauern.
Welche Todesart wäre Ihnen die liebste?
WONDRATSCHEK: Im Titel meines ersten Buches, "Früher begann der Tag mit
einer Schußwunde", drückt sich eine gewisse Sehnsucht aus, ungewöhnlich
zu sterben. Früher hat man sich duelliert. Wenn ich heute jemanden Arschloch
nenne, gibt er mir einen Stoß oder schmeißt mich aus dem Lokal. Das ist alles.
Im vorigen Jahrhundert wäre das eine Ehrenbeleidigung mit Folgen gewesen.
In einem Duell zu sterben, ist eine Todesart, die mir gefallen könnte. Ich
liebe den Zweikampf. Das ist auch der Grund, warum ich mich mit Boxern so
gut verstehe. Ich muß damit leben, daß ich einen Boxer interessanter als einen
Schriftsteller finde. Ich habe in meiner Wohnung einen Punchingball, und ich
mache auch Bodybuilding.
Eine andere Berufsgruppe, der Sie sich stark verbunden fühlen, sind Zuhälter
und Nutten.
WONDRATSCHEK: Das kann man nicht miteinander vergleichen. Natürlich kenne
ich mich da aus. Ich kann mich ungeschützt in Sankt Pauli bewegen, weil ich
dort Freunde habe. Ich schätze dieses Milieu. Angefangen hat es mit einem
Telefonanruf des WDR, der bei mir einen kurzen Film über den deutschen Alltag
bestellte. Ich wohnte damals in Frankfurt und kannte da eine Hure, die ich
öfter aufgesucht hatte. So kam mir die Idee, über diese Frau einen Film zu
machen. Nur war die inzwischen nach Hamburg gewechselt. Während der Dreharbeiten
in Sankt Pauli kam ein Kerl auf mich zu und sagte, bist du der Wondratschek,
ich mag deine Sachen. Das war Wolli Köhler*****, seines Zeichens Zuhälter,
einer der besten Freunde von Hubert Fichte******. Der hat einen Puff auf der
Reeperbahn. Daraus ergab sich, daß ich quasi jedes Wochenende nach Hamburg
flog und die Szene nach und nach kennenlernte.
Mit der Arbeitsmoral der dort beschäftigten Dirnen waren Sie aber, so schreiben
Sie, nicht zufrieden.
WONDRATSCHEK: Darüber muß man genauer sprechen. Ich verlange von einer Nutte,
daß sie für das schwer verdiente Geld, das ich zahle, den entsprechenden Gegenwert
liefert. Das muß nicht Gefühl sein, aber Spaß an der Arbeit, eine perfekte
Inszenierung, wenn Sie so wollen.
Ein Puff ist doch kein Theater.
WONDRATSCHEK: Warum nicht? Wenn Sie zum Beispiel zu einer Domina gehen, dann
werden Sie sehen, daß die sich bei jedem einzelnen Kunden unglaublich anstrengen
muß, um die Illusion, die dieser Mann zur Erregung braucht, herzustellen.
Das sind präzise Arbeiterinnen. Da stimmt das Timing. Die dürfen auch nicht
zu brutal sein. Schon der kleinste Fehler kann alles zerstören.
Für dieses Thema wäre Alice Schwarzer ein geeigneter Partner.
WONDRATSCHEK: Mit der würde ich mich sehr gern unterhalten. Ich habe immer
gehofft, daß wir einmal zusammenkommen. Diese Frau fasziniert mich. Erstens
hat sie Humor, zweitens ist sie eine blitzgescheite Person. Ich bin sicher,
sie würde mir, wenn sie gut zuhört, nicht widersprechen. Denn ich bin doch
wenigstens ehrlich. Ich verstecke mich nicht. Was mich interessiert, ist der
Sex als Tabu. Deshalb lese ich so gern Biografien. Wenn Elsa Morante und Moravia*******
mit Pasolini zum Essen gingen, dann ist dieser Dreckskerl um punkt elf Uhr
aufgestanden, egal, welches Gespräch gerade lief oder wie gut der Wein war,
und hat gesagt, sorry, I have to go, getrieben von der Begierde, irgend einen
Stricher zu treffen. Es gibt doch diese Sehnsucht nach dem Instinkt. Die größte
Befriedigung des Menschen, auch des Künstlers, liegt jenseits der Kunst. Oder
soll ich mich wie Proust zehn Jahre lang in ein Korkzimmer zurückziehen?
Wenn Sie etwas Vergleichbares schreiben wollen, ist das wahrscheinlich der
Preis, den Sie zahlen müssen.
WONDRATSCHEK: Darauf verzichte ich. Denn was käme dabei heraus? Ich weiß zum
Beispiel durch einen Bekannten sehr gut Bescheid über die letzten Jahre der
Ingeborg Bachmann. Diese Frau war vollkommen pervers. Aber was finde ich davon
in ihrer Literatur? Da ist alles nur kunstvoll angedeutet.
Wollen Sie Pornographie von Ingeborg Bachmann lesen? Kunst entsteht doch gerade
durch die Verwandlung.
WONDRATSCHEK: Ja, aber durch wie viele Verwandlungen wollen Sie den Abgrund
eines Menschen letztlich genießbar machen? So ein Buch wie "Montauk"
von Max Frisch, das von seiner Beziehung zu Ingeborg Bachmann handelt, langweilt
mich tödlich, weil es nur aus Verschlüsselungen besteht.
Sie verschlüsseln doch auch.
WONDRATSCHEK: Finden Sie?
Aber sicher. Verglichen mit manchen Mitteilungen in diesem Interview ist Ihre
Lyrik doch harmlos.
WONDRATSCHEK: Vielleicht haben Sie recht. Ich habe in den Siebzigerjahren
ein Buch geschrieben, das hieß "Letzte Gedichte". Der Titel war
nicht als Witz gemeint. Ich wollte tatsächlich aufhören, Gedichte zu schreiben.
Ich achte Prosaschriftsteller viel höher als Lyriker. Mein Plan war, eine
längere Erzählung zu schreiben. Aber mir fiel nur der Schluß ein. Es wurde
wieder nur das große Versagen.
Warum geben Sie sich nicht zufrieden mit dem, was Sie können?
WONDRATSCHEK: Das ist so ein verrückter Ehrgeiz, vielleicht eine Art Masochismus,
genau das zu wollen, von dem ich annehme, daß es mir neue Schwierigkeiten
bereitet. Ich würde vor mir den Respekt verlieren, wenn ich einer solchen
Herausforderung aus dem Wege ginge.
Sie sind wirklich zum Lachen.
WONDRATSCHEK: Können Sie das erklären?
Dieser männliche Sportsgeist, mit dem Sie an die Kunst herangehen, ist doch
kurios, wenn nicht lächerlich.
WONDRATSCHEK: Man hat mich vor Ihnen gewarnt.********
Trotzdem haben Sie mich hereingelassen.
WONDRATSCHEK: Ich habe Ihnen sogar Wein eingeschenkt.
Wovor fürchten Sie sich am meisten?
WONDRATSCHEK: Davor, nie mehr etwas Wichtiges schreiben zu können. Das ist
wirklich eine ganz große Angst.
Haben Sie finanziell vorgesorgt?
WONDRATSCHEK: Nein. Ich bin ein armer Schriftsteller. Aus der Künstlerversicherung
bin ich ausgetreten. Die Summen, die ich verdiene, sind kaum erheblich, obwohl
ich mehr verlange als andere. Für ein Gedicht in einer Anthologie verlange
ich fünfhundert Mark. Der normale Tarif beträgt vierzig Mark. Deshalb stehe
ich in keiner Anthologie mehr drin.
Haben Sie keine Literaturpreise bekommen?
WONDRATSCHEK: Ich habe vor zwanzig Jahren den Leonce-und-Lena-Preis für ein
Gedicht bekommen, das waren tausend Mark, und 1970 der Hörspielpreis der Kriegsblinden,
mehr nicht. Es ist ein Skandal! Eine Ulla Hahn hat sechs Preise. Aber ein
Wondratschek bekommt nichts.
Vielleicht, weil man über Ihre Notlage nicht informiert ist.
WONDRATSCHEK: Wahrscheinlich. Das ist ein interessantes Phänomen. Man hält
mich für einen Großverdiener. Aber dazu schreibe ich viel zu wenig. Ich habe
auch nichts in Schubladen liegen. Ich setze mich jeden Morgen hin und versuche
es. Das habe ich mir von Walter Benjamin angewöhnt, der gesagt hat, man muß,
egal wie man sich fühlt, jeden Tag etwas schreiben. Da gibt es dann irgendwo
ein paar Zettel.
Und was geschieht mit denen?
WONDRATSCHEK: Die schmeiße ich weg.
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*) "Carmen oder bin ich das Arschloch der achtziger Jahre", erschienen
1986 bei Diogenes
**) Jane Seitz, Cutterin, nahm sich am 4.Januar 1988 im Alter von 45 Jahren
das Leben
***) Wolf Wondratschek wohnte damals in München-Schwabing.
****) Nach dem Selbstmord von Jane Seitz griff
Wondratschek seinen alten Plan wieder auf. Am 16. August 1990 wurde bei den
Salzburger Festspielen sein Requiem „Mein Tod. In memoriam Jane S.“, vertont
von Wolfgang Rihm, uraufgeführt.
*****) Wolli Köhler wurde später das Vorbild für die
Hauptfigur in Wondratscheks erstem Roman, „Einer von der Straße“, erschienen
1992 bei Bertelsmann.
******) Hubert Fichte, deutscher Schriftsteller (1935
-1986)
*******) Die Schriftstellerin Elsa Morante (1912 - 1985) war von 1941 bis 1962 mit Alberto Moravia verheiratet.
********) Mein Problem mit Wondratschek war, daß er in Zorn geriet, wenn ich ihn komisch fand. Als ich meine Belustigung über seine Schilderung einer fehlgeschlagenen Liebesnacht nicht verbergen konnte, fragte er: „Kommen Sie vom Oktoberfest?“ Mehrmals gab er mir zu verstehen, daß er sich unwohl fühle. Meine Ironie gefalle ihm nicht. Er wolle mit mir ernsthaft über das Dichten sprechen. Ich aber hatte mir in den Kopf gesetzt, mich mit ihm über die Lächerlichkeit der Männer im Umgang mit Frauen zu unterhalten. Witzige Menschen, erklärte er mir, halte er für neurotisch. Auch als „langweilig“ und „klobig“ mußte ich mich beschimpfen lassen. Die seltsame Diskrepanz zwischen den Anwürfen des Dichters und der Tatsache, daß er mir auf meine Fragen bereitwillig Antwort gab, weckte in mir den Verdacht, daß er nur meine Nehmerqualitäten erproben wollte. Als ich die Probe bestanden hatte, wurde er freundlich und mild. Ich sei ihm sympathisch, sagte er plötzlich. Sein Gefühl der Langeweile, sein „Bestehen auf dem Ritual, sich zu langweilen“, habe ihn „wahrscheinlich vor einem frühen Tod, vor der Selbstzerstörung“, zu der er tendiere, „bewahrt“. Wir haben uns nach dem Interview noch öfter getroffen. Die Sympathie hielt an, zumindest auf meiner Seite. Ich verdanke Wolf Wondratschek die für meine berufliche Laufbahn entscheidende Einsicht, daß mir in der Selbstvergessenheit der Erschöpfung die schönsten Gespräche gelingen. „Wenn Sie müde werden“, hatte er mich, als meine Konzentration sichtlich nachließ, ermuntert, „erreichen Sie Ihre Hochform. Im Halbschlaf sind Sie am besten. Erst der Knockout erlöst Sie vom Zwang Ihres monomanischen Denkens.“
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Erschienen am 11. März 1988 in der ZEIT