Meine Damen und Herren,



ich soll heute hier über das Denken reden. Aber ein Vortrag in freier Rede über das Denken, so wie ich es verstehe, ist gar nicht möglich. "Es ist falsch, wenn einer sagt: Ich denke. Man müßte sagen: Ich werde gedacht", schrieb Rimbaud an seinen Lehrer Georges Izambard. Auch ich  betrachte das Denken nicht als eine Tätigkeit, sondern als etwas, das uns geschieht. Es befällt uns wie eine Krankheit und zwar eine unheilbare. Pascal meinte, all unser Handeln beruhe auf der Notwendigkeit, uns vom unerträglichen Denken an das Elend unserer Existenz abzulenken. Sartre befand, jeder zu Ende gedachte Gedanke führe ins Nichts. Das bedeutet, daß wir, um nicht zu verzweifeln, das Denken betäuben müssen. Eine mögliche Form der Gedankenbetäubung ist das ununterbrochene Sprechen. Ich könnte also versuchen, jeden Gedanken, der mich heimsucht, während ich hier vor Ihnen stehe, sofort auszusprechen. Aber abgesehen davon, daß mir das nicht gelingen würde, weil ich so schnell wie ich denke nicht sprechen kann, würde ich das mir gestellte Thema verfehlen. Ich würde vom Hundertsten ins Tausendste kommen. Meine Rede würde aufgrund der Geschwindigkeit meines Denkens und der bestenfalls mir, sonst niemandem verständlichen Gedankenverknüpfungen, die sich wie ein Bandwurm endlos, das heißt bis zu meinem physischen Zusammenbruch, fortsetzen würden, zu einem wirren Gestammel werden. Das wollte ich Ihnen ersparen. Also habe ich mich entschlossen, einen Text zu verfassen, an den ich mich, eventuell auftauchende Gedanken verdrängend, verzweifelt klammere. Ich halte keine Rede. Ich lese.

Das Thema der Lesung hat sich der Veranstalter ausgedacht: "Der Interviewer als Grenzgänger oder: Durch Denkschärfe zur Selbstfindung in der Kunst". Auf das erste gehe ich nicht weiter ein. Für Komplimente bedankt man sich. Das zweite stellt eine Behauptung dar, die ich leider entkräften muß. Wer meint, scharf zu denken, begeht den Irrtum, seine Gedanken für etwas zu halten, das er beeinflussen kann. Ich behaupte, wir sind unseren Gedanken ausgeliefert wie unseren Träumen. Einfluß haben wir höchstens darauf, wie wir mit ihnen fertig werden. Der eine betäubt sie, indem er sich schießwütig in ein Gemetzel stürzt, der andere macht daraus eine Philosophie. Sinnlos ist beides. Die verbreitetste Ablenkung vom Denken ist das, was wir Liebe nennen, ich meine die Liebe in allen Schattierungen vom christlichen Mitgefühl bis zum Liebesrausch. Das Mitgefühl, zu Mitleid gesteigert, hat Nietzsche als verkappten Sadismus entlarvt. Wer sich im Mitleid vergessen will, muß dafür sorgen, daß es genügend Leute gibt, auf die es sich richten kann. Die Voraussetzung für das Mitleid ist der Bemitleidenswerte. Der Mitleidende hat kein Interesse daran, das Objekt seiner Zuwendung zu stärken. Er braucht die Schwäche des anderen wie der Vampir das Blut. Nietzsche verdammte die christliche Nächstenliebe, die ja ganz ohne Eros auskommt, als die Quelle des Schwachen. Er wollte den Menschen stark. Stark wird der Mensch durch ausgestandenes Leid. Der Not ist jede Lust entsprossen, sagt Hölderlin. Es nährt das Leben vom Leide sich. Das zum äußersten gesteigerte Leid ist die Verzweiflung. Sie unterscheidet uns vom Tier.

Der Nährboden für die Verzweiflung ist das unter Verzicht auf jegliche Ablenkung ertragene Denken. Kierkegaard hat sich die Welt als eine von Verzweifelten bevölkerte vorgestellt. Die meisten Menschen wüßten nur nicht, daß sie verzweifelt sind, eben weil sie sich von früh bis spät in die Zerstreuung flüchten. Liebe macht dumm, heißt es. Dummheit ist eine Gnade. Der Künstler, zumal der schreibende, muß sich zur Aufgabe stellen, das Denken bis zur Unerträglichkeit auszuhalten. Er geht an die Wahnsinnsgrenze. Manchmal überschreitet er sie. Im Wahnsinn wird er zum Zuschauer seiner Verzweiflung und so durch sich selbst abgelenkt. Zur Vermeidung des Wahnsinns erzeugt er Kunst. Das kann man dann "Selbstfindung" nennen.

Aber die höchste Kunst, das Ideal des Künstlers wäre das Ertragen des Denkens im stillen Kämmerlein. Heidegger stellt an den Anfang seiner Betrachtungen über die Kunst die banale Erkenntnis, daß es sie ohne das Werk nicht gibt. Ich stelle mir den Gipfel der Kunst ohne das Kunstwerk vor. Der Verzweiflungskünstler, der es aushält, mit seinen Kunststücken nicht aufzutreten, ist der Held, von dem ich mir die Rettung der Welt erwarte. Er braucht kein Publikum. Er schreibt keine Bücher. Er malt keine Gemälde. Er meißelt keine Skulpturen. Er stellt auch keine Fettecken aus. Er verhüllt keinen Reichstag. Aber dieser Held ist kein Mensch. Er ist Gott oder tot. Wolfgang Koeppen beschreibt in einem kurzen Aufsatz mit dem Titel "An mich selbst" diesen Tod: "Nichts wird sein. Keine glühenden Zangen. Keine Pfanne mit rauchendem Öl, dich zu sieden. Eine Einbildung war die freundliche Schlange, die dich schlingt und ausspeit. Nichts wird sein, nur ewig wird es sein, das wird es geben, kein Aufhören des Nichtseins, das Unwiderrufliche. Du erstickst in den weichen Kissen. Die Augen starren blind. Du stirbst. Am Morgen werden sie dich finden, die dir fern und gleichgültig sind, und werden in ihrer Dummheit sagen, er hat es überstanden. Du in der Leichenkälte weißt, es fängt an, jetzt fängt es an, das Nichts, das bloße körperlose seelenlose Ich, kein Schmerz, keine Angst, nur ein unbeschreibliches Entsetzen, augenlos in der finstersten Unendlichkeit, kein Durst, kein Hunger, du schleppst dich hin, tastest dich voran, ohne je etwas zu fassen, taumelst sternenweit oder im engsten Kreis, bist am Ende ohne Ende, bist allein, wenn auch vielleicht unter den Milliarden, die lebten, nun allein wie du, Atome, lichtfern, preßnah, ohne Berührung, ohne Laut. Keine Engel. Kein Teufel. Nichts. Nur daß du es weißt."

Eine grausigere Todesvision ist mir in der Literatur bisher nicht untergekommen. Leben heißt nicht denken, notierte Pessoa, der sich zu Tode soff. Verglichen mit einem durch das Denken lebenslänglich Gelähmten muß man sich Sisyphos, wie Camus vorschlug, in der Tat glücklich vorstellen. Den Gedanken an das Nichts wachen Geistes aushalten zu wollen, ist ein übermenschliches, das heißt ein unmenschliches Ziel. Ich habe mir das Erstreben dieses Ziels in jugendlichem Überschwang, man kann auch sagen, in einem Anfall von Größenwahn, als das spannendste Abenteuer, das sich denken läßt, ausgemalt. Ich habe mich in mein Bett gelegt und die Gedanken wie einen endlosen Film durch meinen Kopf ziehen lassen. Mein Körper sollte nur das Gefäß meines Denkens sein, die Aufrechterhaltung des Stoffwechsels der einzige dialektische Vorgang, dem ich mich unterwerfen wollte, der eigene Kot, den keine Mutter frohlockend im Nachttopf entdeckt, meine einzige Hinterlassenschaft. Wie umweltschonend! Aber natürlich mußte ich irgendwann, als die letzte Sardinenbüchse geleert, der letzte schrumplige Apfel gegessen war, in den Supermarkt gehen. Schon auf dem Weg dorthin bestand die Gefahr, daß mir eine Hauspartei oder der nächstbeste Passant, der mir über den Weg lief, meine Verzweiflung ansah. Selbstverständlich habe ich versucht, mich zu verstellen. Ich habe der Nachbarin freundlich zugenickt. Wie lächerlich! Denn hinter der Maske habe ich gehofft, daß sie mir jemand herunterreißt. Das Experiment mußte scheitern.

Mit der Formulierung des Scheiterns besiegelte ich meine Niederlage. Ich schrieb ein Buch.* Sie erlauben, daß ich daraus einen Absatz lese: "Verführt durch den Gedanken, mich zum Zwecke der Beschreibung in die Lage eines vollständig gelähmten Menschen hineinzuversetzen, bin ich, statt wie jeden Morgen aufzustehen und mir ein Frühstück zu machen, liegen geblieben und habe mir absolutes Stillhalten verordnet. Zu spät merkte ich, auf welch riskantes Abenteuer ich mich eingelassen hatte. Einerseits stand außer Frage, daß ich die mir auferlegte Regungslosigkeit, schon allein, um sie überhaupt beschreiben zu können, irgendwann würde durchbrechen müssen, andererseits war mir klar, daß die authentische Schilderung der Empfindungen eines für immer Gelähmten dann nicht mehr möglich sein würde. Im Dilemma zwischen den einander entgegengesetzten Erfordernissen fiel ich nun tatsächlich in eine Erstarrung, aus der ich mich nicht mehr hätte befreien können, wäre nicht durch meinen infolge der Angst, nie wieder aufstehen zu können, immer stärker werdenden Herzschlag die Beschreibung eines Erlebnisses nötig geworden, welches mein Denken so sehr beherrschte, daß ich mich auf nichts anderes konzentrieren konnte. Im festen Glauben, eine außergewöhnliche Erfahrung gemacht zu haben, stürzte ich an die Schreibmaschine. Als ich mit dem Schreiben beginnen wollte, erkannte ich, daß ich nichts als die läppische Tatsache meiner Lebendigkeit zu berichten hatte."

Ein Rezensent, der das Buch im ganzen für durchaus gelungen hielt, bemängelte, ich hätte mich im weiteren Verlauf der Geschichte in Auswege geflüchtet. Der Held stürzt sich in eine Liebesaffäre. Zum Schluß geschieht noch ein Mord. Hätte ich mir die Fluchtwege versagt, so der Rezensent, "ein Meisterwerk hätte entstehen müssen". Der Mann hat recht, nur: Dieses "Meisterwerk" hätte er nicht lesen, geschweige denn rezensieren können. Die Kunst eines in seinem Zimmer für immer Gelähmten bleibt, sofern ihn kein mit einem Mikrophon bewaffneter Einbrecher zum Sprechen bringt, unbemerkt. Paul Valéry hat die Sackgasse des sich selbst beobachtenden Denkens an seiner Figur des Herrn Teste eindrucksvoll dargestellt. "Mein wachsender Schmerz zwingt mich, ihn zu beobachten", sagt der ans Bett Gefesselte. "Ich denke an ihn. Ich erwarte nur meinen Schrei, und sobald ich ihn gehört habe, wird das Ding, das entsetzliche Ding kleiner und kleiner und entzieht sich meinem inneren Sehen." Das "Ding", Ursache des Schmerzes, ist das Denken im Nichts, der zu Ende gedachte Gedanke. Von ihm erlöst nur noch der Schrei.

Nach Auschwitz, spätestens aber seit klar ist, daß die Menschheit sich nicht erschaffen, wohl aber sich selbst vernichten kann, gelten die alten Genres der Kunst nicht mehr. Kein Roman, kein Gedicht, kein noch so schrilles bildendes Werk kann wiedergeben, was dem sich auf das Denken Einlassenden in seinen Wachträumen erscheint. Die dem Heute angemessene Literatur wäre ein endloser Schrei oder das stumme Entsetzen. Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen. Das Chaos ist nicht mehr sprachlich in Ordnung zu bringen. Da hilft auch das Gezeter kreischender Großkritiker nichts. Wer von Reich-Ranicki auf MTV umschaltet, erlebt hier wie dort das sich betäubende Gebrüll, das die Flucht vor dem Denken begleitet.

Thomas Bernhard riet mir in einem Interview**, das ich 1979 mit ihm in Ohlsdorf führte: "Sie dürfen nicht so viel überlegen. Wenn man zu viel überlegt, kommt einem schließlich alles blöd vor. Wenn ich mir vorher überlege, was ich schreiben will, und mir ein Konzept mache und mich zu lange damit beschäftige, schreibe ich überhaupt nichts." Man wird mir glauben, wenn man kennt, was ich über Thomas Bernhard geschrieben und wie liebend ich mich mit ihm unterhalten habe, daß ich es tief bedauert hätte, wäre sein Schreiben durch zu viel Denken behindert worden. Aber die Frage bleibt: Ist es nicht an der Zeit, die Schutzzonen, in denen Literatur heute noch möglich ist, zu verlassen und das Verstummen zu wagen, das die Voraussetzung ist für das Neue, das vielleicht dann entsteht ... vielleicht auch nicht? Der Nihilismus, als dessen Höhepunkt und zugleich Überwinder sich Nietzsche sah, zeigt sich nicht im Verfassen nihilistischer Werke. Von Beckett gibt es eine Prosasammlung mit dem Titel "Texte um Nichts". Seine Theaterstücke strebten dem Nichts auf der Bühne zu. Aber das einem Publikum vorgeführte Nichts ist ja schon Etwas. Unsichtbar und deshalb unerträglich frei ist nur der niemandem mitgeteilte Gedanke.

Joseph Beuys, der 1980 als "Grüner" für den deutschen Bundestag kandidierte, hat in einem Anfall von Verzweiflung über die Masse nicht zu entsorgender Kunstprodukte das reine, abfallfreie Denken zur Kunst erklärt. Ich kann das verstehen. Ich teile das Unbehagen an den Resultaten menschlichen, insbesondere männlichen Schöpfungsdrangs. Aber auch Beuys macht den Fehler, das Denken als einen kreativen Akt anzusehen. Er hält den Gedanken für eine Art Plan, auf dessen Ausführung man auch verzichten kann. Wäre es so, dann könnten wir aus der Propagierung des Verzichts Hoffnung schöpfen. Der Bau neuer Vernichtungsmaschinen würde genauso Gedanke bleiben wie der alljährlich wachsende Bücherberg auf der Buchmesse in Frankfurt.

Das Ideal einer immateriellen Kunst, das in der Musik fast, aber eben nur fast, denn ohne Musikinstrumente gäbe es keine Musik, verwirklicht ist, entspringt der Sehnsucht, unseren von Müll und Menschen überfüllten Planeten vor dem Kollaps zu retten. Die Kunst und ihre Verbreitung durch die Massenmedien ist zu einem Industriezweig geworden, unter dessen materiellem Ausstoß ihr geistiger Ursprung verschüttet liegt. Auch Joseph Beuys hat seine Honigpumpe, statt sie verrotten zu lassen, ins Museum gestellt. Sogar die Filzhüte, die er trug, sind zum Spekulationsobjekt des Kunstmarkts geworden. Er hätte, um das zu vermeiden, das Denken, das Hegel als kreisende Selbstbewegung erkannte, ertragen müssen. Im Akt des Ertragens, der die Heimsuchung durch die Gedanken, der wir passiv ausgesetzt sind, in eine Art Tun verwandelt, könnte die erlösende Wirkung des Künstlers liegen. Ein Christus des nächsten Jahrtausends, der die Welt retten will, müßte predigen: Haltet eure Gedanken aus! Blickt tapfer in die Abgründe, in die euer Denken euch stürzt! Freut euch der Verzweiflung, die euch handlungsunfähig macht! Der Hegelsche Denkkreis ist ja nichts anderes als die Linie ins Nichts. Wer sich endlos im Kreis bewegt, wird irgendwann vom schwarzen Loch, das der Kreis umschließt, in die Tiefe gezogen. Die Tiefe ist bodenlos. Wer außer einem Gott darf verlangen, das Risiko eines Sturzes ins Bodenlose auf sich zu nehmen?

Der nur noch denkende Mensch kann nicht mehr handeln. Das bedeutet in letzter Konsequenz: Er kann auch nicht zeugen. Der stetige Blick auf sich selbst erlaubt ihm nicht jenen Moment der Selbstvergessenheit, in dem er sich hingebend fortpflanzt. Auch hier schließt sich ein Kreis. Die Erlösung der Menschheit wäre ihr Untergang. Vom Denken gelähmt, erwarten wir friedlich unser Verschwinden, Geistes-Saurier, von denen das All sich befreit. Aus kollektivem Todestrieb löscht sich die Gattung aus. Ich muß sagen, mir gefällt diese Lösung. Rousseau nannte den Menschen ein krankes Tier. Das kranke Organ, das zwecks Heilung zu amputieren wäre, ist sein Gehirn. Der Filmregisseur Ingmar Bergman, mit dem ich vor zwanzig Jahren ein langes Gespräch für eine Münchener Zeitung führte, hält den Menschen für von Natur destruktiv. In Adolf Hitler habe die menschliche Zerstörungswut ihre bisher extremste Gestalt angenommen. Der nächste und letzte Schritt werde die Selbstvernichtung des Menschen sein. Ich zitiere aus dem Gespräch:

Halten Sie den Menschen für an sich destruktiv?
BERGMAN: Ja.
Oder ist er durch bestimmte Verhältnisse dazu geworden?
BERGMAN: Nein.
Aber das ist doch schrecklich!
BERGMAN: Ich glaube, darüber ist es sehr schwierig zu sprechen. Da ist irgendwann etwas geschehen in der Entwicklung des Menschen.
Es war also nicht immer so?
BERGMAN: Doch, doch. Ich meine, als der Mensch noch herumlief als kleiner Affe, da war es noch schön. Aber dann fing plötzlich das Gehirn an zu wachsen, und zwar krebsartig zu wachsen, also ganz schnell, diese Mutation war unwahrscheinlich schnell, und da ist was geschehen, glaub ich, ich weiß nicht, ich stell mir das vor. Denn wäre ich ein Insekt, ganz praktisch eingerichtet, das den Menschen studiert, dann müßte ich doch sagen, diese Menschen sind wahnsinnig. Sieht man das alles von außen, neutral, dann muß man doch denken, die Menschen sind vollkommen verrückt, denn sie sind ja ganz unpraktisch, sie machen doch alles ganz dumm und ganz falsch, und sie machen es für sich unbequem, sie zerstören alles und ermorden einander ganz grundlos, ohne Ursache, ohne Motiv. Das ist doch ein Fehler in der Maschine, und dieser Fehler ist etwas Schreckliches.

Auf die Frage, woher er die Kraft nehme, seine Filme zu machen, sagte mir Bergman, das wisse er nicht. Die Kraft, aus der Kunst entsteht, sei das Heilige in uns Menschen. Er fügte hinzu: "Sie würden vielleicht 'Gott' dazu sagen." Ich habe ihm nicht widersprochen. Aber die Wahrheit ist, daß mir der Glaube an einen Gott, der das Schöne und Gute will, nie gelungen ist. Meine kindliche Phantasie malte ein anderes Bild. Ich sah einen verbitterten Greis auf dem Himmelsthron, der sich an dem, was er angerichtet hat, boshaft erfreut. Den Menschen mit der Fähigkeit, zu begreifen, daß alles, was geschieht, nur durch sein Gegenteil möglich wird, auszustatten, und ihm zugleich die moralische Pflicht zu verordnen, sich für das Gute, was immer das sei, in die Bresche zu werfen, war mir schon in zartestem Alter als Ausgeburt einer diabolischen Erfindungsgabe erschienen. Ein Teufel sitzt über den Wolken, dachte ich mir. Dann las ich Nietzsche, dann Heraklit, und da stand es ja schwarz auf weiß: Kein Frieden ohne Krieg, kein Hell ohne Dunkel, kein Wirtschaftswunder ohne den Holocaust. Jahre später fand ich bei Ernst Jünger den Satz: "Wir haben in einer harten Schule erkannt, daß das Leben ungerecht ist und ungerecht sein muß, wenn es sich erhalten will." Daneben wirkte Kants "ewiger Friede" wie die philosophische Grille eines kindischen Stubenhockers.

"Was du vernichten willst, das mußt du erst richtig aufblühen lassen", steht im Tao te king. Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang: Das habe ich mir als Gymnasiast über das Bett gehängt. Der Utopie vom "Reich der Freiheit", mit der Marx den biblischen Fluch der Fron im Schweiße des Angesichts außer Kraft setzen wollte, stellte sich in mir die simple Tatsache entgegen, daß der Freiheit, um sie überhaupt zu erkennen, die Knechtschaft vorausgehen muß. Der sogenannte freie Mensch sehnt sich, seinen Einfällen ausgeliefert, früher oder später nach Mauern, gegen die er ankämpfen kann. Der Arbeitslose wird depressiv. Der Urlauber rennt ins nächste Reisebüro, damit er nur ja nicht in die Lage kommt, denken zu müssen. Den Boom der Freizeitindustrie hat Marx nicht vorausgesehen. In seinem Paradies auf Erden fehlen die Animateure. Den Lockruf der Freiheit haben Beschäftigungsprogramme ersetzt.

Platon erblickte des Menschen schönste Aufgabe darin, ein Spielzeug der Götter zu sein. Nietzsche schrieb: "Hat Gott die Welt erschaffen, so schuf er den Menschen zum Affen Gottes, als fortwährenden Anlaß zur Erheiterung in seinen allzu langen Ewigkeiten." Wolfgang Koeppen, dessen dichterisches Verstummen so vielen ein Rätsel ist, hat in seinem Roman "Der Tod in Rom" das grausame Bild vom göttlichen Voyeur auf die Spitze getrieben. Er vergleicht den Menschen mit einem Esel: "Zum Glück hat man ihm Scheuklappen angelegt, damit er nicht merkt, daß es nie voran, sondern immer im Kreise geht, daß er keinen Wagen, sondern ein Karussell bewegt, und vielleicht sind wir eine Belustigung auf dem Festplatz der Götter." Ich habe mit Koeppen vor einigen Jahren ein Gespräch für die ZEIT geführt. Ich las ihm die Stelle vor. Er sagte: "Ich sehe darin ein gewisses Mitgefühl mit dem Esel." Ich fragte: "Nicht auch eine Anklage gegen die Götter, die sich an seinen Qualen erfreuen?" Er antwortete: "Nicht unbedingt. Ich sage nicht, Gott ist schuld. Die Frage, ob Gott recht tut, ist offen. Vielleicht kommt er gegen das Entsetzliche, das er geschaffen hat, nicht mehr an. Vielleicht ist er bestürzt über die eigene Schöpfung. Die Freude ist ihm vergangen. Aber das Karussell dreht sich weiter."

Ein Kind, das der Vorspiegelung vom alten gütigen Herrn mit Rauschebart, der einen Schutzengel schickt, wenn es nur brav seine Suppe löffelt, das düstere Hirngespinst eines schadenfrohen Sadisten im Himmel entgegensetzt, hat seine Unschuld verloren. Es ist mit dem Bazillus, der Denken heißt, infiziert, mit der Krankheit zum Tode. Es weiß, daß es sterblich ist. Es muß versuchen, sich vom Gedanken an den Tod abzulenken. Denn wenn man an den Tod denkt, ist alles lächerlich, sagt Thomas Bernhard. Mir ist die Ablenkung vom Todesgedanken, die ich für eine beneidenswerte Begabung halte, nie wirklich gelungen. Warum leben? Warum sich nicht umbringen? Das waren Fragen, die mich von klein auf beschäftigt haben. Meine Mutter, die ich damit gemartert habe, wußte darauf nur den Satz: "Man lebt, weil man geboren ist." Das mußte genügen. Ich lese eine Passage aus dem Interview mit ihr, das in der ZEIT erschien und später auch als Theaterstück aufgeführt wurde:

Welche Bedeutung hat Kunst für dich?
DIE MUTTER: Ich höre Musik. Ich lese Bücher. Dem Kafka habe ich zu verdanken, daß ich einem Hitler nicht hinterherrennen konnte, weil ich immer denke, du mußt dreimal nein sagen, wenn jemand von dir etwas will, dann überlegen, dann zustimmen vielleicht. Ich bin ein ständig zweifelnder Mensch. Ich bewundere Leute, die nie an sich zweifeln, sondern einfach nur leben und wie in Trance alles richtig machen.
Deine Bewunderung ist in Wahrheit Verachtung.
DIE MUTTER: Nein, ich glaube tatsächlich, es ist gescheiter, nicht nachzudenken. Wenn man nachdenkt, bekommt man nur Schwierigkeiten. Was soll ein Arbeiter in einer Chemiefabrik tun, wenn er dahinterkommt, daß die Fabrik schlechte Luft erzeugt und seine Kinder vergiftet? Er müßte dafür kämpfen, daß sie geschlossen wird. Dann hätte er keine Arbeit, und seine Kinder würden verhungern. Also denkt er lieber nicht nach. Wenn man alles zu Ende denkt, entsteht ein Chaos im Hirn.
Das heißt, die Blöden sind besser dran.
DIE MUTTER: Ja, das habe ich schon immer gesagt.
Eine deprimierende Einsicht.
DIE MUTTER: Warum deprimierend?
Weil es erniedrigend ist, über eine Fähigkeit zu verfügen, die man nicht anwenden darf.
DIE MUTTER: Erniedrigend im Vergleich zu wem? Ich kann mich nur niedrig fühlen, wenn etwas anderes höher ist. Höher als der Mensch ist nur Gott, und mit dem will ich mich nicht vergleichen.

Meine Mutter ist keine gläubige Frau. Sie hat ihren Glauben im Krieg verloren. Aber sie sagt, daß sie immer noch Angst hat vor jener "Gott" genannten Instanz, die alles hört und sieht und Strafen austeilt für dieses und jenes. Es hilft ihr nichts, daß sie ahnt, daß dieser "Gott" eine Erfindung der Menschen ist. "In der Gottesfurcht lauert wahnwitzig die launische Willkür, die weiß, daß sie selbst Gott hervorgebracht hat", schreibt Kierkegaard, und Dostojewskis Kirillow sagt, bevor er sich erschießt: "Der Mensch hat nie etwas anderes getan, als sich immer und immer wieder einen Gott zu erfinden, um eben leben zu können, um sich nicht zu töten. Daraus besteht die ganze Weltgeschichte bis auf den heutigen Tag."

Kann der Selbstmord vermieden werden durch Demut vor dem erfundenen Gott, einer Demut, wohlgemerkt, in die sich, wie Camus verlangt, keine Hoffnung auf eine im Jenseits waltende Gerechtigkeit schleicht? Ich fürchte, nein. Aber das ist auch nicht nötig. Der klar denkende Mensch, also jener, der das Denken bis an die Wahnsinnsgrenze riskiert, braucht weder Demut noch Hoffnung, weil er erkennt, daß, sich zu töten, mindestens genauso absurd ist, wie es zu lassen. Er lebt, weil er geboren ist. Der Schrei, der ihn von der Gedankenqualen erlöst, kann auch ein Lachen sein. "Die Verzweiflung ist am fürchterlichsten witzig", schrieb Novalis, dem die Frömmigkeit nicht den Blick verstellte. Unsere wirksamste Waffe im Überlebenskampf ist das Gelächter, auch unter Tränen. Mit keinem meiner Interviewpartner habe ich mehr gelacht als mit Thomas Bernhard, als er mir seine Selbstmordversuche erzählte. "Haben Sie schon einmal versucht, sich das Leben zu nehmen?" fragte ich ihn, während er gebackene Pilze mit Mayonnaise aß. Der folgende Dialog entstand:

BERNHARD: Als Kind wollte ich mich aufhängen, aber der Strick ist gerissen.
Wie alt waren Sie da?
BERNHARD: Da war ich sieben, acht Jahre alt. Und dann bin ich einmal mit dem Großvater spazierengegangen, wir wohnten damals in Traunstein, und hab' während des Gehens ununterbrochen Schlaftabletten geschluckt, und auf einmal ist mir übel geworden, hab' ich gesagt, ich muß heim, das war von der Stadt ungefähr dreißig Kilometer entfernt, und bin weggelaufen und tatsächlich heimgekommen, wie, weiß ich nicht mehr, und bin dann vier Tage im Bett gelegen, in einem fort speibend, weil mir nichts im Magen geblieben ist. Da muß ich so zehn Jahre alt g'wesen sein.
Und was war danach?
BERNHARD: Danach bin ich verflucht worden als exaltiertes Kind, das Theater machen will und Unglück über die Familie bringt.
Denken Sie noch immer daran, sich umzubringen?
BERNHARD: Der Gedanke ist immer da, aber ich hab' nicht die Absicht, jedenfalls jetzt nicht.
Warum nicht?
BERNHARD: Ich glaub', aus Neugier, reiner Neugier. Mich hält, glaub' ich, nur die Neugier am Leben.

Die Neugier, sagt Bernhard, nicht die Hoffnung. Das ist ein wichtiger Unterschied. Seit Ernst Blochs, wie man heute weiß, gescheitertem Versuch, die Hoffnung aus der Theologie in die Philosophie zu verfrachten, ist es Mode geworden, mit den Sinn stiftenden Begriffen unserer Existenz inflationär umzugehen. Hoffnung ist immer, das kann kein noch so versierter Rabulist wegdiskutieren, Hoffnung auf etwas Bestimmtes, so wie die Furcht im philosophischen Sprachgebrauch an etwas, das wir kennen oder uns zumindest vorstellen können, gebunden ist. Die Neugier ist ins Ungewisse gerichtet so wie die Angst, in der Kierkegaard die Möglichkeit der Freiheit erblickte. Wir ängstigen uns vor den in uns selbst liegenden Möglichkeiten, gegen die keine Vorsicht hilft, und sind zugleich neugierig auf sie. Die Neugier auf die Möglichkeiten des Menschlichen, die vom Schönsten zum Schrecklichsten reichen, wird durch keine Meinungen darüber, was sein darf und was nicht, eingeschränkt.

"Wenn der Glaube schwindet", schreibt Ernst Jünger in "An der Zeitmauer", das 1959 erschien, "bleibt etwas anderes zurück als das Nichts mit seinen Konsequenzen, die so oft geschildert worden sind. Es bleibt der Ort, den der Glaube eingenommen hat und auf dem er verwaltet worden ist. Es bleibt die Strandlinie und auf ihr der Untergang, doch neben ihr der unerschöpfliche Reichtum des Abgrunds." Die Neugier wagt auch den Blick in den Abgrund des eigenen Bösen, dessen Auswüchse wir, wenn überhaupt, nur, indem wir es zugeben, begrenzen können. Jeder, der heute sagt, er kenne sich gut genug, um zu wissen, daß er in Auschwitz den Müttern nicht die Kinder aus den Armen gerissen und an die Wand geschleudert und so vor den Augen der Mütter getötet hätte, ist mir verdächtig.

"La morale est la faiblesse de la cervelle", hat Rimbaud neunzehnjährig, bevor er der Kunst entsagte, gedichtet. Die Moral ist die Schwäche des Hirns. "Few men think, yet all will have opinions", schrieb der Philosoph Berkeley, der von Beruf Bischof war. Das öffentliche Verfechten von Meinungen, jene Haupterrungenschaft der Demokratie, hinter der sich die Illusion verbirgt, man könne durch Meinungsstreit den Mörder im Menschen zähmen, ist in unseren ach so aufgeklärten Zeiten zu einer der beliebtesten Ablenkungen vom Denken geworden. Wer heute nicht zu allem und jedem, von den gerade aktuellen Bekleidungsvorschriften Herrn Lagerfelds bis zur Frage, ob man Bosnien bombardieren soll, einen Standpunkt vertritt, mit dem ist nichts anzufangen. Wer keine Meinung hat, die sich je nach Lage der Dinge natürlich ändern darf (das feiert Herr Enzensberger, ein Meister im Vermarkten von Meinungen, dann als "Das Ende der Konsequenz"), dem wird das Wort entzogen. Das ist die Freiheit der Demokratie. Dazu ein letztes Zitat von Ernst Jünger, der den menschlichen, ich korrigiere: den männlichen Blutdurst für unüberwindlich hielt und dem man jetzt nur noch ankreiden kann, daß er die Frechheit hatte, recht zu behalten: "Die Welt ist von Vernünftigen erfüllt, die sich gegenseitig ihre Unvernunft vorwerfen. Die Dinge nehmen trotzdem ihren Gang, und zwar offensichtlich einen ganz anderen, als alle beabsichtigen. Wer ihn beobachtet, ist näher an den Quellen, als wenn er den Parteien zugehört."

Adams Erkenntnisdrang wurde mit der Vertreibung aus dem Garten Eden bestraft. Fortan war er verflucht, zu denken. Zur Betäubung gab der himmlische Vater ihm Arbeit und den Fortpflanzungstrieb. Doch schon sein Erstgeborener erfand eine noch wirkungsvollere Ablenkungsdroge, den Meuchelmord. Man kann Kains Verbrechen aber auch als Protest gegen die Erbsünde und als logische Folge der Tatsache sehen, daß wir, so lehrt es die Bibel, von Anfang an schuldig sind. Ich habe den schrecklichen Verdacht, wir tun das Böse, um diese Schuld, mit der wir geboren sind, einzulösen. Man will doch wissen, warum man sich schuldig fühlt. Ursache und Wirkung erscheinen vertauscht.

"Das einzige Mittel, dem Entsetzen zu entgehen, besteht darin, sich dem Entsetzen zu überlassen", schreibt Jean Genet, dessen Mitgefühl den Mördern gehörte. Aber ich spreche hier über Männergefühle, über Männerphantasien und Männergedanken. Männer haben die Heilige Schrift verfaßt. Männer errichten Kathedralen und Denksysteme. Männer türmen Leichen zu Bergen auf. Männer stopfen die Welt mit ihren Werken voll. "Der Mensch ist nichts. Das Werk ist alles", schrieb Flaubert an George Sand. "Die Frau hat das Hervorbringen von Werken viel weniger nötig", sagte mir Friedrich Dürrenmatt, den ich 1980 in seinem Haus in der Schweiz interviewte.

Er erklärte das so: "Die Frau ist viel mehr an den Leib gebunden, denn sie ist biologisch der Boden. Der Mann ist in gewissem Sinn überflüssig, eine ungeheure Verschleuderung der Natur. Das ist sein Manko, das er ausgleichen muß durch geistige Arbeit. Ich bin gerade dabei, darüber etwas zu schreiben. Zehn Minuten von hier gibt es eine der größten Samenbanken der Welt, die besitzt ungefähr fünfhundert Stiere, die kommen zu fünfzig Stück jeden Tag an eine Kette, werden an Gestelle, die sie für Kühe halten, herangeschoben und angezapft. Die merken gar nicht, daß das keine Kühe sind, sondern bloß Beutel, die 38 Grad Wärme, also die Temperatur einer Vagina, haben, da fahren sie einmal rein und wieder raus, das geht blitzschnell, und das ergibt eine Samenzahl von etwa 3,6 Milliarden. Zur künstlichen Befruchtung einer Kuh braucht man aber nur 2,7 Millionen, so daß mit der Flüssigkeit einer einzigen Ejakulation über tausend Kühe besamt werden können. Das wird in einem Laboratorium mikroskopisch sortiert, das machen Mädchen, schön geschminkt, die bringen das zu einer Maschine, wo es dann zu kleinen Stäbchen gepreßt wird. Diese Stäbchen kommen in ein Bad aus flüssigem Stickstoff und werden bei minus 145 Grad eingefroren. Da gibt es einen Katalog, in dem wird jeder Samenspender genau beschrieben. Nach acht Monaten wird so ein Stier abgeschlachtet, aber noch fünfzig Jahre nach seinem Tod werden mit seinem Samen Kühe befruchtet. Die Bauern brauchen sich heute gar keinen Stier mehr zu halten. Die männlichen Kälber kommen gleich in die Fleischverwertung."

Soweit Dürrenmett . Der Mann erschafft Kunst, um nicht dauernd daran denken zu müssen, daß er entbehrlich ist. Nun wissen Sie, warum ich die Einladung, diesen Vortrag zu halten, der ja auch so etwas wie ein kleines Werk geworden ist, obwohl ich seinen Inhalt damit ad absurdum führe, nicht abgelehnt habe. Ich danke Ihnen.

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*) "Gedankenvernichtung", Verlag Christian Brandstätter, Wien 1984
**) nachzulesen in: "...über die Fragen hinaus", dtv, 1998

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Vortrag, gehalten am 19. September 1995 im Grazer Rundfunkgebäude des ORF