Tonbandgespräche



Wenn Albert und Eva, die seit einem Jahr verheiratet waren, einander beim Essen in ihrer Wohnung gegenübersaßen, achteten sie darauf, keine Gesprächspause eintreten zu lassen, damit im eingeschalteten Kassettenrecorder das Band nicht umsonst lief. Kaute er, mußte sie reden. War sie mit der Nahrungsaufnahme beschäftigt, sprach er aus, was er sich in Gedanken zurechtgelegt hatte. Nach dem Essen unterzogen sie die Tonbandaufzeichnung einer genauen Prüfung, stellten fest, ob die Übergänge fließend, Wortwahl und Betonung dem Gesprächsinhalt angepaßt waren. Eines Abends fand Albert seine Stimme verändert.

"Ist dir nichts aufgefallen?"

"Doch", sagte Eva und drückte die Rücklauftaste. "An der Stelle, wo du das Sterben in einem Atomkrieg einem tödlichen Verkehrsunfall gleichsetzt, hast du mit vollem Mund gesprochen."

Sie stoppte das Band und spielte noch einmal die letzten Sätze ab.

"Da ist es, hörst du? War aber meine Schuld. Ich hätte noch einen Satz sprechen sollen, um dich hinunterschlucken zu lassen."

Albert widersprach nicht. Daß seine Stimme auf dem Band höher als sonst klang, konnte auch Einbildung sein oder eine technische Ursache haben.

"Ich gehe jetzt", sagte er, denn es war der Tag, an dem er sich mit Freunden regelmäßig zum Skat traf.

Die Gaststätte, in der sie zusammenkamen, lag nur wenige Straßen von der Wohnung entfernt, so daß er gewöhnlich zu Fuß ging. An diesem Abend machte er sogar einen kleinen Umweg durch eine Parkanlage, um frische Luft zu schöpfen. Im Schutz der Dunkelheit überkam ihn plötzlich die Lust, Grimassen zu schneiden. Seine Gesichtsmuskeln begannen zu zucken. Er rettete sich in den Lichtschein einer Laterne. Die Möglichkeit, von jemandem gesehen zu werden, half ihm, sich zu bezähmen.

Seine Freunde warteten schon. Als er die Wirtsstube betrat, raubte ihm das Gemisch übler Gerüche, das ihm entgegenschlug, beinahe den Atem. Jemand zog ihn am Ärmel.

"Was ist der Unterschied zwischen einer Jungfrau und einem Musikautomaten?"

Albert fühlte sein Mienenspiel der Kontrolle entgleiten.

"Es gibt keinen Unterschied", brüllte der Mann, sich auf die Schenkel klatschend. "In beide steckt man etwas hinein, damit ein Ton herauskommt."

Gelächter breitete sich aus in der Runde. Die Bedienung, schäumendes Bier unter den Brüsten, stieß einen Schrei aus. Einer der Männer hatte ihr unter den Rock gegriffen. Albert setzte sich. Er beherrschte das Ritual nicht mehr, lachte nicht, faßte das blasse Mädchen nicht an, das sich, die Krüge abstellend, über ihn beugte. Während des Kartenspiels hielt er die Augen gesenkt, traf seine Wahl zwischen Herz-Dame und Karo-Bube, Rose und Federbusch, entfloh in den Kastanienwald der Treff-Sieben. Als ihm sein Partner einen heimlichen Fußtritt versetzte, warf er sein Blatt auf den Tisch und gab sich geschlagen.

"Ich ertrage es nicht!" rief er aus, so laut, daß auch die Gäste an den anderen Tischen es hörten.

Die Gespräche verstummten, als wäre ein Schuß gefallen.

Zigarettenrauch bildete milchige Schleier unter den Deckenleuchten, Morgennebel über betauten Wiesen. Albert erhob sich, schritt zur Tür, schweres Gewand über den Boden schleifend. Draußen die Kühle der Nacht befreite ihn von der Angst, daß man ihm sein Geheimnis entreiße. Er war die Königin auf dem Schafott, trug das gekrönte Haupt stolz, bis es fiel.

Eva war über Proust eingeschlafen.

"Morgen", wehrte sie ab, "morgen erzählst du mir alles." Er knipste das Licht aus, legte sich neben sie, schlaflos, bis er in Träumen zu sich fand.

"Wenn sich alle Gewißheit in Zweifel verwandelt", begann er beim Frühstück, "kann eine zerquetschte Fliege auf Fensterglas, entschuldige, es fällt mir gerade so ein, dein letzter Halt sein. Den Wolken traust du nicht mehr. Die Farbe des Himmels erklärst du dir physikalisch."

"Ist das Band eingeschaltet?" fragte Eva dazwischen.

Albert drückte die Taste, wiederholte die Sätze, so gut er konnte.

"Fliege auf Fensterglas", korrigierte sie. "Du sagtest 'Fliege auf Fensterglas'. Die Verankerung im Realen, ein interessantes Thema. Du kennst meinen Standpunkt. Mir hat schon immer die Tasse genügt, aus der ich trinke, der silberne Löffel, der Brotkorb, die Zuckerdose. Nimmst du Milch oder Sahne?"

Albert spitzte die Lippen.

"Du stimmst mir nicht zu?"

"Doch, doch", sagte er, Butterflocken auf knisterndes Toastbrot streichend. "Den Formen geben wir Namen. Was wir benennen, kann uns nicht mehr erschrecken."

"Nein, bitte," rief Eva und setzte die Tasse ab, daß es klirrte. "Argumentiere nicht mit dem Unsagbaren!"

Mit energischem Druck schaltete sie das Gerät aus.

"Dann besser gleich schweigen."

Eine Schmeißfliege durchquerte das Zimmer, stieß gegen die Fensterscheibe. Flirrende Hitze, geschwängert mit dem Gezirp von Zikaden. Gespiegelte Bläue über gebleichter Landschaft. Salzgeschmack auf den Lippen. Albert drückte die Aufnahmetaste.

"Im Traum öffneten sich mir deine Hinterbacken, haarloses Rosa. Du lagst auf dem Bauch. Du wußtest nicht, daß ich hinter dir stand. Ich schlich mich hinaus, trat ein zweitesmal ein. Da lag an deiner Stelle ein Tierkadaver."

Eva ließ einen Löffel Joghurt im Mund verschwinden. Es gelang ihr, die linke Augenbraue auf eine Art zu heben, die ihrem Gesicht einen gelangweilten Ausdruck verlieh.

"Immer ist das Obszöne dein letzter Ausweg."

Sanft drückte die Zunge das Joghurt gegen den Gaumen. Albert sprang hoch, eilte mit kleinen Schritten auf die Toilette.

"Durchfall", erklärte er, als er zurückkam, an seinem linken Ohrläppchen ein Straßgehänge.

Das Glas, dachte Eva, das halbvolle Glas mit dem Orangensaft neben dem Joghurtbecher. Sie griff danach, tat einen Schluck. Das Band lief.

"Woran denkst du?"

"An nichts Besonderes."

Eine Locke war ihr ins Gesicht gefallen. Albert streckte den Arm aus, versuchte, sie wegzuwischen.

"Erinnerst du dich an dein Lächeln auf Kythnos, als ich dich so lange ansah, bis du meinem Blick nicht widerstehen konntest?"

Eva entfernte die Locke.

"Dein Glas war längst ausgetrunken. Trotzdem saugtest du weiter an deinem Strohhalm. Damals habe ich für einen Augenblick die Gedanken aus deinem Kopf vertrieben. Abends ließen wir uns dann fotografieren. Du mochtest das Bild nicht."

"Falsch", sagte sie. "Ich mochte nicht, was du darin zu sehen glaubtest."

"Du hast es zerrissen."

"Wieder falsch! Ich habe es weggeworfen. Du verfällst in den alten Fehler zu übertreiben. Du veränderst die Wirklichkeit um einer poetischen Wirkung willen."

Albert zog einen Lippenstift aus der Tasche des Morgenmantels, fuhr sich damit ungeschickt über die Lippen, preßte sie aufeinander. Eva, nach Worten suchend, stand auf, um den Tisch abzuräumen. Ihre Hand zitterte. Sie ließ eine Tasse fallen, in der noch etwas Kaffee war.

"Laß mich das machen!"

Mit einer Bewegung, die seinen ganzen Körper erfaßte, übernahm Albert die Hausfrauenrolle, lief aus dem Zimmer, um einen Putzlappen zu holen. Dabei hatte er das Gefühl, durch einen zu engen Rock, der seine Knie umschloß, behindert zu werden. An der Türschwelle stolperte er, verlor einen Pantoffel. Welch eine Entfernung mit einem Mal zwischen Wohnzimmer und Küche!

"Schmerzen, die niemand mir zufügt", sprach Eva halblaut auf das Tonband, "offene Wunden, Vergewaltigung, grundloses Verhängnis."

Von einer plötzlichen Schwäche befallen, stützte sie einen Arm auf den Tisch, faßte sich mit der freien Hand an die Schläfe. Was sie empfand, glich einem Absturz. Das Symptom war ihr vertraut. Wollte sie einen Kollaps vermeiden, mußte sie weitersprechen.

"Mein Mann", stammelte sie, "Adam, der erste Mensch, die Versuchung, die Schlange... "

Albert kam mit dem Lappen.

"Ist dir nicht gut?"

Um den Kopf hatte er ein kariertes Tuch gebunden. Staubflocken tanzten im Licht der einfallenden Sonnenstrahlen.

"Es ist Föhn. Das beste, du legst dich hin. Möchtest du eine Kopfschmerztablette ?"

Eva erkannte seine Stimme nicht mehr. Sie sah das Tuch, die geschminkten Lippen, das Ohrgehänge. Ihr Verstand hielt die Gedanken nicht fest, an die sie sich klammem wollte.

"Warum sagst du nichts?" fragte Albert.

Sie zeigte auf den Kassettenrecorder. Als er ihn ausschaltete, fiel sie in Ohnmacht, wobei sie mit dem Hinterkopf gegen die Wand schlug. Die Fleischfliege, die still an einer verborgenen Stelle gesessen hatte, begann ihren Flug von neuem, jagte, eine Gefangene, von einer Ecke zur anderen, in der Bewegung an ihr Geräusch gebunden. Albert, ihr mit den Augen folgend, wartete, bis sie, von der Aussicht auf Freiheit betrogen, zum Fenster flog, surrend über die Scheibe glitt, schließlich erlahmte. Sie zu töten, erforderte ein hohes Maß an Konzentration, vorsichtige Annäherung, überraschendes Zuschlagen mit gezügelter Kraft, damit das Glas nicht zu Bruch ging. Er benutzte den Lappen. Als ihm das Tier, von mehreren Schlägen betäubt, nicht mehr entkommen konnte, umwickelte er es mit einem Papiertaschentuch und zerdrückte es zwischen Daumen und Zeigefinger.

Evas Oberkörper, der etwas nach links geneigt an der Zimmerwand lehnte, rutschte hörbar zur Seite. Der Kopf hinterließ eine bogenförmige Blutspur. Entferntes Glockengeläute drängte sich in die Stille.

Wie die Zeit vergeht, dachte Albert und stopfte das Papiertaschentuch in den Joghurtbecher. Barfuß war er als Kind über die Stoppelfelder gelaufen. Oh verlorene Unschuld! Klatschmohn im Haar der schlafenden Mutter. Er bückte sich nach der Tasse, die nicht zerbrochen war, stellte sie auf das Tablett, dazu Teller, Gläser, die Kanne, die Zuckerdose. Beim Hinaustragen setzte sich eine Melodie in seinem Kopf fest. Er drehte sich langsam mit Walzerschritten, Eva, die Tänzerin. So war er ihr damals begegnet. Die Erinnerung an das erste Erröten, das sie herausgehoben hatte aus dem Gewoge der kreisenden Paare, überbrückte den Abstand der Jahre. Er brachte das Geschirr in die Küche. Nie mehr hatte sie seither das Kleid getragen.

Ob es noch paßte? Albert durchsuchte den Kleiderschrank. Den Morgenmantel hatte er ausgezogen. Das Spiegelbild seines Männerkörpers an der Innenseite der Schranktür, kopflos, da er es überragte, erschien ihm als etwas Fremdes. Er fand das Kleid, wunderte sich, daß es grün war. Vorsichtig zog er es über den Kopf. Das Oberteil spannte. Nähte drohten zu platzen. Den Reißverschluß an der Hüfte mußte er offen lassen. Eine Sicherheitsnadel, die aufgesprungen war, stach ihn in die Brust. Eva hatte sich geschämt mit dem tiefen Ausschnitt. Sie haßte es, wegen ihres Geschlechtes geliebt zu werden. Ob sie ihm auch gefallen würde, wenn sie flachbrüstig wäre, hatte sie ihn gefragt. Darauf hatte er nur gelacht und sie in die Arme genommen. Nähme ihn jemand so in die Arme, welch ein Gedanke! Von plötzlichem Widerwillen erfaßt, schloß er die Schranktür und trippelte auf Zehenspitzen, als trüge er Schuhe mit hohen Absätzen, ins Badezimmer. Die Bewegung, mit der er sich Parfum hinter die Ohren tupfte, vollendete den Akt der Verschmelzung.

Das Telefon klingelte. Er riß sich das Tuch vom Kopf. Im nächsten Augenblick fiel er in eine Erstarrung, die so lange anhielt, bis das Klingeln aufgehört hatte. Aus dem Wohnzimmer drang leises Wimmern, wurde verschluckt vom Signalgetön eines Rettungsautos. Verdunkelte Sonne, fliehende Wolkenschatten. Albert preßte die Faust an die Stelle der Brust, wo das Herz schlug. Aus der Bilderflut, die sein Gehirn überschwemmte, tauchte das Wort auf, mit dem er sich so oft an der Blumentapete seines Kinderzimmers getröstet hatte. C-h-a-o-s, buchstabierte er in Gedanken. Was hatte er damals, fünfjährig, darunter verstanden? Gefragt hatte er nicht, überhaupt nie Fragen gestellt, nur gelauscht, Begriffe gesammelt und zu sinnlosen Satzgebilden verknüpft, in deren Klang er sich wiegte.

Eva rief seinen Namen. Unwillkürlich blickte er sich nach einem Versteck um. Als er im Spiegel über dem Waschbecken sein Gesicht sah, wußte er, daß er sich, um seine Schuld nicht zu vergrößern, entscheiden mußte. Er rasierte sich, legte Make-up auf, schwärzte die Wimpern. Seine Physiognomie verschwand unter Puderschichten. Evas blonde Perücke ersetzte das Kopftuch. Da rief sie ihn wieder. Er betrat das Zimmer wie eine Bühne. Als er sich über sie beugte, öffnete sie die Augen.

"Ich weiß!" sagte er. "Du brauchst nicht zu sprechen. Ich werde für alles den richtigen Ausdruck finden."

Ihr Mund formte tonlos Vokale. Er strich ihr über das Haar, küßte die kalte Stirn. Mit dem Abdruck seiner Lippen wie mit einem Brandmal gezeichnet, sank sie zurück in die Bewußtlosigkeit. Das Kissen, das er ihr unter den Kopf schob, sog sich mit Blut voll.
Er sah auf die Uhr an der Wand, wartete, bis sie zwölf schlug. Ihm schien, als stünde die Zeit still. Unsichtbar rieselte Schnee von der Decke, verklärte die Unordnung der Gegenstände. Nur das Telefon blieb eine Bedrohung. Er holte ein Messer und durchschnitt das Kabel. Sein rechter Zeigefinger zog eine Spur durch die Staubschicht auf der Kommode.

"Nehmen Sie Platz", sagte er und setzte sich an den Tisch, wobei er den Stuhl etwas beiseite rückte, damit die damenhaft übereinandergeschlagenen Beine zur Geltung kamen.

"Sehe ich richtig, wenn ich in Ihrem Umherblicken ein Staunen entdecke?"

Seine Augen irrten wie blind durch das Zimmer.

"Nun erröten Sie auch noch. Meine Frage macht Sie verlegen. Sie fühlen sich überrumpelt. Sie würden gerade noch akzeptieren, daß ich Sie in so ungewöhnlichem Aufzug empfange. Aber die Tatsache, daß auf dem Boden eine offensichtlich leblose Person liegt, der ich, wie es scheint, nicht die geringste Beachtung schenke, kann Sie nicht unberührt lassen, selbst wenn Sie die Möglichkeit eines mehr oder weniger unkonventionellen Lebensstils in Betracht ziehen. Sie verlangen eine Erklärung."

An dieser Stelle erschien es ihm angebracht, seinem Gast etwas anzubieten.

"Kognak?"

Er hatte aber noch nicht entschieden, ob jener der Aufforderung, sich zu setzen, gefolgt war.

"Sie stehen!" rief er. "Sie bevorzugen die aufrechte Haltung."

Erst jetzt fiel ihm auf, daß es, um zu der einzigen freien Sitzgelegenheit zu gelangen, nötig war, über Evas Körper zu steigen.

"Verzeihen Sie meine Zerstreutheit!"

Er hob behutsam den Stuhl, auf dem sie gesessen hatte, stellte ihn an die Schmalseite des Tisches. Durch eine leichte Verschiebung des Kissens kam der Blutfleck zum Vorschein.

"So, nun lassen Sie Ihrer Wißbegier freien Lauf! Ich stehe zu Ihrer Verfügung."

Sein Blick war auf die Stuhllehne gerichtet.

"Sagen Sie nicht, Sie hätten sich in der Tür geirrt, nur um Ihrer Neugier, deren Konsequenzen Sie fürchten, nicht nachgeben zu müssen. Sie sind jung, so jung, so verführbar! Sprechen Sie aus, was Sie bedrückt. Verleugnen Sie nicht, was doch offen zutage liegt, hier das Tischtuch, die Marmeladeflecken, der Kassettenrecorder, dort die Frau mit den mondblassen Wangen, umflossen von Abendröte. Sie haben von Anfang an die Zusammenhänge erkannt."

Er machte eine Bewegung, die Widerspruch ausschloß.

"Ihre Ratlosigkeit ist ein Vorwand. Werfen Sie alle Diskretion über Bord. Seien Sie rücksichtslos! Reden Sie, oder Sie werden für immer zum Schweigen verurteilt sein. Fliege auf Fensterglas. Sterben in einem Atomkrieg. Eva! Mein Gott!"

Er ließ sich zu Boden gleiten und umklammerte schluchzend ein Stuhlbein.

"Gehen Sie, bitte, gehen Sie! Ich möchte allein sein."

In der Pose verharrend, bis er annehmen konnte, daß die Tür ins Schloß fiel, plante er schon die nächste Szene. Wie verwandelt erhob er sich, setzte sich wieder, legte die Füße auf den leeren Stuhl gegenüber, wobei er an besonders maskuline Polizeikommissare in amerikanischen Filmen dachte. Während er mit der einen Hand sein Glied unter dem hochgeschobenen Kleid befühlte, suchte er mit der anderen auf dem Tonbandgerät den Beginn jenes Gespräches mit Eva, in dem sich seine Stimme verändert hatte. Ohne hinzusehen, betätigte er die verschiedenen Tasten. Die akustische Wiedergabe des gemeinsamen Abendessens vom Vortag mit den das Gespräch begleitenden Essensgeräuschen, dem Ticken der Uhr, gedämpfter Radiomusik aus der Nachbarwohnung, erzeugte in ihm ein genaues Abbild des optischen Eindrucks, den er während der Aufzeichnung empfangen hatte. Er sah Eva, wie sie das Fleisch zerteilte, mit ihren schlanken Fingern Messer und Gabel führte, die kaum geöffneten Lippen über den Bissen stülpte, den sie ohne sichtbare Kaubewegung, so als zerschmelze er auf der Zunge, eine Weile im Mund behielt, bevor sie ihn unmerklich schluckte, weil die Reihe an ihr war, den Gesprächsfaden aufzunehmen.

Der gleichmäßige Tonfall, in dem sie sprach, verriet, daß sie an anderes als das, was sie redete, dachte. Albert versuchte, ihn nachzuahmen, indem er Satz für Satz auswendig lernte. Sobald er sich eine längere Passage eingeprägt hatte, löschte er sie auf dem Tonband und ersetzte sie durch die wörtliche Wiederholung. Aus dem Dialog wurde ein Selbstgespräch, was jedoch von einem uninformierten Zuhörer nicht bemerkt worden wäre, da sich Alberts zum Zeitpunkt der Aufnahme noch dunkle Stimme inzwischen vollständig verweiblicht hatte. Die Stelle, an der sie umschlug, war gekennzeichnet durch ein scheinbar grundloses Lachen, von dessen schriller Höhe sie nicht ganz zurückfand zu ihrem gewohnten Timbre. In der Ursache des Lachens mußte auch die Erklärung für die darauffolgenden Ereignisse liegen. Mit wachsender Erregung ließ es Albert mehrmals hintereinander ertönen, einem Musikanten vergleichbar, der auf seinem Instrument immer wieder ein bestimmtes Motiv spielt, um sich ein damit verbundenes Erlebnis ins Gedächtnis zu rufen. Plötzlich, als unter dem Druck der inneren Spannung sein Gehirn zu versagen drohte, erkannte er in der von ihm bis in die feinste Nuance kopierten Teilnahmslosigkeit, mit der Eva auf die Frage, ob sie sich vor dem Weltuntergang fürchte, geantwortet hatte, das auslösende Moment für seinen Heiterkeitsausbruch.

Erschöpft ließ er die Arme sinken. Sein Geschlechtsteil erschlaffte.

"Schlimmer als der quälendste Zweifel ist die Gewißheit", sagte er mit nun wieder tiefer Stimme.

Das Tonbandgespräch nahm er nur noch als ein Geräusch wahr, aus dem einzelne Worte zusammenhanglos in sein Bewußtsein drangen. Ein Traum, dachte er, eine Erledigung. Sein Blick fiel auf den Lappen, der auf dem Fensterbrett lag. Nicht einmal die Tötung der Fliege konnte man ihm zum Vorwurf machen. Er nahm die Perücke vom Kopf, vom Ohr das Gehänge. Indem er sein Denken mit dem, was er tat, in Übereinstimmung brachte, entging er der Gefahr, in eine Melancholie zu verfallen, die ihn am Verlassen der Wohnung gehindert hätte.

Von der Straße hörte er Bremsen quietschen. Glas splitterte. Es riß ihn vom Stuhl hoch. Wie eine sich häutende Raupe schlüpfte er aus dem Kleid, geschüttelt von Kälteschauern. Das Phänomen der als Folge der Hautmuskelkontraktion sich aufrichtenden Körperhärchen weckte in ihm die zum Handeln nötige Lebensfreude. Er ließ sich ein Bad ein. Während sich rauschend die Wanne füllte, manikürte er, um in Aktion zu bleiben, die Fingernägel. Dampfwolken hüllten ihn ein. Der Spiegel beschlug sich. Stück für Stück in die schäumende Lauge tauchend, genoß er die entkrampfende Wirkung des bis an die Schmerzgrenze erhitzten Wassers. Nach dem Bad packte er die besprochenen Tonbandkassetten in einen Koffer, dazu einige Bücher, ein Fotoalbum, wenige Kleidungsstücke. Er hatte schon lange vorgehabt zu verreisen. Vor der Ehe war er ein reiselustiger Mensch gewesen. In der Skatrunde hatte er, auch was sein Verhältnis zu Frauen betraf, als Abenteurer gegolten. Aber daran dachte er nicht. Es gab in der Vergangenheit keine Anknüpfungspunkte für seine Zukunft.

Er trat ins Treppenhaus, herbes Odeur verströmend. Anzug, Krawatte und ein hellgrauer Trenchcoat, den er über den Arm gelegt hatte, verliehen ihm das Aussehen eines leitenden Angestellten, der zu einer Dienstreise aufbricht. Als er in den Lift steigen wollte, verspürte er den unwiderstehlichen Drang, das Treppengeländer hinunterzurutschen. Eine Hauspartei, an der er vorüberglitt, vergaß vor Schreck, ihn zu grüßen. Er nahm sich zusammen. Wie ein Roboter einen Fuß vor den anderen setzend, ging er zur nächsten Telefonzelle und ließ sich ein Taxi kommen.

"Zum Flughafen", sagte er.

Der Taxifahrer fing sofort an zu sprechen. Er plädiere für die Wiedereinführung der Todesstrafe. Ein Mörder verdiene nichts anderes. Da kenne er kein Erbarmen. Kopf ab, das sei schon immer seine Meinung gewesen. Er habe einmal einen Fahrgast auf einem Phantombild wiedererkannt und sich als Zeuge gemeldet. Vor allem an die Augen habe er sich erinnert. Ein Triebtäter verrate sich durch die Augen. Er sah in den Rückspiegel.

"Halten Sie an!" befahl Albert.

Der Fahrer lenkte den Wagen zur Seitenplanke. Die Sonne stand tief, eine verglühende Scheibe. Heugeruch über gemähten Wiesen. Albert urinierte mit starkem Strahl. Er tat einen kräftigen Atemzug, bevor er sich wieder ins Auto setzte.

"Ich war Bettnässer, müssen Sie wissen. Noch als Gymnasiast konnte ich das Wasser nicht halten. Mitten im Unterricht stürzte ich unter dem Gelächter der Mitschüler auf die Toilette. Oft erreichte ich sie zu spät und schämte mich, mit durchnäßter Hose in die Klasse zurückzukehren. Doch es gab keinen Ort, mich zu verstecken."

"Ausland?" fragte der Taxifahrer.

"Frankfurt", erwiderte Albert.

Auf dem Armaturenbrett über dem Handschuhfach lag eine Tageszeitung. Er nahm sie und überflog rasch die Überschriften, so wie er es immer tat, wenn er nach Stoff für seine Gespräche mit Eva suchte.

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Erschienen in: André Müller, "Zweite Liebe", Bibliothek der Provinz, 1991