Besuch bei Thomas Bernhard 1971



Sein Hof ist, so sagen die Nachbarn, "oft verrammelt, obwohl er zuhaus' ist". Er hat kein Telefon, beantwortet kaum Briefe, läßt sich ungern fotografieren, spricht selten vor Menschen. Vor vier Jahren bekam er den Österreichischen Staatspreis für Literatur und ärgerte den anwesenden Unterrichtsminister durch Angriffe gegen die Heimat:

"Es ist nichts zu loben, nichts zu verdammen, nichts anzuklagen, aber es ist vieles lächerlich; es ist alles lächerlich, wenn man an den Tod denkt. Die Zeitalter sind schwachsinnig, das Dämonische in uns ein immerwährender vaterländischer Kerker, in dem die Elemente der Dummheit und der Rücksichtslosigkeit zur tagtäglichen Notdurft geworden sind. Der Staat ist ein Gebilde, das fortwährend zum Scheitern, das Volk ein solches, das ununterbrochen zur Infamie und zur Geistesschwäche verurteilt ist. Das Leben Hoffnungslosigkeit, an die sich die Philosophien anlehnen, in welcher alles letzten Endes verrückt werden muß. Wir sind Österreicher, wir sind apathisch; wir sind das Leben als das gemeine Desinteresse am Leben. Wir haben nichts zu berichten, als daß wir erbärmlich sind. Mittel zum Zweck des Niedergangs, Geschöpfe der Agonie, erklärt sich uns alles, verstehen wir nichts. Wir brauchen uns nicht zu schämen, aber wir sind auch nichts, und wir verdienen auch nichts als das Chaos."

1970 bekam er den Büchner-Preis.

In seiner Jugend lungenkrank, dem Tod selbst oft nahe, hat er in allem das immer wiederkehrende Thema: Tod, oder: das Leben als "Schule des Todes", oder: die Menschheit als "Sterbensgemeinschaft" .

Wo entsteht diese hoffnungsloseste deutschsprachige Gegenwartsliteratur? Wie lebt Bernhard? Ich hatte mir in den Kopf gesetzt, ihn kennenzulernen, möglichst in Ohlsdorf.

Erster Versuch: ein Brief, ziemlich förmlich, hochachtungsvoll. Keine Antwort. Von der Wiener "Gesellschaft für Literatur" erfahre ich: "Er war hier, er sagte, er wolle seine Tante besuchen." Die Tante*, zur Kur auf dem Semmering: "Er ist nicht mehr da, er sagt nie, wo er hinfährt." Verlag Suhrkamp: "Manchmal reagiert er nicht einmal auf unsere Briefe. Rufen Sie doch in Salzburg an." Wolfgang Schaffler, Residenz Verlag, Salzburg: "Ich würde ihn Ihnen auf den Schoß setzen, wenn ich ihn hätte, aber er rührt sich ja nicht." Gemeindeamt Ohlsdorf: "Wir haben ihn heute mit dem Auto vorbeifahren sehen." Nachbar: "Ich glaub' er ist da, aber er macht nicht auf."

In Wien gab mir der Dramatiker Peter Turrini den entscheidenden Tip: "Ruf doch die Agi an!" Agi ist Marie Agnes Baronin von Handel, verwitwete Teufl, Tochter eines k. u. k. Offiziers, Nachfahrin des Clemens Brentano. Sie lebt mit ihrer 84-jährigen Mutter auf Schloß Albmegg nahe Ohlsdorf. Bernhard besucht sie manchmal. Am Telefon sagt sie: "Gut, mach' ich. Aber Sie müssen gleich von Anfang an ,du' zu mir sagen. Sie sind mein Freund." Elias Canetti, den ich zu einem Interview in Wien traf, riet mir: "Sagen Sie ihm schöne Grüße von mir, das wird ihn zugänglicher machen."

Die Fahrt: ein milder, traumschöner Wintertag. Wo die Sonne hinscheint: Brauntöne, noch eine Spur grün. Wo Schatten ist: Rauhreif. Die Frauen, schwarz eingewickelt, bewegen sich langsam. Kinder spielen vor Hoftoren wie auf niederländischen Landschaftsgemälden. Männer auf Traktoren. Es ist sehr still, friedlich. Bernhards Krüppel-Welt kann das nicht sein, denke ich.

Mittendrin liegt Albmegg. Eine schmale Kastanienallee führt zum Tor. Ein kleiner Garten, ein runder Schloßturm, gotische Fensterbögen. Agi steht in der Einfahrt.

"Servus", sagt sie, "wie alt bist du?"

Ist so etwas möglich? Ich habe die Frau noch nie im Leben gesehen. Eine stämmige, breite Person, breite Schultern, breite Hüften, ein breites offenes Lachen.

"Fahren wir gleich zu ihm!"

Im Auto redet sie hauptsächlich von Turrini. Das sei ein so guter Mensch, ein Menschenfreund. Mit Bernhard könne sie wenig anfangen. "Der ist gegen das Leben." Da sei alles so negativ, so ohne Aussage, so deprimierend. Da spüre man immer die schwere Jugend. Er habe sehr früh die Eltern verloren und sei schon mit sechzehn auf sich allein angewiesen gewesen. Was man zunächst nicht vermute: Er sei geschäftstüchtig. Für das Stück "Der Ignorant und der Wahnsinnige" habe er eine ungeheure Summe verlangt.

"Liebschaften? Niemals. Der Hof ist sein Ein und Alles."

Wir kommen unangemeldet.

Agi: "Zuerst wird er wahrscheinlich nur blödeln. Er blödelt immer. Er tut so, als verletze ihn nichts, gehe ihn nichts etwas an. Aber in Wirklichkeit ist er sehr leicht verletzbar. "

Bernhards knallgelber VW sticht gleich ins Auge, ein Fremdkörper in dieser Umgebung. Das Gehöft, fast quadratisch, wie eine Festung, wirkt renoviert: sauber, beinahe steril. Der Kuhstall ist leer. Agi schlägt mit der Faust an die Tür. "Thomas!" schreit sie. Nichts rührt sich. "Thomas, so mach doch auf!" Endlich hört man Schritte schleifen. Sie: "Ich hab' wen dabei." Er: "Aber du weißt doch, ich will das nicht."

Durch einen dunklen, kargen Vorraum, vorbei an der sparsam möblierten Wohnstube, in der deplaziert ein Bügelbrett steht, gehen wir ins "Besucherzimmer". Drei harte, hohe Lehnsessel, ein Kamin ohne Feuer, an der Wand ein Bild, Holzspäne, ein paar Bücher. Es ist nicht geheizt. Rauchen verboten. Es dämmert. Bernhard läßt es finster.

Er sieht krank aus. Schütteres Haar. Schmale, mißtrauische Augen. Er beginnt gleich zu reden, macht sich über Agi lustig, redet in einem fort, verhöhnt sie, schüttet beißende Ironie über sie aus. Ein echtes Gespräch ist nicht möglich. Ein Blatt Papier, einen Bleistift hervorholen, mitschreiben: daran ist nicht zu denken.

Agi erwähnt ihre Söhne.

Bernhard: "Man müßte drastische Maßnahmen ergreifen, damit nicht so viele Kinder auf die Welt kommen. Da jammern alle, es gibt zu viele, und dann unterstützt man das noch. Zuerst kriegen die Leute Kinder, und dann reden sie immer davon, was ihnen die Kinder für Sorgen machen. Man müßte allen Leuten, die Kinder kriegen, die Ohren abschneiden."

Agi redet vom Klavierspielen.

Bernhard: "Mir wollte einmal wer ein Klavier schenken, auf dem schon Webern und Berg gespielt haben. Aber ich wollte es nicht. Ich habe einen Transporter hingeschickt, der aber so klein war, daß das Klavier auf keinen Fall reinpassen konnte. Das wußte ich. Ich hab' das sogar bezahlt und bin mitgefahren und hab' gesagt: ,Vielleicht geht es so oder quer oder schräg', obwohl ich wußte, daß es nicht geht. Dann haben die das Klavier halt behalten müssen."

Beim Reden wippt er ununterbrochen mit dem übers Knie geschlagenen Bein, so daß alle paar Minuten der Pantoffel vom Fuß fällt.

Schließlich bietet er Schnaps an, dreht das Licht auf, wird etwas sanfter. Ich lasse ihn von Canetti grüßen. Bernhard: "Was hat er Ihnen erzählt?" "Hauptsächlich vom Tod, den er nicht akzeptiert, den unfreiwilligen Tod." Bernhard: "Der Tod ist doch das Beste, was es gibt."

Wir fahren in ein Gasthaus nach Laakirchen. Bernhard, mit grünem Hut und Lederkniehose, sieht aus wie ein Bauer. Wie er so dasitzt, die Ellbogen aufgestützt, über dem Krenfleisch, könnte man meinen, er sei ein Teil dieser Dorf-Idylle.

"Hier bin ich gern", sagt er. "Weil ich selbst aufgestachelt und zerrissen genug bin, umgebe ich mich mit Leuten, die auf mich eine beruhigende Wirkung haben. Deshalb will ich auch keine Fragen. In Wirklichkeit ist ja alles noch viel furchtbarer als in meinen Büchern. Aber würde ich so leben wie in den Büchern, würde ich wahnsinnig werden. Diese Leute hier machen mich ruhiger. Zu denen bin ich ja gar nicht scheu. Wenn im Ort jemand stirbt, gehe ich auf's Begräbnis wie alle. Was da in mir vorgeht, geht niemand was an. Ich sehe die Dinge, wie ich sie sehe. Ein anderer sieht sie anders. Soll jeder machen, was er will."

Warum schreiben Sie?

"Ich schreibe, wie wer anderer raucht. Was damit passiert, interessiert mich nicht. Ruhm irritiert mich."

Warum veröffentlichen Sie Ihre Geschichten?

"Wenn man das dann gedruckt sieht, als Buch, mit einem Deckel, schön gebunden, das gefällt mir. Aber eigentlich ist es dann schon vorbei. Von mir aus müßte von jedem Buch nur ein einziges Exemplar gedruckt werden: für mich."

Jens Tismar in einem Aufsatz über "Bernhards Erzählfiguren ":

"Der alles gleichmachende, rigorose Bannfluch über die Zustände dieser Welt entwertet die Substanz seiner (Bernhards) Kritik. Zum anderen scheint mir jene Attitüde des narzißtischen, qualitätsbewußten Nörglers den empfindsamen Ästheten eine Solidarität anzubieten, den Lesern also, die ihre gesellschaftliche Isolation derart verinnerlicht haben, daß sie daraus einen Genuß ziehen. Insofern kann man Bernhards Prosa für gefährlich halten. Der unterschwellige Irrationalismus dieser Prosa trifft mit einem sozialen Desinteresse mancher Leser zusammen."

Bernhard: "Ich bin gar nicht asozial. Ich gebe meinem Friseur das meiste Trinkgeld. Die Arbeiter sind heute die Ausbeuter. Alles, was da geschrieben wird, ist Unsinn. Aber mir ist das egal, sollen sie schreiben. Mich interessiert nur mein Körper und mein Kopf und sonst gar nichts. Alles andere kommt sowieso von selber auf einen zu."

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*) Hedwig Stavianicek (1894-1984), Bernhards wichtigste Freundin, die er nur „Tante“ nannte, mit ihm nicht verwandt.

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Erschienen am 28. Dezember 1971 in der Münchner „Abendzeitung“