Interview mit der Schauspielerin Sunnyi Melles 1987

(anläßlich der Premiere von Goethes „Faust“ in der Inszenierung von Dieter Dorn)



Sie spielen in Dieter Dorns "Faust" an den Münchner Kammerspielen das Gretchen. Die Kritik hat die Inszenierung fast einhellig verrissen, aber Ihre Leistung hervorgehoben. Ist Ihnen das angenehm?

SUNNYI MELLES: Es freut einen natürlich, wenn man aufgebaut wird. Was mich stört, ist, daß es so aussieht, als hätte ich mich emanzipiert gegenüber dem Dieter*. Es stimmt nicht, wenn man sagt, Herr Dorn hätte ein bestimmtes Konzept gehabt, und ich wäre dagegen gelaufen.

Welche Vorstellung hatten Sie von der Rolle, bevor Sie zu proben begannen?

MELLES: Gar keine. Das ist mit dem Regisseur gemeinsam entstanden.

Kannten Sie das Stück nicht?

MELLES: Doch, in der Schule wurde es durchgenommen. Aber ich habe nicht aufgepaßt. Vielleicht ist mir, um Gretchen zu verstehen, entgegengekommen, daß ich ein religiöser Mensch bin. Ich wurde katholisch erzogen. Meine Erinnerung an Kirche, Kommunion, weiße Kleidchen und Glocken ist noch sehr stark. Ich habe auch gern gebeichtet und lange an das Christkind geglaubt, und ich glaube noch heute an Wunder.

Beten Sie vor dem Auftritt?

MELLES: Ich mache das Kreuzzeichen, auch vor dem Essen und Schlafengehen. Vielleicht ist es nur ein Ritual, so wie jemand immer die gleiche Musik hört. Hauptsache, man glaubt dran. Während der Proben zu "Faust" habe ich mir den Film "Geschichte einer Nonne" von Fred Zinnemann angesehen, um mich einzustimmen. Es geht einem doch viel verloren, wenn man erwachsen wird. Ich habe als Kind in den Märchen gelebt, die man mir vorlas. Ich kann mich erinnern, daß ich morgens nicht aufstehen konnte, weil ich dachte, unter dem Bett sei eine Spinne. Solche Ängste hat man, wenn man älter wird, nicht mehr.

Ist das bedauerlich?

MELLES: Eigentlich schon, denn die Ängste, die man als Erwachsener hat, sind viel schlimmer, Angst vor Krieg zum Beispiel. Ich frage mich oft, wieso Kriege entstehen. Ich begreife es nicht. Frauen machen ja keinen Krieg. So wie ein Mann keine Kinder bekommen kann, so könnte ich keine Kriege führen. Frauen bauen auf, was die Männer zerstören. Der Mann wird verabschiedet mit Winken und Fähnchen. Dann kommt das Warten. Als Frau wartet man immer.

Macht Sie das wütend?

MELLES: Nein, ich stelle es fest. Ändern kann ich es nicht. Dazu müßte ich in die Politik gehen. Ich kann nur versuchen, die Leute nachdenklich zu machen.

Wodurch?

MELLES: Indem ich zum Beispiel die Cressida spiele. Shakespeare hat schon begriffen, wie sinnlos Krieg ist. Er zeigt die Männer als Häuptlinge, die im Sandkasten spielen. Da geht es um Ehre und Muskeln und Geilheit. Sogar die Liebe ist Krieg. Nachdem Troilus Cressida defloriert hat, braucht er sie nicht mehr. Er hat sie erobert, nun läßt er sie zu den Griechen gehen.

Haben Sie sich die Rolle gewünscht?

MELLES: Ich habe mir noch nie eine Rolle gewünscht. Ich hatte das Glück, Sie zu bekommen.

Bernhard Minetti beklagt in seinen "Erinnerungen" die Machtlosigkeit der Schauspieler, die, obwohl sie am Theater das Wichtigste seien, kaum Einfluß hätten.

MELLES: Das habe ich nie so empfunden, so wie ich mich auch noch nie von einem Regisseur vergewaltigt fühlte.

Haben Sie gelesen, was Gisela Stein** darüber gesagt hat?

MELLES: Ich bin nicht Gisela Stein.

Sie sagt, Schauspieler ließen sich kritiklos benützen, das Klima in den Theatern sei von Neurosen, Alkoholismus und Hysterie bestimmt.

MELLES: Darüber müßten Sie sich mit Frau Stein unterhalten. Ich sehe das nicht so, vielleicht weil ich das Glück hatte, mich entfalten zu können wie eine Pflanze, die gut gegossen wird. Natürlich gibt es Konflikte. Aber die werden ausgetragen. Als ich vor sechs Jahren die Lucile in "Dantons Tod" spielen sollte, sagte Dorn, mit mir zu arbeiten, wäre unmöglich, mich müsse man dauernd bremsen. Ich bin vielleicht eigensinnig, weil ich zu idealistisch bin. Meine Art von Besessenheit ist die absolute Unterwerfung unter die Rolle. Ich mache diesen Beruf nicht, damit ich als Person im Mittelpunkt stehe, sonst würde ich auf der Bühne mein Leben erzählen. Das wäre langweilig. Ich versuche, so nah wie möglich an die Figur, die ich spiele, heranzukommen.

Brecht verlangte das Gegenteil, nämlich Distanz zum Dargestellten.

MELLES: Ich habe mit Brecht nicht gesprochen. Ich weiß nur, daß Frau Giehse***, die ihn persönlich kannte, immer so war wie sie spielte. Ich meine, ich kann mir doch keine Regeln machen. Ich gebe die ganze Kraft. Ich muß mich öffnen. Dafür bezahlen die Leute. Wehe, wenn sie am Schluß der Vorstellung sagen, ich hätte bloß etwas vorgeführt.

Schämen Sie sich auf der Bühne?

MELLES: Scham ist immer da.

Weil Sie zu viel von sich zeigen?

MELLES: Kann sein. Aber ich zeige es ja hinter der Maske. Ich habe nicht alles erlebt, was ich spiele, zum Glück, denn ich bin doch zum Schluß meistens tot in den Stücken. Ich spiele das jungfräuliche Gretchen, aber ich bin keine Jungfrau. Ich sage, meine Mutter hab ich umgebracht, mein Kind hab ich ertränkt, aber meine Mutter lebt, und Kind habe ich keines****. Eine gewisse Schizophrenie ist immer dabei. Man denkt so vieles, wenn man den Text spricht. Ich denke an meine Mutter, zugleich höre ich die Uhr eines Zuschauers ticken, ein anderer hustet, irgendwo sehe ich, wie ein Glas reflektiert, gleichzeitig antworte ich Helmut Griem, der den Faust spielt. Wenn ich sage, Heinrich, mir graut's vor dir, denke ich immer an unseren Inspizienten, der auch Heinrich heißt. Es ist Wahnsinn.

Können Sie sich erklären, weshalb es ein so verbreiteter Wunsch ist, Schauspieler zu werden?

MELLES: Nein, ich weiß nicht einmal, warum ich selbst es geworden bin.

Hatten Sie Vorbilder?

MELLES: Weiß Gott, die hatte ich! Ich habe mir als Mädchen immer "Bravo" gekauft. Da gab es in jedem Heft einen Ausschnitt von Lex Barker als Old Shatterhand, und wenn man das dann zusammen hatte, ich glaube, es dauerte ein ganzes Jahr, konnte man sich den in Lebensgröße über dem Bett aufhängen. Das habe ich getan. Ich habe mir auch so eine Jacke gekauft, wie er sie trug, bin damit im Mondschein geritten und habe gedacht, jetzt bin ich Lex Barker. Ein anderes Vorbild war Karl Malden. Als ich vor kurzem in Hollywood mit ihm sprechen konnte, ist für mich eine Welt in Erfüllung gegangen. Ich dachte, mein Gott, ich spreche mit diesem Mann, als wäre ich wieder das zwölfjährige Mädchen.

Gab es auch Frauen, für die Sie schwärmten?

MELLES: Ja, Ingrid Bergman. Ich habe alle Filme mit ihr gesehen, aber nicht, weil ich mir wünschte, Filmstar zu werden. Ich hatte einfach Lust, sie zu bewundern. Daß ich Schauspielerin wurde, hängt wahrscheinlich damit zusammen, daß meine Mutter***** diesen Beruf hat. Ich kenne den Geruch der Garderobe von Kind auf. Nach der Schule bin ich immer gleich ins Theater gegangen. Essen gab es nicht. Ich habe mir ein Brot gemacht, das genügte. Andere Kinder wurden von ihren Eltern bekocht. Mir war es wichtiger, meine Eltern bei der Arbeit zu sehen. Wenn meine Mutter nachts um zehn von der Vorstellung kam, hat sie mich aufgeweckt, und wir haben geredet. Manchmal kam sie heulend nach Hause, weil sie Streit im Theater hatte. Sie hat vor mir nichts verheimlicht. Das ist mein Reichtum.

Ihr Vater****** ist Dirigent. In einem früheren Interview sagten Sie, ein guter Dirigent, aber ein schlechter Vater.

MELLES: Das habe ich nicht gesagt, das wurde falsch wiedergegeben.

Er hat, kaum waren Sie auf der Welt, die Familie verlassen.

MELLES: Er hat sich scheiden lassen, ja, aber er war für mich trotzdem da, auf andere Art. Er ist mit mir nicht in den zoologischen Garten gegangen. Er sagte, hör zu, wie ich Beethoven dirigiere. Als Kind nannte ich ihn Pinguin, weil er im Frack so aussah. Ich werde nie vergessen, wie er nach seinen Auftritten schwitzte. Ich habe seine Anstrengung gesehen. Das ist eine gute Erziehung. Vielleicht habe ich mich manchmal gewundert, wenn ich bei Klassentreffen Vater und Mutter der anderen Kinder zusammen sah. Vielleicht habe ich sogar darunter gelitten. Heute denke ich, es war besser so, als in einer Familie zu leben, wo die Eltern zwar da sind, aber andauernd streiten.

Wollen Sie Kinder haben?

MELLES: Ja, unbedingt. Vom Tag der Zeugung an werde ich nicht mehr Theater spielen.

Wenn Sie es merken.

MELLES: Oh, ich merke das. Ich genieße das. Zeugen finde ich wunderbar. In meinem Beruf macht es nicht so viel aus, eine Zeit auszusetzen. Wenn ich zehn Jahre nicht spiele, versäume ich zwar bestimmte Rollen, für die ich dann zu alt oder zu häßlich bin, aber ich könnte mich später auf diese Rollen auch nicht berufen. Man ist als Schauspielerin immer nur so gut, wie man im Moment ist.

Laurence Olivier schreibt in seinen Memoiren, die Intensität auf der Bühne habe ihn im Bett mit Vivien Leigh, seiner Frau, impotent gemacht.

MELLES: Ich kann Sexualität und Kunst sehr gut verbinden, und ich will auf keines von beidem verzichten. Ich kann doch nicht ins Kloster gehen, um Theater zu spielen. Die Einschränkungen, die es gibt, sind schon schlimm genug. Man ist vertraglich verpflichtet, Risiken auszuschalten. Ich bin für mein Leben gern Ski gefahren. Jetzt fahre ich nicht mehr. Ich bin ohne Sattel geritten. Ich reite nicht mehr, obwohl man Unfälle weder im Leben noch auf der Bühne vermeiden kann. Sehen Sie die Narbe über meinem linken Auge? Ich habe als Gretchen auf einer Probe zu stark gebetet. Als ich aufstehen wollte, bin ich zwischen die Särge gefallen und mit der Stirn gegen die Sargkante geflogen. Wir spielten in einer Beleuchtung, die die Rottöne wegnahm. Als ich mir an den Kopf griff, war meine Hand voll schwarzem Blut. Man mußte mich in Kostüm und Perücke mit Blaulicht ins Krankenhaus fahren. Außerdem habe ich von einem früheren Sturz ein Loch im Knie.

Haben diese Mißgeschicke nicht auch damit zu tun, daß Sie sich so besinnungslos in die Rollen werfen?

MELLES: Ach, hören Sie auf! Frau Froboess******* ist auch schon in einen Nagel getreten.

Sie sind seit Ihrem Debüt festes Ensemblemitglied der Münchner Kammerspiele. Reizt es Sie nicht, auch an anderen Theatern zu spielen?

MELLES: Ich habe am Wiener Burgtheater die Desdemona in "Othello" gespielt. Aber mir ist München am liebsten. Ich liebe Dorn. Ich habe ein starkes Bedürfnis nach Harmonie. Meine Großmutter ist Finnin. Meine Eltern sind Ungarn. Ich bin geboren in Luxemburg, aufgewachsen in Basel. Ich fühle mich zu keinem bestimmten Land gehörig. Mein Zuhause ist das Ensemble. 

Mittlerweile haben Sie es auch zu einigem Filmruhm gebracht, wurden als deutsche Meryl Streep und neue Marilyn Monroe gefeiert.

MELLES: Ich mag keine Vergleiche.

In dem Film "38", der für den Oscar nominiert war, spielten Sie eine junge Frau im faschistischen Österreich, die verdrängt, was um sie herum vorgeht.

MELLES: Das war schwer, denn ich habe im Dritten Reich nicht gelebt. Aber ich glaube, Verdrängung gibt es auch heute.

Wie beurteilen Sie das Verhalten von Schauspielern, die sich dem Regime nicht entzogen haben?

MELLES: Das kann ich nicht beurteilen. Ich war nicht dabei.

Aber Sie können doch eine Meinung haben.

MELLES: Ich kann nur sagen, ich hoffe, daß sich das, was damals geschah, nicht wiederholt. Erklären kann ich es nicht. In "Dantons Tod" sagt Büchner, es gibt etwas, das in uns lügt, hurt, stiehlt und mordet. Ich muß das darstellen können, aber ich kann nicht analytisch darüber reden. Weil ich darüber nicht reden kann, bin ich Schauspielerin. Humphrey Bogart sagte zu Ingrid Bergman, als sie in "Casablanca" zusammen spielten: Wenn du nicht weinen kannst, nimm eine Zwiebel! Ich kann auf der Bühne keine Zwiebel benutzen. Ich darf auch nicht Knoblauch essen. Das tue ich meinem Partner nicht an. Ich weine, indem ich an etwas Trauriges denke.

Zum Beispiel?

MELLES: Ich hatte fünfzehn Jahre lang einen Hund. Als der starb, mußte ich heulen. An so etwas Banales denke ich dann. Wichtig ist nur, daß mir das Publikum glaubt. Es muß mir glauben, daß ich in Faust verliebt bin. Aber ich muß Herrn Griem nicht lieben. Ich habe mich noch nie in einen Partner verleibt. Es ist komisch, aber ich sehe, wenn ich an den Faust denke, immer den alten Mann in "Der alte Mann und das Meer" von Hemingway vor mir. Ich sehe, wie sich Spencer Tracy, der im Film den Mann spielte, in seinem Bötchen mit dem Fisch unterhält, den er besiegen will. Zuletzt bringt er nur das Skelett an Land.

Haben Sie Mitleid mit ihm?

MELLES:  Es zerreißt mir das Herz. Ich sehe Spencer Tracy als Faust. Ich stelle mir vor, wie er in seiner Studierstube steht und sich fragt, was er denn eigentlich vom Leben gehabt hat. Goethe hat das so toll beschrieben. Das Stück weckt in mir so starke Gefühle. Mit Worten ist das nicht auszudrücken. Als Schauspieler hat man die Sprache. Aber kann man durch Sprache Gefühl ausdrücken? Wenn ich als Gretchen sage, es wird mir so, ich weiß nicht wie, mir läuft ein Schauer übern ganzen Leib, denke ich oft, mein Gott, warum muß ich denn das jetzt sagen? Es wäre doch schöner, es nur zu zeigen. Indem ich es sage, zerstöre ich es. Manchmal bin ich glücklich, wenn ich auf der Bühne nicht sprechen muß.

Würden Sie lieber singen?

MELLES: Oh, darüber könnten wir lange reden! Ein Lied drückt so viel aus, Glück, Sehnsucht, Verzweiflung. Haben Sie Stevie Wonder in der Münchner Olympiahalle gesehen? Ich bin die ganze Zeit dagesessen und habe gedacht, wie schön, der will nichts erklären, der schreibt mir nicht vor, was ich fühlen soll, trotzdem fühle ich. Wunderbar! Oder Verdi! In der Oper ist so vieles erlaubt. Die Handlung bleibt stehen, der Tenor singt eine Arie. Othello singt, obwohl er schon tot ist. Diese Vollendung werde ich nie erreichen.

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*) Dieter Dorn, 1983 bis 2001 Intendant der Münchner Kammerspiele, danach des Bayerischen Staatsschauspiels

**) Gisela Stein, (geb. 1935), Ensemblemitglied der Münchner Kammerspiele

***) Therese Giehse (1998 - 1975)

****) Sunnyi Melles, seit 1993 durch ihre Ehe mit Peter zu Sayn-Wittgenstein-Sayn Prinzessin, ist heute Mutter eines Sohnes (Constantin Victor Prinz zu Sayn-Wittgenstein-Sayn, geb. 1994) und einer Tochter (Leonille Elisabeth Judith Maria Anna Prinzessin zu Sayn-Wittgenstein-Sayn, geb. 1996)

*****) Judith Rohonczy Melles (geb. 1929), ungarische Schauspielerin

******) Carl Melles (1926 - 2004), ungarischer Dirigent, emigrierte nach Österreich

*******) Cornelia, früher Conny Froboess, Schlagersängerin und seit 1972 Theaterschauspielerin, zunächst an den Münchner Kammerspiele, seit 2001 am Bayerischen Staatsschauspiel

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Erschienen am  16. Oktober 1987 unter der Überschrift „Es zerreißt mir das Herz“ in der ZEIT