Simering V



Christine war zielstrebig auf den Informationsschalter, an dem man Auskunft über freie Hotelzimmer bekam, zugegangen. Berger sah sie nicht mehr. Er überlegte, ob er, den Koffer zurücklassend, wieder einsteigen sollte. Im Zug hätte er sich von seiner Schwäche erholen und ohne Aufsehen Schuhe und Socken ausziehen können. Doch erstens fühlte er sich nicht kräftig genug, die Stufen zur Wagentür hochzusteigen, zweitens verlangte es ihn nicht danach, barfuß zu sitzen, sondern barfuß zu gehen. Die Reisenden wurden gebeten, rasch zuzusteigen. Im Innern versuchten sie, sich hinter den nicht zu öffnenden Fenstern den Zurückbleibenden, die sie zum Bahnhof begleitet hatten, durch Gesten und Zeichen, etwa, indem sie mit den Fingern Buchstaben formten oder etwas, das unsichtbar blieb, auf die Scheibe schrieben, verständlich zu machen. Die Zugtüren schlossen sich.

Als sich der Zug in Bewegung setzte, erreichten die Bemühungen, einander noch etwas mitzuteilen, den Höhepunkt. Letzte Informationen wurden ausgetauscht, Kußhände zugeworfen. Gefühle, für die man bis zu diesem Augenblick der unabwendbaren Trennung keinen Ausdruck gefunden hatte, brachen hervor. Berger fühlte nur Einsamkeit. Winkende Menschen liefen an ihm vorbei. Eine alte Frau neben ihm putzte sich geräuschvoll die Nase. Er ließ den Blick über die Köpfe schweifen. Nach Christine zu suchen, erschien ihm aussichtslos. Wußte sie überhaupt, daß er ausgestiegen war? Sie hat sich nicht umgedreht, dachte er. Sie hat es nicht für möglich gehalten, daß ich mir die Freiheit nehme, die Fahrt ohne sie fortzusetzen. Sie hat sich in mir nicht getäuscht.

"Ich bin dein Gefangener", sagte er, als sie plötzlich, wie aus dem Nichts, vor ihm stand.

Sie umschlang seinen Hals und küßte ihn auf den Mund. Da er seine Schwäche noch nicht überwunden, außerdem mit einer solchen Reaktion nicht gerechnet hatte, geriet er ins Wanken und stürzte fast.

"Ich habe für uns ein tolles Zimmer gefunden", sagte sie, "direkt am Fluß, mit Blick auf den Dom. Es ist nicht billig. Aber das leisten wir uns. Wir haben ja Geld. Freust du dich?"

Sie wischte ihm die Lippenstiftspuren, die ihr Kuß hinterlassen hatte, vom Mund. Sie benutzte dazu sein Taschentuch. Er erkannte es, aber er wollte nicht fragen, woher sie es hatte. Er schämte sich seiner Vergeßlichkeit. Als sie den Koffer nahm und sich, offenbar überzeugt, er würde ihr folgen, in Richtung Ausgang entfernte, bemerkte er, daß ihn die alte Frau wie jemanden, den man von irgendwo kennt, beobachtete. Aus Höflichkeit nickte er. Sie kam etwas näher. Nachdem sie sich vergewissert hatte, daß niemand lauschte, sagte sie:

"Worauf warten Sie noch? So gehen Sie doch! Sie werden geliebt."

Er gehorchte, als hätte er einen Befehl erhalten. Christine war schon in die Unterführung hinabgestiegen, durch die man in die Halle gelangte. Er lief ihr nach. Als er sie vor sich sah, hörte er auf zu laufen und ging in einigem Abstand, gerade so, daß er sie nicht aus den Augen verlor, hinter ihr her. Erst vor dem Taxistand auf dem Bahnhofsplatz wandte sie sich nach ihm um. Wie erstarrt blieb er stehen. Sie bedeutete ihm mit einer Handbewegung, in der ihr Unmut zum Ausdruck kam, daß er kommen solle. Durch den Entschluß, ihr den Mord zu gestehen, befreite er sich aus der Erstarrung. Im Taxi gab sie ihm seinen Ausweis, die Schlüssel, das Taschentuch und einen Schein des gestohlenen Geldes.

"Den Rest behalte ich", sagte sie. "Aber mein Gefangener bist du nicht. Ich finde, du übertreibst manchmal."

Er legte die Gegenstände auf seinen Schoß. Als das Taxi vor einer Kreuzung hielt, glaubte er, sie seien angekommen, und versuchte, die Tür zu öffnen.

"Bist du lebensmüde?" fragte Christine.

"Ich habe einen Menschen getötet", sagte er. "Ich habe hier vor zwei Tagen die Verlobte meines Cousins, der mich für ihren Bruder hielt, in einem Waldstück am Stadtrand, in das sie mich gegen meinen Willen gefahren hatte, erwürgt."

Er hob wie zum Beweis beide Hände.

Im Rückspiegel sah er die Augen des Fahrers. Ihre Blicke trafen sich kurz. Christine griff nach den Händen und zog sie zu sich herüber. Ihr Gesicht zeigte keine Reaktion auf das Geständnis. Berger überlegte, ob er es wiederholen sollte. Vielleicht hatte er zu leise gesprochen. Vielleicht hatte das Brummen des Motors ihn übertönt. Vielleicht hatte er die Sätze nur in Gedanken gesagt, so wie man eine wichtige Mitteilung, um keinen Fehler zu machen, zuerst im Geist formuliert. Sie fuhren am Schloß Mirabell vorbei. Als er zur Wiederholung des Geständnisses ansetzen wollte, merkte er, daß er den Wortlaut vergessen hatte. Daß Christine den Kopf an seine Schulter lehnte, ließ ihn einen Moment lang glauben, ein anderer habe den Mord begangen.

"Ich bin ein schlechter Zeuge für meine Taten", sagte er und lachte so, wie er in der Schule, wenn Witze erzählt wurden, mitgelacht hatte, damit niemand merkte, daß er sie nicht verstand.

Da hob sie ruckartig den Kopf von der Schulter.

"Oh Gott!" rief sie. "Wir haben zu wechseln vergessen."

Das Taxi war vor dem Hotel "Österreichischer Hof" angekommen. Sie nahm den Geldschein von Bergers Schoß und hielt ihn über die Lehne des Vordersitzes.

"Können wir auch mit Mark bezahlen?"

"Kein Problem", sagte der Fahrer.

"Doch", widersprach sie, "es ist ein Problem. Sie unterdrücken Ihre Empörung. Sie tun so, als mache es Ihnen nichts aus, daß wir Ihr Land wie eine deutsche Provinz behandeln. In Wahrheit sind Sie in Ihrem Stolz tief verletzt. Sie haben sich an die Verletzung gewöhnt. Sie sind abgestumpft durch die Gewöhnung. Ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen."

Der Fahrer hatte den Schein genommen.

"Es ist nicht mein Land", sagte er und reichte das Wechselgeld in Schilling über die Lehne nach hinten.

Ein Hotelpage öffnete von außen die Wagentür. Als Berger ausstieg, fielen sein Ausweis, das Taschentuch und die Schlüssel zu Boden. Als er dem Pagen das Gepäck aus dem Kofferraum übergab, dachte er schon an die Kartoffelchips und die Salzstangen, die er auf dem Zimmer zu einem Glas Sekt beim Fernsehen verzehren würde. Christine, die ihm aufgeregt folgte, hielt er für eine Studienkollegin, die er nur flüchtig kannte. An der Rezeption sagte er:

"Mein Name ist Haller, Heinrich, Anton, Ludwig, Ludwig, Emil, Richard. Ich habe für drei Nächte ein Zimmer reserviert, direkt am Fluß, mit Blick auf den Dom."

Während der Rezeptionsangestellte die Reservierung auf seinem Zimmerplan suchte, legte Christine ihren Paß auf das Pult.

"Ich habe keine Reservierung unter dem Namen Haller", sagte der Angestellte.

"Dann ist ja alles in Ordnung", sagte Berger und ging zu einem der Fauteuils in der Halle. Als er sich setzte, wunderte er sich, daß die Sitzfläche nachgab. Damit hatte er, obwohl er sah, daß sie gepolstert war, nicht gerechnet. Fast wäre er vor Schreck wieder aufgesprungen. Um sich zu fassen, schloß er die Augen. In der Finsternis hinter dem Vorhang der Lider glaubte er das Weinen eines Kindes zu hören. Es erstaunte ihn nicht, daß sich zu dem Weinen Hundegebell und das Sirenengeheul eines Rettungsautos gesellten. Zur Vervollständigung des Bildes, das er im Hofgarten nach der Philosophie-Vorlesung geboten hatte, schlug er die Beine übereinander und verschränkte die Arme. Nachdem er in Gedanken, bei einundzwanzig beginnend, bis achtzig gezählt und sich diese eine Minute als Glücksminute für alle Zeit eingeprägt hatte, öffnete er die Augen. Vor ihm stand, den Zimmerschlüssel wie einen wiedergefundenen Wertgegenstand in die Höhe haltend, Christine.

"Bist du müde?" fragte sie.

"Nein", antwortete er, "ich habe nur nachgedacht."

Sie setzte sich neben ihn.

"Du hast den Mann am Empfang ganz schön verwirrt. Ich habe gesagt, du weißt manchmal nicht, wer du bist. Jetzt bist du sozusagen mein Ehemann."

"Wer war der Mann", fragte er, "den du am Freitag nach der Vorlesung, in der ich hinter dir saß, getroffen hast?"

"Welcher Mann?"

"Er hat seinen Arm um deine Schulter gelegt."

"Ach, im Hofgarten, als so schönes Wetter war... Das war mein Bruder."

"Dein Bruder?"

Berger löste die Verschränkung der Arme, stellte das übergeschlagene Bein auf den Boden und vergrub, die Ellbogen auf den Tisch vor ihm stützend, das Gesicht in den Händen. Christine sah die vernarbte Wunde an seinem Kopf. Vor Gericht als Zeugin befragt, sagte sie später, erst der Anblick der Narbe auf dem kahlgeschorenen Schädel habe in ihr den Verdacht geweckt, daß es sich bei dem Mord-Geständnis nicht nur um dummes Gerede gehandelt habe. Sie habe jedoch den Gedanken sofort wieder verdrängt.

Die Hotelhalle belebte sich durch die Ankunft einer amerikanischen Reisegruppe. Berger hob den Kopf und fragte:

"Möchtest du mit mir tanzen gehen?"

In Christines Gesicht flackerte wie eine nervöse Zuckung ein Lächeln auf. Er fügte hinzu:

"Ich kann noch nicht schlafen. Ich bin zu aufgewühlt. Mach mir die Freude!"

"Aber ich muß mich erst umziehen."

"Ja, laß dir ruhig Zeit."

"Und was machst du inzwischen?"

"Ich bleibe hier sitzen."

Sie war in diesem Moment fest überzeugt, Berger werde, obwohl ohne Geld, die Gelegenheit nutzen, um das Hotel zu verlassen. Wahrscheinlich hat er in der Stadt eine Freundin, bei der er wohnen kann, dachte sie. Daß es sie dennoch nicht überraschte, ihn unverändert an seinem Platz sitzen zu sehen, als sie nach zehn Minuten in einem Kleid, hochhackigen Pumps, gekämmt und parfümiert wiederkam, schrieb sie ihrer mit Gleichgültigkeit gepaarten Erschöpfung zu. Sie sehnte sich nach unkomplizierten Zusammenhängen. Die bewundernden Blicke des männlichen Teils der amerikanischen Reisegruppe, die, mit der Zimmeraufteilung beschäftigt, die Rezeption umlagerte, empfand sie als wohltuend nach den Konfusionen im Zug. Wäre Berger nicht dagewesen, hätte sie vielleicht einen Flirt angefangen. Als sie sich mit einem Seufzer in den Sessel neben ihm fallen ließ, sagte er:

"Du bist erschöpft. Die Fahrt hat dich angestrengt. Ich ziehe meinen Vorschlag zurück. Wir bleiben im Hotel und machen uns einen gemütlichen Abend."

"Wozu habe ich mich dann umgezogen?" protestierte sie.

"Gut, wenn du unbedingt willst."

"Wieso ich? Du wolltest doch tanzen gehen."

"Ja, vor zehn Minuten. In zehn Minuten kann viel geschehen. Vor zehn Minuten dachte ich, es gibt nur zwei Möglichkeiten, entweder wir gehen schlafen, oder wir gehen tanzen. Inzwischen ist mir klar geworden, es gibt unzählige Möglichkeiten. Ich kann zum Beispiel wach neben dir liegen, während du schläfst. Ich kann dir aus meinem Leben erzählen. Ich kann zuhören, wenn du erzählst."

"Du kannst auch allein tanzen gehen", sagte Christine.

"Willst du das?"

"Nein", log sie. "Ich meine nur, es ist eine Möglichkeit."

Berger wartete, bis sie ihm in die Augen sah, und sie begriff sofort, daß er das Spiel mit ihr spielte: Wer erträgt länger den Blick des anderen, ohne das Gesicht zu verziehen? Als sie merkte, daß sie ihre Züge nicht mehr beherrschen konnte, brach sie in Tränen aus. Er nahm aus der Handtasche auf ihrem Schoß, die er als jene erkannte, die sie in seinem Zimmer im "Vier Jahreszeiten" umgestülpt hatte, sein Taschentuch und reichte es ihr. Nun fiel ihm ein, daß er im Speisewagen, als er glaubte, verhaftet zu werden, seine Taschen geleert und den Inhalt wie bei einer Leibesvisitation auf den Tisch gelegt hatte. Christine schneuzte sich.

"Würdest du mir bitte mein Geld wiedergeben?" sagte er, nachdem sie die zerflossene Wimperntusche von den Wangen getupft und die Tränen getrocknet hatte.

"Dein Geld?" rief sie. "Jetzt ist es also dein Geld?"

Er nahm ihr das Taschentuch aus der Hand.

"Deine Tränen in meinem Taschentuch sollen ein Zeichen unserer Liebe sein."

"Ach, Liebe!"

Sie griff in die Tasche und warf ihm die lose darin aufbewahrten Geldscheine, dann auch die beiden an sich genommenen Schlüssel hin. Sie macht eine Szene, dachte er. Es gefiel ihm, die Rolle des Verliebten zu spielen. Die amerikanische Reisegruppe, nicht nur die Männer, und ein eben eingetroffenes Ehepaar waren das Publikum. Um die Szene mit einem dramatischen Höhepunkt abzuschließen, erhob er sich, ohne das auf den Tisch Geworfene anzurühren, und schritt auf den Ausgang zu. Der Hotelpage öffnete ihm eilig die Tür. Draußen ging er gerade so weit, daß er sicher war, von den Menschen in der Halle nicht mehr gesehen zu werden. Eine Weile blieb er unschlüssig stehen. Passanten strömten an ihm vorbei. Damit nicht der Eindruck entstand, er wolle ein Taxi nehmen, schloß er sich ihnen an. Vor dem "Café Bazar" überlegte er, ob er hineingehen solle. Als ihm einfiel, daß er kein Geld bei sich hatte, mußte er lachen.

So wie der Zuschauer eines Trauerspiels durch Gelächter im Publikum auf die heiteren Aspekte des Stückes gestoßen wird, so wurde ihm durch sein Lachen die Komik der mißlichen Lage, in die er sich gebracht hatte, bewußt. Akteur und Zuschauer zugleich, schien ihm nun alles, was er tat, Teil einer Komödie zu sein, deren innerem Gesetz er sich unterwerfen mußte. Auf der Brücke über die Salzach winkte er einem Mann auf der anderen Seite, den er zu kennen glaubte. Da ihn der Mann nicht bemerkte, lief er über die Straße und stieß mit einem Fahrrad zusammen. Um den ihm nachgerufenen Schimpfwörtern "Arschloch" und" Wichser" etwas entgegenzusetzen, stimmte er zur Probe einige ihm geläufige Opernarien an und entschied sich schließlich für das Lied des Torero aus "Carmen". Es anfangs nur summend, dann mit zunehmender Lautstärke singend, strebte er raschen Schrittes durch die engen Gassen der Altstadt dem Festspielhaus zu. Dort angekommen, schmetterte er es aus voller Kehle zu den Sternen empor.

Sein nächstes Ziel war der Platz vor dem Dom, wo er einen Lichtmast erklomm, von dessen Höhe er so, als wäre er, stiege er herab, in Todesgefahr, mit vor Angst starren Augen hinunterblickte. Ein Kreis von Gaffern bildete sich. Als, durch die Menschenansammlung angelockt, zwei Polizisten erschienen, machte er einen Satz in die Tiefe, durchbrach mit der Wucht seines Körpers den inzwischen dicht geschlossenen Kreis und flüchtete in die Franziskanergasse. Getrennt von Christine, wollte er nicht verhaftet werden. So endet keine Komödie, dachte er und rannte zurück zum Festspielhaus. Einem Mädchen in Salzburger Tracht rief er zu:

"Je cherche mon amour."

Es zeigte mit dem Finger zum Himmel. Er schaute hinauf. Zwischen rasch ziehenden Wolken sah er den fast vollen Mond. Wie gebannt hielt er inne. Lange, bis ins Alter der Pubertät, hatte er im Gesicht des Mondes zu lesen versucht, ob ihm der Vater im Himmel, zu dem er betete, gut oder böse war. Wenn der Mond lächelte, hatten die Rügen der Eltern ihn nicht berührt. Der Mond war sein heimlicher Freund gewesen. Er ging langsam weiter. Obwohl er wußte, daß er sich selbst betrog, nahm er das Lächeln des Mondes als ein Zeichen dafür, daß ihm das Schicksal gewogen war.

Christine hatte nach seinem Abgang mit dem Gedanken gespielt, ihre Sachen zu packen und mit dem nächsten Zug nach München zurückzufahren. Sein Geld und die Schlüssel hatte sie an der Rezeption deponieren wollen. Auf dem Zimmer hatte sie sich, von Müdigkeit übermannt, auf das Bett gelegt und war eingeschlafen. Erst Bergers zuerst zaghaftes, dann, da sich nichts rührte, heftiges Klopfen weckte sie auf. Als sie ihm öffnete, fiel er ihr um den Hals, ihren noch kraftlosen Körper mit solcher Gewalt an sich drückend, daß sie kaum atmen konnte.

"Willst du mich umbringen?" fragte sie.

Da ließ er sie los und begann wie unter Zwang, ein Kleidungsstück nach dem anderen abzulegen. Seine Bewegungen glichen denen eines Roboters, der einem eingespeisten Programm gehorcht. Jacke und Hose hängte er in den mit Bügeln ausgestatteten Einbauschrank, die Krawatte über die Kleiderstange. Das verschwitzte Hemd faltete er sorgsam zusammen und legte es wie auch die Socken in eines der seitlichen Wäschefächer. Die Schuhe stellte er parallel, mit den Spitzen voran, unter das Bett. Vor dem Abstreifen der Unterhose zögerte er einen Augenblick, so als wehrte sich etwas in ihm gegen den Befehl, sich ganz auszuziehen.

Christine hatte die Tür abgeschlossen. Er ging zu ihr hin, faßte sie mit festem Griff an den Schultern und schob sie wie eine Puppe zum Rand des Bettes, auf das er sie, damit sie sich hinsetzte, niederdrückte. Dann machte er zwei Schritte zurück und begann, das langsame Wachsen seines Geschlechts ignorierend, zu sprechen.

"Ich will dich nicht länger quälen. Wahre Liebe verlangt nicht nach Erwiderung. Du kannst deine Sachen nehmen und gehen. Der letzte Zug fährt um Mitternacht. Du brauchst mir nichts zu erklären. Von dem Geld gibst du mir so viel, daß ich die Übernachtung und die Rückfahrt bezahlen kann. Wenn wir einander zufällig begegnen, werde ich so tun, als sähe ich dich zum erstenmal. Nichts an mir wird dir verraten, was ich fühle und denke. Sobald du aus diesem Zimmer gegangen bist, wirst du für mich die Erinnerung an eine tote Geliebte sein."

Christines Blick war, während er sprach, mehrmals von seinem Unterleib zu seinem Gesicht hinauf und wieder hinunter gewandert. Nachdem sie noch kurz gewartet hatte, um sicher zu sein, daß er mit seiner Rede zu Ende war, ging sie ins Badezimmer, schloß die Abflußöffnung der Badewanne und drehte den Wasserhahn auf. Berger blieb reglos stehen. Das Glied erschlaffte. Er lauschte dem Rauschen des Wassers. Als es verstummte, hob er die Unterhose vom Boden auf und zog sie an. Dann nahm er das Hemd aus dem Schrank, schlüpfte hinein und knöpfte es zu, wobei er die Knöpfe durch die falschen Knopflöcher steckte. Als er den Fehler bemerkte, knöpfte er es wieder auf und fing von neuem an. Auch das Umbinden der Krawatte mißlang zunächst, so daß er es wiederholen mußte. Beim Anziehen der Socken verlor er das Gleichgewicht und entging nur knapp einem Sturz.

Christine hatte dem Einlaufen des Wassers, auf dem Wannenrand sitzend, geistesabwesend zugesehen. Bergers Vorschlag, ihn zu verlassen, hatte sie in einen inneren Zwiespalt gestürzt. Einerseits war sie fest entschlossen, die Beziehung möglichst schnell abzubrechen, andererseits wollte sie nicht, daß es so aussah, als täte sie es, weil er es ihr nahelegte. Erst als das Wasser bis zu jener Höhe gestiegen war, wo der Notabfluß das Überlaufen verhinderte, war sie aus ihrer Versunkenheit aufgewacht, hatte den Hahn abgedreht und sich ausgezogen. Bereits in der Wanne liegend, hatte sie den vom Hotel bereitgestellten Badezusatz in das Wasser geschüttet und mit der Hand Schaum erzeugt, der ihre Nacktheit verbarg. Dabei hatte sie an alte Hollywoodfilme, in denen das Zeigen entblößter Körper noch als anstößig galt, denken müssen.

Berger zog hastig die Hose an, dann das das Jackett, dann die Schuhe. Zum Binden der Schnürsenkel setzte er sich auf das Bett. Als er fertig war und den Kopf wieder hob, hörte er hinter der nur angelehnten Badezimmertür ein Geräusch, das wie ein Seufzer klang. Vorsichtig schlich er sich an die Tür heran und holte sein Glied aus der Hose. An den Türpfosten gelehnt, durch den kaum zentimeterbreiten Türspalt Christines nach vorn gebeugten Nacken erspähend, befriedigte er sich mit aufeinandergepreßten Lippen. Nun hielt ihn nichts mehr zurück. Nachdem er seine Geschlecht wieder in die Hose geschoben, den Reißverschluß zugezogen und noch einen prüfenden Blick in den Spiegel an der Schranktür geworfen hatte, nahm er aus der Handtasche, die auf dem Nachtkästchen lag, drei Scheine des gestohlenen Geldes und seinen Wohnungsschlüssel, steckte beides in die innere Jackentasche und verließ eilig das Zimmer. Im Flur vergewisserte er sich, daß er seinen Studentenausweis und das noch tränennasse Taschentuch bei sich hatte. Während er auf den Lift wartete, beschloß er, statt zum Bahnhof zu fahren, den Kaffeehausbesuch nachzuholen, auf den er vorher, da ohne Geld, hatte verzichten müssen. 

Christine schreckte aus ihren Gedanken auf. Ihre Geistesabwesenheit hatte sie nicht nur vergessen lassen, wo sie sich befand und was sie gerade tat, sondern sie war an einer sich immer weiter wie von selbst verlängernden Gedankenkette in eine irreale Welt eingetaucht, in der sich wirklich Erlebtes mit Geträumtem, im Fernsehen oder Kino Gesehenem oder irgendwo Gelesenem mischte. An der Oberfläche des nur noch lauwarmen Wassers, in dem ihre ohnehin blasse Haut wie ausgebleicht wirkte, bildete der Schaum kleine Inseln. Sie wunderte sich über die Stille, aber erst nach einiger Überlegung wurde ihr der Grund ihrer Verwunderung klar. Sie vermißte ein Lebenszeichen von Berger.

Wahrscheinlich hat er sich hingelegt und ist eingeschlafen, dachte sie. Es graute ihr davor, die Nacht in einem Bett mit ihm zu verbringen. Sie faßte den Plan, sich, falls er tatsächlich schliefe, davonzustehlen. Vorsichtig, um kein Geräusch zu machen, erhob sie sich und stieg aus der Wanne. In ein Badetuch gehüllt, ging sie auf Zehenspitzen zur Tür und schaute durch den Spalt, den sie, damit sie das Bett sah, ein wenig vergrößerte. Dann öffnete sie die Tür mit einem Ruck und trat, wobei das Badetuch an ihr abglitt, ins Zimmer.

Berger hatte im "Cafe Bazar" einen freien Tisch gefunden. Er setzte sich so, daß er den Raum überblicken konnte. Als die Bedienung kam, fragte er sie:

"Können Sie mir sagen, ob es hier vor ungefähr einer Stunde genauso voll, weniger voll oder voller war?"

Sie hielt in der einen Hand den Bestellblock, in der anderen, zum Notieren bereit, einen Kugelschreiber.

"Hätte ich vor einer Stunde keinen Platz wie diesen gefunden", fuhr er fort, "einen Platz an der Wand, so daß niemand hinter mir sitzt, wäre ich wieder hinausgegangen. Ich ertrage es nicht, wenn hinter meinem Rücken etwas geschieht, das ich, falls gesprochen wird, höchstens erraten, aber nicht sehen kann. Wenn es nur einen Platz in der Mitte gegeben hätte, hätte ich mich nicht hingesetzt und könnte die Tatsache, daß ich jetzt im Kaffeehaus sitze, nicht als das Nachholen von etwas betrachten, worauf ich vor einer Stunde aus Gründen, über die ich nicht sprechen möchte, verzichten mußte. Hätte ich mich nicht hingesetzt, hätte ich natürlich auch nichts bestellt."

Die Bedienung schrieb das Wort "Bestellung" auf den Block, schüttelte über sich selbst den Kopf, strich es durch und entfernte sich. Berger dachte, daß er, wäre er nicht in das Café gegangen, vielleicht schon im Zug nach München säße. Er hätte aber auch, dachte er weiter, seinen Entschluß, ins Café zu gehen, ohne auf seine ursprüngliche Absicht, zum Bahnhof zu fahren, zurückzukommen, revidieren und durch einen neuen ersetzen können. Er hätte zum Beispiel in der Hotelhalle dem Vetter einen Brief schreiben können. Genausogut hätte er den Vetter anrufen und die Verwechslung, derentwegen er seine Verlobte getötet hatte, aufklären oder ihn, um sich Erklärungen zu ersparen, einfach besuchen können. Der Gedanke, daß dies immer noch möglich war, lähmte ihn. Als sich ein junger Mann lächelnd seinem Tisch näherte, fühlte er sich wehrlos einer Gefahr ausgeliefert. Da auch sein Gesicht von der Lähmung betroffen war, konnte er weder das Lächeln erwidern noch durch eine abweisende Miene zum Ausdruck bringen, daß er allein sitzen wollte.

"Verzeihen Sie", sagte der junge Mann, als er vor ihm stand, "ich habe Sie mit einem Bekannten verwechselt."

"Verwechslung kann tödlich sein", sagte Berger, überrascht, daß er sprechen konnte. "Da Sie mich mit Ihrem Bekannten verwechselt haben, bin ich für Sie nun kein völlig Unbekannter mehr. Hätten Sie gleich gesehen, wer ich wirklich bin, hätten wir vermutlich nicht Bekanntschaft geschlossen. Sie hätten sich an einen anderen Tisch gesetzt, hätten einen Kaffee bestellt... Darf ich fragen, mit welcher Absicht Sie hier sind? Sind Sie verabredet?"

"Nein."

"Dann lade ich Sie ein, mir Gesellschaft zu leisten. Nehmen Sie Platz. Ich bin zwar nicht der, für den Sie mich lächelnd gehalten haben. Jetzt lächeln Sie nicht mehr. Aber da Sie vorhatten, sich zu Ihrem Bekannten zu setzen, und da ich in gewissem Sinne nun auch Ihr Bekannter bin, wäre es eine Beleidigung, meine Einladung abzulehnen."

Der junge Mann blickte sich noch einmal um, als wollte er demonstrieren, daß er einen besseren Platz ohnehin nicht gefunden hätte. Dann setzte er sich.

Christine hatte es zuerst nicht glauben wollen, daß Berger gegangen war. Obwohl sie es absurd fand, anzunehmen, daß er sich vor ihr verstecke, hatte sie unter dem Bett und im Schrank nachgesehen. Danach war sie in Gelächter ausgebrochen, das abrupt endete, als sie die offene Handtasche auf dem Nachtkästchen sah. Panikartig war sie zu dem Nachtkästchen hingestürzt, hatte die Tasche mit der Öffnung nach unten über das Bett gehalten und ausgeleert. Für den Verdacht, Berger habe sie ihrer Geldbörse beraubt, hatte sie sich vor sich selbst geschämt. Erschöpft von der Aufregung, war sie ins Badezimmer zurückgekehrt und hatte sich abgetrocknet. Nun saß sie wieder auf dem Wannenrand und starrte, in Gedanken versunken, auf die Reste der Schauminseln über dem grünlichen Wasser.

"Ich bin hier, um mich abzulenken", sagte der junge Mann. "Und Sie?"

"Ich wollte gerade gehen", antwortete Berger. "Ich war, als Sie kamen, im Begriff, das Café zu verlassen. Wären Sie nicht gekommen, wäre ich nicht mehr hier."

Er rückte mit dem Stuhl an den Tisch heran.

"Ihretwegen bin ich geblieben. Sie sind schuld, wenn ich meinen Zug nach München versäume."

Der junge Mann griff in die Hosentasche und holte ein Feuerzeug und eine Schachtel Zi­garetten heraus.

"Ich muß Ihnen ein Geständnis machen", sagte er und streckte Berger die offene Schachtel hin. "Ich habe Sie nicht verwechselt. Ich habe keinen Bekannten mit einer Glatze."

Da Berger auf das Angebot, sich eine Zigarette zu nehmen, nicht reagierte, zündete er nur sich selbst eine an.

"Zuerst wollte ich mich zu Ihnen setzen. Irgend etwas an Ihnen interessierte mich. Ich wollte mit Ihnen sprechen. Doch als ich Sie aus der Nähe sah, wurde mir klar, daß ich über Sie durch ein Gespräch nichts erfahren würde. Sie würden sich, dachte ich, hinter Ihren Sätzen genauso verbergen wie hinter der Glatze, die Sie als Tarnung benutzen. Da ich ein Gespräch, wenn ich mich zu Ihnen setze, für unvermeidlich hielt, log ich Sie an." Er blies Berger den Rauch ins Gesicht. "Einerseits bin ich nun froh, Sie, indem ich Sie ansprach, davon abgehalten zu haben, das Café zu verlassen, andererseits bedaure ich, daß ich mir gerade dadurch die Chance genommen habe, Sie kennenzulernen."

"Auch ich habe Sie angelogen", sagte Berger. "Ich hatte nicht die Absicht, das Café zu verlassen, und ich habe nicht die Absicht, nach München zu fahren."

Da erhob sich der junge Mann und setzte sich an einen anderen Tisch.

Christine hatte sich, durch ein Geräusch, das wie ein Klopfen klang, aufgestört, rasch das Kleid, das auf dem Boden lag, übergezogen. Obwohl sie, als sich das Geräusch wiederholte, erkannte, daß es aus dem oberen Zimmer kam, sah sie nach, ob vor der Tür jemand stand. Sie dachte, es könnte Berger sein. Im nachhinein erschien es ihr unsinnig anzunehmen, er würde ein zweites Mal wiederkommen. Für völlig abwegig hielt sie die Befürchtung, er könnte sich an der Rezeption einen Zweitschlüssel leihen, dann heimlich zu ihr ins Zimmer kommen und sie im Schlaf überraschen. Trotzdem überlegte sie, ob sie dem Hotelportier ihre Befürchtung mitteilen und sich durch eine entsprechende Anweisung schützen sollte. Zwar verwarf sie diesen Gedanken als eine Verrücktheit, die sie einer augenblicklichen, durch die Ereignisse erklärlichen Konfusion zuschrieb, schloß aber zur Sicherheit von innen ab und ließ den Schlüssel stecken, so daß man von außen nicht öffnen konnte.

Berger winkte die Bedienung herbei.

"Einen kleinen Braunen und eine Sachertorte", sagte er.

"Mit Schlag?" fragte sie.

Das Wort "Schlag" löste in ihm eine Assoziationskette aus, die seine Antwort verzögerte.

"Schlag auf den Kopf, Schuß in die Brust", sagte er schließlich, und, als die Bedienung ein ihrer Tätigkeit angemessenes Lächeln aufsetzte: "Ich bitte um Gnade."

Da ging sie zum nächsten Tisch, wo man zu zahlen wünschte. Ein Gefühl der Leere erfaßte Berger. Damit der junge Mann, der ihn beobachtete, es nicht bemerkte, nahm er sich eine der Zigaretten, die dieser auf dem Tisch hatte liegenlassen, und zündete sie, einen kurzen Blick mit ihm tauschend, mit seinem Feuerzeug an.

Christine hatte die auf dem Bett verstreuten Geldscheine eingesammelt und mit den anderen ausgeschütteten Gegenständen wieder in die Tasche gesteckt. Dann hatte sie einmal durch alle Fernsehprogramme geschaltet und sich aus der Minibar ein Glas Sekt eingeschenkt. Nun lief sie rauchend von einem Ende des Zimmers zum anderen, jedesmal, wenn sie an dem Sektglas vorbeikam, das auf dem Fernseher stand, einen kleinen Schluck daraus trinkend. Wie ein gefangenes Tier, dachte sie.

Berger drückte die Zigarette aus. Die Bedienung brachte den Kaffee und die Torte mit Schlag. Schon bei dem Gedanken, sie essen zu müssen, verspürte er Übelkeit. Dennoch begann er, sie mit einer seine wahren Empfindungen durch ein Höchstmaß an Selbstbeherrschung verbergenden Miene Bissen für Bissen hinunterzuwürgen. Nachdem er sie mitsamt der Schlagsahne bis auf den letzten Krümel aufgegessen, den Kaffee ausgetrunken und noch ein, zwei Minuten scheinbar gleichgültig um sich blickend, gewartet hatte, stand er auf und ging gemächlichen Schrittes auf einen seitlichen Ausgang zu, stieg dann rasch, aber ohne zu hasten, eine Treppe hoch, über die man zu den Toiletten gelangte, schloß sich auf der Herrentoilette in eine Kabine ein und spie, vor dem Klosettbecken knieend, die schon etwas verdaute bräunliche Masse in einem eruptiven Befreiungsakt aus.

Als er an seinen Platz zurückkehren wollte, sah er, daß an seinem Tisch eine Frau, die Zeitung las, saß. Da sie ihm den Rücken zuwandte, konnte er ihr Gesicht nicht sehen. Über ihrem gebeugten Nacken teilte sich das herabfallende Haar. Während er, sich an Stühlen und Tischen vorbeischlängelnd, weiterging, beschloß er, mit ihr ein Gespräch anzufangen. Bei einer zwanglosen Unterhaltung, dachte er, würde es ihm leichterfallen, vor dem jungen Mann, der ihn nicht aus den Augen ließ, seinen inneren Zustand geheimzuhalten. Erst nachdem er sich hingesetzt hatte und als die Frau den Kopf hob, erkannte er, daß es Christine war.

"Du?" sagte sie, die Zeitung, damit er nicht sah, was sie gerade gelesen hatte, mit den Händen bedeckend.

Sein Pulsschlag erhöhte sich spürbar. Er erinnerte sich an die Stille in seiner Wohnung, in der er geglaubt hatte, sein Herz zu hören, und an die Angst vor einem plötzlichen Herzstillstand.

"Wir werden beobachtet", sagte er leise. "Dreh dich nicht um. Ein Mensch, der mich verfolgt, vielleicht ein Kripobeamter, sitzt hinter dir. Wir tun so, als hätten wir uns noch nie gesehen. Ich habe dich angesprochen. Jetzt biete ich dir eine Zigarette an."

Er hielt ihr die Schachtel hin. In diesem Moment stand der junge Mann, der noch nichts bestellt hatte, auf, kam an den Tisch und sagte, sich auf den noch freien Stuhl setzend:

"Sie gestatten?"

Berger legte die Zigaretten, die ihm nicht gehörten, rasch auf den Tisch zurück.

"Sind Sie von hier?" fragte der junge Mann, zuerst Christine, dann ihn anblickend.

"Woher die junge Dame ist, weiß ich nicht", erwiderte Berger. "Was mich betrifft, müßte ich Sie, um Ihre Frage beantworten zu können, bitten, sie genauer zu stellen. Aber ich kann Ihnen die Mühe ersparen, da ich auf Fragen nach meiner Herkunft, meinem Wohnsitz oder meiner Identität nur ungern, das heißt nur, wenn ich von Amts wegen dazu gezwungen bin, Auskunft gebe. Ich beuge mich nur der Übermacht. Welches Risiko gehe ich ein, wenn ich Ihnen die Antwort verweigere?"

Der junge Mann wandte sich lächelnd Christine zu.

"Ihr Freund ist nicht sehr entgegenkommend."

"Er ist nicht mein Freund", sagte sie.

Einen Augenblick verlor Berger die Beherrschung über seinen Gesichtsausdruck, so erleichtert war er, daß sie, obwohl sie nicht wissen konnte, daß der Mann jener war, von dem er gesprochen hatte, nicht in die Falle tappte. Um das Gespräch wieder an sich zu reißen, sagte er:

"Stellen Sie sich ein Theater vor, in dem die Zuschauer eines Abends die Gedanken der Schauspieler durch eine besondere Einrichtung, die noch zu erfinden wäre, sehen und hören könnten. Was, glauben Sie, würde geschehen?" Er sah seinen Gegenüber herausfordernd an. "Ich wage die These, daß man über kurz oder lang die sichtbar und hörbar gemachten Gedanken, also die Wahrheit, dem aufgeführten Stück, also der Kunst, vorziehen würde. Das Dargestellte würde die Zuschauer bald so sehr langweilen, daß sie sich durch lautstarke Mißfallensbekundungen Luft machen würden. Die Schauspieler wären in ihrem Spiel gestört. Sie würden ihre Rollentexte vergessen. Der Fluß ihrer auf den Proben eingeübten Bewegungen geriete ins Stocken. Das Vortäuschen von Gefühlen würde ihnen nicht mehr gelingen. Je verzweifelter sie sich an ihre Rollen klammerten, desto lächerlicher würden sie den Zuschauern erscheinen, bis sie vor deren höhnischem Gelächter kapitulieren müßten."

"Sie würden abtreten", sagte der junge Mann.

"Normalerweise ja", stimmte Berger aufgeregt zu. "Aber gesetzt den Fall, die Ausgänge wären versperrt... "

"Man würde den Vorhang herunterlassen."

"Es gibt keinen Vorhang." Nun sah er Christine an. "Die Schauspieler würden erstarren. Stumm und gelähmt, vom Licht der Scheinwerfer geblendet, würden sie auf der Bühne stehen. Die Zuschauer, von den Gedanken gefesselt, denen sie jetzt ungestört folgen könnten, würden sich allmählich beruhigen. Den erstarrten Schauspielern würde ein gespanntes Publikum gegenübersitzen. Da die Ursache ihrer Erstarrung damit beseitigt wäre, würde sie sich, bei dem einen früher, bei dem anderen später, nach und nach lösen. Der erste würde vielleicht nur den Kopf etwas drehen, der zweite sich an der Nase kratzen, der dritte sein eingeschlafenes Bein ausschütteln... Wenn auch der letzte seine Bewegungsunfähigkeit überwunden hätte, bräche im Zuschauerraum ein Beifallssturm ohnegleichen los. Die Schauspieler würden sich verwirrt in die Arme sinken. Der Triumph ihres Scheiterns würde die Erfolge ihrer Schauspielkunst in den Schatten stellen."

Er senkte die Augen. Sein Blick fiel auf die Zeitung, auf der nun nicht mehr Christines Hände lagen. Von der Begeisterung, in die er sich beim Reden gesteigert hatte, noch wie benommen, starrte er auf das, von ihm aus gesehen, spiegelverkehrte Foto einer jungen Frau, die ihm bekannt vorkam. Als er versuchte, die Überschrift des Artikels, zu dem es gehörte, zu lesen, faltete Christine die Zeitung zusammen. Wie zuvor auf das Foto, so starrte er nun auf ihre Hände.

"Hast du schon bezahlt?" fragte sie.

Um ihr antworten zu können, hätte er sich zuerst über den Tisch zu den Händen hinunterbeugen und sie mit Küssen bedecken müssen. Der junge Mann hätte das zweifellos als einen Gefühlsausbruch ausgelegt. Doch Berger fühlte nichts. Er überlegte, ob er sich, indem er nur verneinend den Kopf schüttelte, das Küssen der Hände ersparen würde. Schließlich griff er, in der Hoffnung, es durch eine Handlung, die sich einer falschen Deutung entzog, ersetzen zu können, nach dem noch vollen Glas Wasser, das man in Österreich zum Kaffee serviert, und stieß es scheinbar versehentlich um.

Christine nahm aus ihrer Handtasche die Geldbörse und schaute sich nach der Bedienung um. Als Berger, da sie dabei ihre Hände aus seinem Blickfeld entfernte, zu ihrem Gesicht aufsah, war ihm, als hätte er nun, um mit ihr sprechen zu können, zuerst ihren Mund küssen müssen. Damit sie nicht glaubte, er habe seine Sprachfähigkeit eingebüßt, sagte er zu dem jungen Mann:

"Ich hoffe, wir haben zu Ihrer Zerstreuung beigetragen."

Dann schob er die drei Scheine der Diebesbeute, die er bei sich hatte, unter den Kuchenteller. Christine steckte ihre Geldbörse in die Tasche zurück und gab ihm durch ein leichtes Neigen des Kopfes das Zeichen zum Aufbruch. Gemeinsam verließen sie das Café und gingen, als hätten sie sich abgesprochen, zum Fluß hinunter. Am Fuß der Treppe, die zum Uferweg führte, fielen sie fast gleichzeitig übereinander her. Es war nicht sicher, wer von beiden die Initiative ergriffen hatte.

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Erschienen im Rospo-Verlag, Hamburg, 1998