Die Frau warf den Zigarettenrest auf den Boden und trat ihn mit der Schuhspitze
aus. Der junge Mann zog sie, indem er sie fester an seine Seite drückte, zu
einem der Fahrkartenschalter. Berger beobachtete, wie er durch die in Mundhöhe
durchlöcherte Scheibe mit dem Beamten sprach, wie dieser dann etwas in seinen
Computer tippte und wie der junge Mann Geld in die unterhalb der Scheibe drehbare
Schale legte, auf der es in das Innere des Schalters gelangen konnte. Gegen
seinen Vorsatz, neben dem Eingang so lange auszuharren, bis ihm die Frau, die
in seinen Augen Christine war, das Gesicht zuwandte, ging er nun auf die in
der Mitte geteilte Schale zu, deren eine Hälfte der Schalterbeamte, nachdem
er das Geld herausgenommen und zwei Fahrkarten hineingelegt hatte, nach außen
drehte. Die Schale, nicht die Frau, war sein Ziel.
Als er den Schalter erreichte, hatte der junge Mann die Karten schon eingesteckt. Die Frau hatte sich bei ihm eingehängt. Ohne zu wissen, was er tat, folgte Berger den beiden zu den Geleisen und eilte, durch die Wagenfenster eines abfahrbereiten Zuges nach leeren Plätzen suchend, hinter ihnen den Bahnsteig entlang. Als sie stehenblieben, um einzusteigen, tat er es auch. Hätte sich die Frau auf dem Trittbrett nicht doch noch umgedreht, wäre auch er in den Zug gestiegen. Später, vor Gericht, sagte er aus, das erste, woran er sich nach seinem Bewußtseinsverlust wieder erinnern könne, sei ein Gefühl der Enttäuschung gewesen. Erst nach und nach sei ihm klargeworden, daß er die Frau verwechselt und daß sich nun alles zum Guten gewendet hatte.
So
schnell er konnte, lief er über den Bahnsteig, an winkenden Menschen vorbei, in
die Halle zurück. Inzwischen war Christine gekommen. Sie trug Blue jeans, weiße
Turnschuhe und einen Kapuzenmantel. Das Haar hatte sie hochgesteckt. Berger
erkannte sie erst, als er vor ihr stand.
"Da bist du ja", sagte sie.
"Bitte entschuldige", stieß er, nach Atem ringend, hervor, "ich
habe... ich bin... "
"Du brauchst dich nicht zu entschuldigen."
Sie hob einen kleinen Koffer vom Boden auf.
"Der nächste Zug, den wir nehmen können, fährt in fünfzehn Minuten. Die
Fahrkarten habe ich schon gekauft."
Er nahm ihr den Koffer ab. Die Bereitwilligkeit, mit der sie das zuließ,
verblüffte ihn. Er hatte nur die Hand ausgestreckt. Sie hatte ihm den Koffer,
so kam es ihm nachträglich vor, geradezu aufgedrängt. Hätte er ihr seine Hilfe
nicht angeboten, dachte er, hätte das einen schlechten Eindruck auf sie
gemacht. Sie hätte ihn für einen Menschen gehalten, der nicht weiß, was sich
gehört. Doch genausogut hätte sie seine Zuvorkommenheit antiquiert finden
können. Ihr verändertes Aussehen ließ sie als eine Person erscheinen, die
keinen Wert darauf legte, als ein Mitglied des sogenannten schwachen
Geschlechts behandelt zu werden. Hätte er nachgedacht, ob er ihr den Koffer
abnehmen sollte, hätte er sich wahrscheinlich dagegen entschieden. Er hätte das
Falsche getan. Obwohl der Gefühlsüberschwang, den der Plan, mit Christine nach
Salzburg zu reisen, in ihm ausgelöst hatte, verflogen war und er nun keinen
Sinn mehr in dieser Reise sah, fürchtete er, sie durch einen Fehler im letzten
Moment zu gefährden.
"Nicht denken", sagte er zu sich selbst.
"Soll ich uns für die Fahrt etwas zu trinken holen?" fragte
Christine.
Ohne auf die Antwort zu warten, ging sie zur Vorderseite des Kiosks. Berger
schaute ihr nach. Schon die kleinste Bewegung, etwa das Abstellen des Koffers,
hätte, das fühlte er, wie in einer Kettenreaktion das Verlassen des Bahnhofs,
die Rückkehr ins Hotel und schließlich in seine Wohnung nach sich gezogen. Als
Christine mit zwei Dosen Fanta, eine Dose in jeder Hand, wiederkam, begann er
sofort zu sprechen.
"Ich nehme mir vor, nicht zu denken", sagte er, "aber natürlich
ist dieser Vorsatz schon ein Gedanke. Indem ich ihn ausspreche, gebe ich mich
der Hoffnung hin, ich könnte mein Denken unter Kontrolle halten. Die Worte, die
ich sage, unterliegen, so bilde ich mir ein, meinem Willen. Wenn ich rede,
glaube ich mich dem Ansturm der Gedanken, die, von mir nicht gewollt, in mir
entstehen, widersetzen zu können. Das Denken ist etwas, das mit uns geschieht.
Dem Sprechen geht, sofern wir nicht den Verstand verlieren, eine Entscheidung
voraus."
"Das kannst du mir alles im Zug erzählen", sagte Christine.
Sie hielt noch immer die beiden Dosen wie Kerzen bei einer Prozession in den
Händen. Offensichtlich wartete sie darauf, daß sie Berger von zumindest einer
Dose befreite, damit sie die andere in der von ihrer Schulter hängenden Tasche
verstauen konnte. Er blieb jedoch untätig stehen, und selbst, als sie ihm die
Dosen entgegenstreckte, nahm er sie nicht. Um ihm seine Begriffsstutzigkeit vor
Augen zu führen, bückte sie sich und stellte sie vor ihm auf den Boden. Er
blickte sie fragend an. Ihr Verhalten, das er nicht verstand, verband sich mit
den Gedanken, denen er nun, von ihr zum Schweigen gebracht, wieder ausgesetzt
war, zu einem rätselhaften Zusammenhang. Sein etwas dummer Gesichtsausdruck
rührte und ärgerte sie zugleich. Nachdem sie eine Weile zwischen den beiden Empfindungen
hin und her geschwankt hatte, hob sie zuerst eine, dann die andere Dose vom
Boden auf und stopfte sie in die Umhängetasche. Bergers Miene hellte sich
schlagartig auf. Er nahm den Koffer von der rechten in die linke Hand und faßte
Christine mit festem Griff um die Hüfte.
"Ich halte es für das beste, wir setzen uns gleich in den
Speisewagen", sagte er und schritt, sie mit sich ziehend, zu den Geleisen.
Plötzlich,
auf halbem Wege, entwand sie sich ihm und rief: "Fast hätte ich es
vergessen, mich hat vorher am Kiosk ein Betrunkener um eine Zigarette gebeten.
Ich habe ihm, ich weiß nicht warum, die ganze Schachtel gegeben."
Sie schaute sich in der Halle um, bis sie einen Verkaufsstand mit der
Aufschrift "Tabak" entdeckte.
"Bleib hier stehen!" sagte sie.
Doch Berger folgte ihr. Sie verlangte eine ihm nicht geläufige Zigarettenmarke.
Als sie in ihre Tasche griff, um unter den Dosen das Portemonnaie zu suchen,
kam er ihr zuvor, indem er einen Geldschein auf den Zahlteller legte.
"Es ist gestohlenes Geld", sagte er.
Der Verkäufer gab auf den Schein heraus. Über Lautsprecher wurde die Einfahrt
eines Zuges nach Wien angekündigt. Berger steckte das Wechselgeld in die
Hosentasche und wartete, bis Christine die Zigaretten genommen hatte. Dann
küßte er sie auf die Schläfe und flüsterte ihr ins Ohr:
"Jetzt bist du meine Komplizin."
Im Zug setzten sie sich, wie er es vorgeschlagen hatte, gleich in den
Speisewagen, in dem es, da keine Essenszeit war, noch freie Tische gab.
Christine stieß aus Nervosität eine nicht abgeräumte, zum Glück leere
Weinflasche um. Als sie sich eine Zigarette zwischen die Lippen schob, gab ihr
Berger mit seinem Feuerzeug Feuer. Während sie mit hastigen Zügen, ohne zu
inhalieren, den Rauch einsog, sah er sie unentwegt an, was sie nur noch
nervöser machte. Zum erstenmal nahm er ihr Gesicht mit Bewußtheit wahr, die
hohe Stirn, die geröteten Wangen. Ein heller Flaum oberhalb der Nasenwurzel
überbrückte den Abstand zwischen den Augenbrauen. Die Nasenflügel erinnerten
ihn an die Blüten des Löwenmauls. Die von ungewöhnlich scharf konturierten
Wölbungen gleichsam gekrönte Oberlippe stülpte sich sanft über den
Zigarettenfilter. Berger konnte der Versuchung, sie zu berühren, kaum
widerstehen.
Ich liebe sie, dachte er. Doch da er den Gedanken für sich behielt, verwandelte
er sich in ein Schreckensbild. Er sah im Geist die zerstückelten Opfer des
Massenmörders, fein säuberlich abgeschnittene Brüste, Bauchstücke an
Fleischerhaken, zu Haufen gestapelte Beine, Füße, Arme und Hände, Augen wie Glaskugeln
in einer Keramikschale, abgetrennte Ohren, die scheinbar immer noch hörten,
ordentlich nebeneinander auf ein weißes, quadratisches Tuch gelegt, Berge von
Haar. Er sah aber auch die den Leichen abgenommenen Gegenstände, einen Karton
voller Brillen, Geldbörsen, Schmuck, das Gold aus den Mündern. In seinem
Gesicht spiegelte sich ein mit Ekel gemischtes Erstaunen über die Auswirkungen
einer, wie er fand, belanglosen Fernsehnachricht, und ein Abglanz dieser
Spiegelung erschien in Christines Zügen.
"Was hast du?" fragte er.
Sie rollten unter der Glasüberdachung in das dämmrige Abendlicht. Er hatte den
Koffer auf den Boden, Christine die Tasche mit den nun unnötigen Dosen neben
sich auf den leeren Stuhl gestellt. Den Kapuzenmantel hatte sie anbehalten.
"Nichts", sagte sie.
"Du lügst. Ich sehe es dir doch an, daß du etwas hast."
Ihr Mund stieß Rauchwölkchen aus.
"Was soll das heißen, ich bin deine Komplizin?"
Sie drückte die Zigarette in den mit Stummeln gefüllten Aschenbecher, der
zwischen zwei durch Lippenstift beschmutzten Weingläsern stand. Berger
erstickte mit dem Zeigefinger die nicht erloschene Glut.
"Die Zigarette, bei deren Abtötung ich dir gerade behilflich war",
begann er und mußte sich eines Lachdrangs erwehren, der sein Weitersprechen behinderte,
"ist mit Geld bezahlt, das nicht uns gehört. Man kann sich allerdings
fragen, ob ein Dieb, der dafür sorgt, daß sich seine Beute in Rauch auflöst,
die kriminelle Handlung nicht ad absurdum führt."
"Du kommst dir wohl witzig vor", sagte Christine.
"Nein", erwiderte er völlig ernst. "Obwohl es so aussieht, als
könnte ich das Lachen kaum unterdrücken, ist mir nicht nach Lachen zumute.
Würde ich in Tränen ausbrechen, würdest du mir vorwerfen, daß ich mich selbst
bedaure. Das Lachen ist meine Rettung, verstehst du? Aber ich lache ja gar
nicht."
"Du hast also Geld geklaut?"
"Ja."
"Wieviel ?"
"Darauf kommt es nicht an. Die Umstände, unter denen es geschah, sind das
Entscheidende. Ich hatte nicht die Absicht zu klauen, so wie ich auch nicht die
Absicht hatte, mit dir zu verreisen."
"Aber du hast es doch vorgeschlagen."
"Das besagt nichts. Was ich sage, ist völlig bedeutungslos. Ich rede, um
meine Stimme zu hören. Doch ich gestehe, ich habe mich nicht zu reden getraut,
solange ich nicht sicher war, daß du mir, zumindest für eine gewisse Zeit,
nicht entkommen kannst. Ich habe gewartet, bis sich der Zug in Bewegung
setzte."
Christine lachte laut auf.
"Siehst du", rief Berger triumphierend dazwischen, "so ist das
mit dem Lachen. Du findest es komisch, daß du meine Gefangene bist."
"Ich kann doch aussteigen."
"Ja, aber erst, wenn wir halten."
Sie fuhren schon durch die Außenbezirke der Stadt. Ein Wolkenbruch peitschte
gegen die Scheiben. Christine griff nach der Zigarettenschachtel, zog aber die
Hand nach kurzem Zögern wieder zurück. Als der Kellner mit dem Bestellblock
kam, wandte sich Berger ihm mit übertriebener Freundlichkeit zu.
"Wir hätten gern zwei Tassen Kaffee, zwei Mineralwasser und zwei Stück
Apfelstrudel mit Schlag, wenn das möglich ist, und würden Sie uns netterweise
von den Hinterlassenschaften unserer Vorgänger befreien?"
Er blickte vorwurfsvoll auf die wie die Weingläser von Lippenstift roten
Stummel im Aschenbecher. Der Kellner erfüllte die Bitte so teilnahmslos, wie es
nur ging, indem er den Aschenbecher gegen einen sauberen vom Nebentisch
tauschte und die Gläser, die er geschickt zwischen drei Finger klemmte, sowie
die Weinflasche mit sich nahm.
"Ich möchte nichts essen", sagte Christine, als er gegangen war.
Berger, durch einen Knall, der klang wie ein Schuß, aufgestört, schaute zum
Fenster hinaus. Zufolge der von der Dämmerung draußen und der künstlichen
Innenbeleuchtung erzeugten Spiegelung sah er wie auf einem doppelt belichteten
Film vor den vorbeifliegenden Häusern und Gärten, die hinter dem von der
Scheibe fließenden Wasser verschwammen, sich selbst und erschrak. Er hatte
vergessen, daß er glatzköpfig war.
"Ich habe nicht nur gestohlen", sagte er so leise, daß es Christine
nicht richtig verstand.
Sie wischte sich eine Locke, die ins Gesicht gefallen war, aus der Stirn. Dann
stand sie auf, zog den Mantel aus und kramte, nachdem sie die Dosen auf den
Tisch gestellt hatte, ein geblümtes Necessaire aus der Umhängetasche.
"Ich komme gleich wieder."
"Wohin gehst du?"
"Aufs Klo, wenn du nichts dagegen hast."
An ihrem Hinterkopf hatte sich eine Spange gelockert. Das aufgesteckte Haar
verlor seinen Halt. Mit jedem Schritt rutschte es weiter nach unten. Die Frisur
drohte sich aufzulösen. Berger fühlte, wie sich sein Glied versteifte. Als
Christine aus seinem Blickfeld verschwunden war, hob er den Koffer auf den
Stuhl neben sich und öffnete ihn. Zuoberst lag zusammengefaltet die Bluse mit
Spitzenkragen, die sie in der Philosophievorlesung getragen hatte. Er schob die
Hand unter den Stoff und tastete einzeln die Knöpfe ab. Wenn sie wiederkommt,
dachte er, werde ich ihr meine Liebe erklären. Der Kellner brachte auf einem
Tablett den Kuchen und die Getränke. Berger klappte den Koffer zu und stellte
ihn an den Platz zurück, an dem er gestanden hatte. Als Christine frisch
geschminkt und mit geordnetem Haar von der Toilette kam, sagte er:
"Ich glaube, ich liebe dich."
Sie legte den Mantel von einem Stuhl auf den anderen, steckte das Necessaire in
die Tasche und setzte sich.
"Vor zwei Minuten", fuhr er fort, "habe ich es noch gewußt.
Jetzt bin ich mir nicht mehr sicher. Wenn ich sage, daß ich dich liebe, kann es
sein, daß du mir im nächsten Augenblick vollkommen gleichgültig bist. Schon der
Gedanke zerstört das Gefühl."
"Warum wolltest du mit mir ausgerechnet nach Salzburg fahren?" fragte
Christine und fügte, da er schwieg, heiter hinzu: "Aber sag bitte nicht,
es sei dir gerade so eingefallen, es hätte auch jede andere Stadt sein
können."
Sie nahm einen Schluck Kaffee und trennte mit der Gabel einen Bissen vom Kuchen
ab.
"Du ißt, obwohl du nichts essen wolltest", sagte Berger. "Ich
fahre nach Salzburg, weil ich dort etwas zu erledigen habe."
"Und dazu brauchst du mich?"
"Ja."
Er sah wieder zum Fenster hinaus. Hinter dem Spiegelbild seines Kahlkopfs
leuchteten kurz die roten Stühle der Bahnhofsgaststätte auf, in der er seinen
ersten Diebstahl begangen hatte. Den Blick in das da und dort von
vorbeihuschenden Lichtern durchbrochene Dunkel gerichtet, begann er, die Wörter,
so als fielen sie ihm im Moment, da er sie sagte, erst ein, monoton
aneinanderreihend, mit einer ihm fremden Stimme zu sprechen:
"Hätte ich das Feuerzeug liegenlassen, hätte ich die Zeitung nicht
angezündet. Wäre der Helikopter nicht über das Haus geflogen, hätte ich nicht
das Fenster geschlossen. Hätte ich dich nach der Vorlesung angesprochen, wäre
ich nicht nach Salzburg gefahren."
Christine legte die Gabel behutsam, damit kein Geräusch entstand, auf das
Tischtuch neben den Kuchenteller.
"Wäre ich nicht nach Salzburg gefahren... "
Berger ließ den Satz unvollendet. In Gedanken sah er Agnes im Todeskampf, ihre
vor Angst geweiteten Augen, den aufgerissenen Mund, das Loch des Schlundes
hinter dem Gaumenzäpfchen, dann das Erlöschen des Blicks, das Erschlaffen der
Züge.
"Woran denkst du?" fragte Christine.
Er sah sie an. Vor ihrem geschminkten Gesicht erschien, wie auf Glas gemalt,
das Gesicht der Getöteten.
"An nichts", sagte er.
"Du willst es nicht sagen."
"Ich kann es nicht. Der Gedanke, den ich hatte, als du mich fragtest, ist
nun schon Vergangenheit. Würde ich versuchen, mich an ihn zu erinnern, würde
ich ihn automatisch verfälschen. Trotz aller Bemühung, mich genau zu erinnern,
schlichen sich Fehler ein, weil ich zugleich schon an anderes dächte. Das Neue
würde sich mit dem Alten vermischen. Ich hätte den Gedanken aus eigenem Antrieb
sofort aussprechen müssen, obwohl auch dadurch die authentische Wiedergabe
nicht gewährleistet wäre, da die Sprache dem Gedachten nie wirklich gerecht
werden kann. Wir denken ja nicht in Worten, ganz abgesehen davon, daß die
Formulierung unserer Gedanken von dem, der uns zuhört, beeinflußt wird. Selbst
die äußerste Bereitschaft, mich dir rückhaltlos preiszugeben, würde mich nicht
davor bewahren, etwas wegzulassen oder hinzuzufügen. Ich würde lügen, obwohl
ich die Wahrheit sage."
Christine hatte sich eine Zigarette genommen und sie mit ihrem Feuerzeug
angezündet. Nun öffnete sie eine der Fanta-Dosen und goß den Inhalt in das für
das Mineralwasser vorgesehene Glas. Ihre Hand zitterte. Berger sah scheinbar
ungerührt zu, als sie das Glas so ungeschickt an die Lippen setzte, daß etwas
Flüssigkeit auf die Jeansjacke tropfte, die sie, passend zur Hose, trug.
Wieder, wie beim Betrachten ihres Gesichts, durchströmte ihn jenes Gefühl, das
er Liebe nannte. Doch war es nun mit dem Verlangen gepaart, ihr die Kleider vom
Leib zu reißen und sie zum Geschlechtsakt zu zwingen. Er wollte auf der Stelle
mit ihr vereinigt sein. Da das unter den gegebenen Umständen nicht möglich war,
nahm er aus dem Koffer die Bluse und drückte sie fest gegen Mund und Nase.
Christine hatte das Glas auf den Tisch gestellt und die Zigarette in die leere
Dose geworfen. Ihre Hand war jetzt ruhig.
"Wenn der Zug ein Gefängnis ist", sagte sie, "dann sind wir beide
Gefangene."
Berger sah sie entgeistert an. Statt die Bluse, um den Mund frei zu haben,
irgendwo abzulegen, drückte er sie noch fester an sein Gesicht. Bei
Druckverlust fallen von oben automatisch Sauerstoffmasken herab, dachte er
unwillkürlich. Dazu fielen ihm die einstudierten Bewegungen der Stewardeß ein,
die auf seinem bisher einzigen Flug die im Unglücksfall nötigen
Vorsichtsmaßnahmen erläutert hatte. Er war mit den Eltern nach Rom geflogen.
Obwohl er bei der Entscheidung über das Reiseziel mitgewirkt und sich schon
eine Reihe von Sehenswürdigkeiten zur Besichtigung vorgemerkt hatte, war er im
Flugzeug plötzlich von einer an Lebensüberdruß grenzenden Unlust befallen
worden. Während des ganzen Fluges hatte er auf den Absturz gewartet. So hatte
er sich durch Todessehnsucht von der Flugangst befreit.
"Willst du meine Bluse verspeisen?" fragte Christine.
Tatsächlich hatte sich das Kleidungsstück durch den Druck, mit dem er es an die
Lippen preßte, in seinen Mund geschoben. Es sah so aus, als wollte er sich
selbst damit knebeln.
"Du nimmst das jetzt aus dem Mund", sagte sie mit gedämpfter Stimme,
wobei sie sich etwas nach vorne beugte.
Aber er biß nur die Zähne zusammen. Da griff sie über den Tisch hinweg nach
seinem Arm. Die Berührung genügte. Bereitwillig übergab er ihr die vom Zubeißen
leicht beschädigte Bluse. Sie hielt sie an den Schultern mit beiden Händen wie
ein Beweisstück hoch. Die Reisenden an den anderen Tischen verstummten und
wandten die Köpfe. In diesem Augenblick betraten zwei Zollbeamte den
Speisewagen. Christine stopfte die Bluse in die Umhängetasche. Die Beamten
gingen von Tisch zu Tisch und kontrollierten die Reisepässe. Berger, der sie
für Polizisten hielt, dachte, daß man ihn nun verhaften würde. Als Christine
und er an der Reihe waren, begann er, während sie ihren Paß vorzeigte, alles,
was sich in seinen Taschen befand, auf den Tisch zu legen, den
Wohnungsschlüssel, den Hotelzimmerschlüssel, das gestohlene Geld, ein
gebrauchtes Taschentuch und seinen Studentenausweis, den er zufällig bei sich
trug.
"Ich bin der, den Sie suchen", sagte er. "Sie werden es mir
nicht glauben, aber ich danke Gott, daß das Versteckspiel ein Ende hat. Obwohl
ich versucht habe, mich der Verfolgung auf jede erdenkliche Art zu entziehen,
habe ich keine Sekunde gezweifelt, daß Sie mich finden werden. Es klingt
paradox. Ich bin mir, indem ich mich der Verfolgung entzog, des Gefühls, ein
Verfolgter zu sein, erst richtig bewußt geworden. Ich mußte es Ihnen so schwer
wie möglich machen, verstehen Sie?"
Er blickte in die Gesichter der Zollbeamten.
"Es gehörte zu meiner Rolle. Jetzt habe ich ausgespielt. Ich strecke die
Waffen. Ich liefere mich Ihnen aus. Ich warte auf Ihre Fragen."
"Sind Sie Student?" fragte der eine, offenbar höhergestellte Beamte.
"Ja", sprang Christine, da Berger schwieg, mit der Antwort ein.
"Wir besuchen eine Tante in Salzburg. Wir bleiben nur einen Tag."
Der Beamte wandte sich ihr mit einem schwer zu deutenden Lächeln zu. Sie löste
mit einer raschen Bewegung ihr Haar, so daß es über die Schultern fiel. Berger,
durch den Anblick verwirrt, sprach aus, was er dachte:
"Einerseits habe ich mich der Verfolgung entzogen, andererseits fahre ich
zum Tatort zurück. Es ist klar, daß ich mich dadurch verdächtig mache. Ich
wollte perfekt sein... " Er streckte die Hand nach Christine aus. "Du
hast mich um den Verstand gebracht."
Der Beamte sagte:
"Das
nächstemal, wenn Sie ins Ausland fahren, denken Sie daran, daß man dazu einen
Reisepaß braucht."
Christine erwiderte nun das Lächeln. Als die Zollbeamten zum nächsten Tisch
weitergingen, nahm sie die Scheine des gestohlenen Geldes und steckte sie in
eine Tasche des Mantels, der neben ihr über der Stuhllehne lag. Berger stand
auf und verließ, immer darauf gefaßt, daß sich eine Hand von hinten auf seine
Schulter legte, den Speisewagen. Mit der Absicht, über das Geschehene
nachzudenken, schloß er sich in der Toilette ein. Doch das einzige, was er
dachte, war, daß ihm, selbst unter Berücksichtigung eventueller
Verdauungsbeschwerden, nur begrenzte Zeit zur Verfügung stand. Christine würde
sich, wenn er nicht wiederkäme, nach ihm auf die Suche machen. Man würde
klopfen, ihn auffordern zu öffnen, schließlich den Schaffner holen und
womöglich die Tür aufbrechen. Um sich zumindest den Anschein zu geben, als
halte er sich zu einem dem Ort entsprechenden Zweck auf der Toilette auf, ließ
er die Hose herunter und setzte sich auf das Becken.
Seine Blase entleerte sich. Nachdem sich das Aufsuchen des Klosetts zu seiner
Überraschung als begründet erwiesen hatte, hoffte er, daß sich zur
Rechtfertigung seines weiteren Verbleibs auch Stuhlgang einstellen würde. Doch
es kamen nur Fürze. Wäre er eine Frau, dachte er, könnte er den Aufenthalt
durch das Auswechseln des Tampons, das Ordnen des Haars oder das Auflegen frischen
Make-ups in die Länge ziehen. Er beugte sich vor, stützte den rechten Arm auf
das linke Knie und den Kopf auf den Rücken der leicht angewinkelten Hand. Sein
abwesender Blick war auf den von eingetrocknetem Urin fleckigen Boden
gerichtet. So, in der Pose des "Denkers", den er von Abbildungen
kannte, sah er sich sitzen. Er sah seinen zur Skulptur versteinerten Körper,
der mit der Kloschüssel verschmolz. Er fühlte sich frei in der Erstarrung. Er
hatte die Zeit besiegt. Der Zug trug ihn fort. Er erlebte einen Augenblick
Ewigkeit. Als jemand von außen den Türklinke niederdrückte, rief er:
"Sofort! "
Dann erhob er sich, zog ohne Eile die Hose hoch und betätigte mit dem Fuß den
Hebel der Spülung. Um die Vortäuschung der Darmentleerung glaubwürdig
abzuschließen, wusch er sich noch die Hände. Sich im Spiegel betrachtend,
setzte er eine entschlossene Miene auf. Als er die Tür öffnete, schlüpfte ein
blondlockiges Mädchen unter seinem Arm in den Toilettenraum. Im Nu hatte es
sein Höschen heruntergezogen und sich auf die Brille geschwungen. Das zartrosa
Kleidchen, über dem es eine mit Spitzen umrandete Schürze trug, bedeckte
fächerförmig die Schenkel. Die Beine reichten nicht ganz bis zum Boden. An den
Kniestrümpfen hingen wollene Quasten. Die puppenhaft kleinen Füße steckten in
roten Sandalen. Berger drehte sich um und blickte für den Bruchteil einer
Sekunde in das vor Stolz strahlende Kindergesicht. Dann schloß er die Tür
hinter sich. Im Speisewagen wußte er nicht mehr, ob er das Mädchen wirklich
gesehen oder eine Vision gehabt hatte.
"Wir sind gleich da", sagte Christine. "Ich dachte schon, du
bist aus dem Zug gesprungen."
Sie hatte das restliche Geld, die Schlüssel, das Taschentuch und den Ausweis an
sich genommen. Den Koffer hatte sie zu sich herüber getragen und unter den
Tisch gestellt. Ihren Kuchen hatte sie, obwohl sie nicht hungrig war,
aufgegessen und die Limonade und den Kaffee, obwohl er erkaltet war,
ausgetrunken.
"Hältst du es für möglich", fragte Berger, "daß man etwas, das
man im Grunde fürchtet, durch die Behauptung, man wünsche es sehnlichst herbei,
abwenden kann?" Er sprach so laut, daß es ihr peinlich war. "Glaubst
du, daß das Eintreffen des Befürchteten, indem man so tut, als erhoffe man es,
zu verhindern ist?"
"Das hängt davon ab, ob die Befürchtung begründet ist", erwiderte
sie, um ihn zu beruhigen.
Er stutzte einen Moment. Dann sagte er lachend: "Das Eintreffen einer
unbegründeten Befürchtung braucht man ja nicht zu verhindern."
Sie rief nach dem Kellner. Als sie die Rechnung verlangte, machte Berger eine
abwehrende Geste und griff, um das Bezahlen zu übernehmen, in seine
Hosentasche. Da sie leer war, suchte er auch in den anderen Taschen. Inzwischen
hatte Christine einen Geldschein hervorgezogen und auf den Tisch gelegt.
Erleichtert, mit welcher Selbstverständlichkeit sie ihm aus der Verlegenheit
half, interessierte es ihn nicht weiter, wie er in diese geraten war. Der
Kellner gab auf den Schein heraus. Christine schob ihm einige Münzen zu, die
er, sich flüchtig bedankend, in seine Geldtasche steckte. Der Zug hatte die
Grenze passiert. Berger, der den ganzen Tag bis auf die Kartoffelchips und die
Salzstangen aus der Minibar nichts gegessen hatte, nahm seinen noch unberührten
Apfelkuchen vom Teller und schlang ihn, das Kauen auf ein Minimum reduzierend,
in sich hinein. Dann goß er noch den Kaffee hinunter. Durch das Fenster konnte
er die von Scheinwerfern beleuchtete Burg auf dem Mönchsberg sehen.
"Die Wirklichkeit ist im Kopf", sagte er.
Der Zug wurde langsamer.
"Ich weiß nicht, warum mir gerade jetzt dieser Satz einfällt."
Er wartete, bis Christine ihm in die Augen sah.
"Passiert es dir auch manchmal, daß du einen Gedanken hast, dessen
Entstehung dir, so sehr du auch grübelst, ein Rätsel bleibt? Du erinnerst dich
an den Gedanken davor. Aber du findest keinen Zusammenhang. Zwischen den beiden
Gedanken klafft eine Lücke. Das Verbindungsglied fehlt. Du weißt, daß es eine
Verbindung gibt. Dein Gehirn hat sie hergestellt. In deinem Kopf ist sie
gespeichert. Aber du besitzt keinen Schlüssel zu diesem Speicher. Du bist dir
fremd. Ohnmächtig schaust du zu, was durch dich selbst mir dir geschieht."
Sie fuhren schon in den Bahnhof ein. Christine packte die Zigaretten, das
Feuerzeug und die volle Getränkedose in ihre Reisetasche. Den Koffer stellte
sie, nachdem sie aufgestanden war, auf den Stuhl. Den Mantel über dem Arm, die
Tasche über der Schulter, schickte sie sich an auszusteigen. Hätte sich Berger
nicht verpflichtet gefühlt, ihr den Koffer, den sie auf dem Stuhl stehenließ,
nachzutragen, wäre er weitergefahren. Auf dem Bahnsteig zwang ihn ein
Schwächeanfall, den Koffer abzustellen. Ein unerklärliches Verlangen, barfuß zu
gehen, erfaßte ihn. Mit aller Willenskraft, die der Einsicht entsprang, daß ein
Mensch, der sich im Getümmel eines Großstadtbahnhofs seiner Schuhe und Socken
entledigte, für verrückt erklärt würde, kämpfte er dagegen an.
-----------------
Erschienen im Rospo-Verlag, Hamburg, 1998