Simering III



Die Wohnung nahm er in Besitz, indem er die Toilette benutzte. Dann setzte er sich auf die Schaumstoffmatratze, drehte den Fernseher an und gleich wieder aus, entkleidete sich und nahm ein Bad. Im heißen Wasser brannten die Wunden. Leben ist Schmerz, dachte er. Doch schienen ihm die zwei, drei Abschürfungen, die er an sich entdeckte, dem Satz nicht angemessen. Eine plötzliche Erinnerung veranlaßte ihn, aus der Wanne zu steigen und, eine Wasserspur hinterlassend, ins Zimmer zu gehen, wo er die Lederjacke durchsuchte, bis er den Schlüssel fand, den er in jenem Gasthof entwendet hatte, aus dem er, ohne genächtigt zu haben, geflohen war. Wie eine Erleuchtung durchzuckte ihn die Erkenntnis, daß ihn die Angst vor dem Denken zur Flucht getrieben hatte. Er hatte befürchtet, er würde, wenn er sich hinlegte, nicht einschlafen können. Das Wachsein im Liegen hätte er nicht ertragen.

Auf dem Parkettboden bildete sich eine Wasserlache. Aus Freude darüber, daß ihm niemand etwas verbieten konnte, fügte Berger einen Spritzer Urin dazu. Den Schlüssel legte auf den Stuhl, auf dem der Fernseher stand. Dann trocknete er sich notdürftig ab, zog ein frisch gewaschenes T-Shirt an und ließ sich auf die Matratze fallen. Im nächsten Augenblick war er eingeschlafen. Seine Kraft hatte gerade noch ausgereicht, um sich klarzumachen, daß nicht nur das Verlassen des Gasthofs, sondern seine ganze, scheinbar harmlose Reise eine Flucht vor dem Denken gewesen war. Am Morgen fand er sich auf dem Boden liegend. Die Glieder schmerzten. Er kroch auf die Matratze zurück. Da der Schmerz durch einen Sturz aus zwanzig Zentimeter Höhe nicht zu erklären war, mußte er seinen Geist anstrengen. Die Augen hatte er auf das Stück Himmel gerichtet, das er durch die obere Hälfte des Fensters sah.

Zwei Schritte von der Matratze entfernt liegt meine Hose, sagte er sich, daneben mein zerrissenes Hemd. Es ist nicht nötig, das nachzuprüfen. In der Mitte des Zimmers müßte man den Rest einer Pfütze sehen. Unter dem Fenster stehen die Bücher, davor die zwei Koffer. Wo steht das Telefon? Am ersten Tag wäre er fast über die Schnur gestolpert. Das gestohlene Geld, entsann er sich, steckte noch in der Lederjacke. Er hatte dem Taxifahrer nicht nur den doppelten Fahrpreis bezahlen, sondern den gesamten Betrag, den er besaß, schenken wollen. Wenn der Mann lebt, dachte er, wird man mich leichter finden. Vielleicht hat das fehlende Namensschild den Verdacht des Hausverwalters erregt. Agnes ist bestimmt tot. Er erinnerte sich an nichts als den Namen. War es ein Unfall? In der Presse wird sicher darüber berichtet werden. Auf dem Stuhl müßte der Schlüssel liegen. Er befahl sich, nicht hinzusehen. Dann tat er es doch.

Auch hinsichtlich der Hose, der Pfütze, der Bücher und so fort überzeugte er sich, daß seine Vermutungen richtig waren. Das Telefon stand in der Ecke neben der Tür. Mühsam erhob er sich und nahm, obwohl er wußte, daß es tot war, den Hörer ab. Nachdem er ihn eine Weile so, als lauschte er einer fernen Stimme, ans Ohr gedrückt hatte, ging er in die Küche, um sich Kaffee zu kochen. Beim Anblick des Marmeladebrots, von dem er vor seiner Abreise einige Bissen gegessen hatte, dachte er, ein Fremder sei in der Wohnung gewesen. Zwar verwarf er den Gedanken sofort, konnte ihn aber nicht rückgängig machen. Statt Wasser für den Kaffee aufzusetzen, kehrte er ins Zimmer zurück und legte sich wieder hin. Auf dem Fernsehschirm sah er die Wand hinter ihm, die sich spiegelte. Warum nicht liegen bleiben? fragte er sich. Nach allem, was geschehen war, erschien es ihm wenig sinnvoll, sein Studium fortzusetzen.

So wie er früher gewartet hatte, daß ihn die Mutter zum Frühstück rief, so wollte er nun auf seine Verhaftung warten. Die Leiche, dachte er, hat man bestimmt schon entdeckt. Ein Auto mit offener Tür auf einem Waldweg fällt auf. Er konzentrierte sich in Gedanken auf dieses Bild. Der Oberkörper der Frau hatte sich zur Seite und dann in einer Kreisbewegung über das Lenkrad geneigt. Berger hatte sich, als er zur Straße lief, noch einmal umgedreht und die Bewegung durch das Heckfenster gesehen. Da er sich an die Tat nicht erinnern konnte, versuchte er, sich die Ereignisse davor ins Gedächtnis zu rufen. Er war bei seinem Vetter Robert gewesen. Den Blick vom Musikzimmer auf das nächtliche Salzburg hatte er sich noch eingeprägt. Auch das Klavier und die Möbel sah er im Geiste vor sich. Doch es fehlten die Menschen. Er befand sich allein in der fremden Wohnung. Zwischen der Erinnerung und dem, was die Logik ergab, klaffte ein Widerspruch. Denn allein konnte er nicht gewesen sein. Wie wäre er in die Wohnung hineingekommen? Von seinem Gedächtnis im Stich gelassen, mußte er seinen Verstand gebrauchen. Vielleicht hatte er sich in der Wohnung des Vetters allein gefühlt. Aber weshalb? Als er beginnen wollte, darüber nachzudenken, klingelte es. Er fuhr erschreckt hoch. Sein Blick fiel auf den entwendeten Zimmerschlüssel. Er nahm ihn vom Stuhl und versteckte ihn unter der Schaumstoffmatratze. Dann schlich er auf Zehenspitzen zur Tür und sah durch den Spion in den Flur. Es stand niemand draußen. Obwohl er nur mit einem T-Shirt bekleidet war, öffnete er. Im selben Moment trat aus der Nachbarwohnung eine Frau in einem geblümten Morgenmantel mit einem Paket in der Hand.

"Ich wußte doch, daß Sie zu Hause sind", sagte sie und streckte ihm das Paket entgegen. "Das hat der Postbote bei mir für Sie abgegeben."

Der Gürtel des Morgenmantels lockerte sich. Berger hielt den Rand des seine Blöße nur knapp bedeckenden T-Shirts fest.

"Sie heißen doch Berger?" fragte die Frau.

"Nein", sagte er, denn um das Paket in Empfang zu nehmen, hätte er die Arme heben und das T-Shirt loslassen müssen.

Mit einem Lächeln, das ausdrücken sollte, daß er in seinem Aufzug kein Gespräch führen könne, zog er sich, wobei er die Frau nicht aus den Augen ließ, in seine Wohnung zurück. Der Gürtel ihres Mantels hatte sich so weit gelöst, daß er in einem schmalen Spalt die Mulde zwischen den Brüsten und ein Stück ihres Schamhaars sah. Als er sich wieder hingelegt hatte, dachte er, wie gut, daß an der Tür kein Name mehr steht. Er wußte nun, was in Salzburg geschehen war. Robert hatte ihn für seinen zukünftigen Schwager gehalten. Agnes hatte die Verwechslung nicht aufgeklärt. Deshalb hatte er sie getötet. Gedankenverloren fingerte er an seinem Glied, so daß eine Erektion entstand. In seiner Phantasie öffnete sich der Morgenmantel der Nachbarin. Er brauchte sie nur über die Schwelle zu drängen. Nachdem er sich ohne viel Mühe befriedigt hatte, sank er in einen kurzen Schlaf.

Als er erwachte, verspürte er solchen Hunger, daß er in der Küche nach etwas Eßbarem suchte. Ein Ekelgefühl unterdrückend, aß er das Marmeladebrot auf. Er stellte sich vor, Fliegen hätten darauf ihren Kot hinterlassen. Ihm wurde übel. Er lief ins Bad, wo er jedoch, statt sich zu übergeben, seine Notdurft verrichtete. Um sich von dem an seiner Haut eingetrockneten Sperma zu säubern, stieg er in die noch mit Wasser gefüllte Badewanne und duschte sich ab. Dann putzte er sich die Zähne. Danach rasierte er sich. Die dabei erzeugten Geräusche weckten in ihm die Lust, sich unter die Menschen zu mischen. Da er sich nun als Mörder fühlte, reizte es ihn, gleichsam unerkannt die Plätze, an denen er vor seiner Reise gewesen war, wieder aufzusuchen. Die Wohnung ließ er wie einen Ort, an dem zwecks Spurensicherung nichts berührt werden darf, unaufgeräumt.

Schon im Omnibus empfand er jene befreiende Gleichgültigkeit, die es ermöglicht, die Menschen mit Sympathie zu betrachten. Im geschminkten Gesicht einer älteren Frau erkannte er die Sehnsucht der Einsamen, hinter ihren Masken entdeckt zu werden. Ein junger Arbeiter, an dessen Händen noch Farbe klebte, ließ ihn an das Glück der Genügsamen denken. Von einem Kind, das stolz zu ihm aufsah, weil es einen Sitzplatz erobert hatte, fühlte er sich durchschaut. Wie alt mag es sein? fragte er sich. Weiß es, was Tod bedeutet? Kennt es den Unterschied zwischen Verbrechen und Abenteuer? Er hatte nur wenige Erinnerungen an seine Kindheit. Die Neugier, dachte er, unterscheidet nicht zwischen dem Guten und Bösen. Nur ein einziges Mal hatte ihn der Vater geschlagen, weil er in einer hinter Büchern verborgenen Schachtel die Liebesbriefe an die Mutter gefunden hatte.

Die Wörter Schmerz und Strafe hatte er nicht in Verbindung gebracht. An Gerechtigkeit hatte er nie geglaubt. Auf seine Verhaftung freute er sich, weil er etwas über sich zu erfahren hoffte. Wie schon nach seinem Diebstahl hatte er, als er auf der Matratze lag, mit dem Gedanken gespielt, sich zu stellen. Doch dann war ihm eingefallen, daß er die Tat nicht beweisen konnte. Der Zimmerschlüssel, den er wie einen Talisman bei sich trug, bewies nur, daß er in einem bestimmten Gasthof gewesen war. Das viele Geld machte ihn zwar verdächtig, aber was hatte es mit dem Mord tun? Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich in Geduld zu fassen. Das Warten konnte Monate oder gar Jahre dauern. Kein Ereignis würde das Verbrechen je in den Schatten stellen. Nur der Tod, dachte er plötzlich. Gleichzeitig merkte er, daß er auszusteigen vergessen hatte.

Die zu weit gefahrenen Stationen ging er zu Fuß zurück. Auf der ihm schon vom Hörensagen bekannten Leopoldstraße pulsierte das Leben. Er fiel in eine melancholische Stimmung. Jedes Haus, jedes Geschäft, jeden Stuhl eines Straßencafés sah er als etwas an, das ihn überdauern würde. Wie viele Tote haben in diesen Häusern gewohnt, in diesen Geschäften eingekauft, auf diesen Stühlen gesessen, dachte er, wie viele erloschene Augenpaare darauf geruht? Vor ihm ging ein Mädchen, das er aus einem unbewußten Grund nicht überholen wollte. Es trug ein hinten geknöpftes Kleid aus leichtem Stoff. Das Haar reichte fast bis zur Rückenmitte. Als es am Siegestor zur Kunstakademie um die Ecke bog, tat er es auch. Vor der geschwungenen Auffahrt zum Haupteingang blieb es stehen und drehte sich um. Berger errötete. Daß es die Studentin war, hinter der er in der Philosophievorlesung gesessen hatte, bemerkte er nicht.

"Ich bin verabredet", sagte sie. "Aber komm um zwölf zu der Bank, wo wir uns letztens getroffen haben."

Da sie einige Meter entfernt von ihm stand, bildete er sich ein, nicht richtig gehört zu haben. Warum sprach sie ihn wie einen Bekannten an? Welche Bank meinte sie? Bevor er etwas erwidern konnte, war sie die Auffahrt hinaufgegangen. Eine Windbö drückte das Kleid an den Körper. Das Haar teilte sich über dem Nacken. Berger wußte nicht mehr, was er vorgehabt hatte. Um sich den Anschein zu geben, ein Ziel zu haben, ging er auf der Ludwigstraße, an der Universität vorbei, zur Theatinerkirche. Durch die Arkaden auf der anderen Straßenseite erkannte er den Hofgarten wieder. Es war halb elf. Da es zu tröpfeln begann, trat er in einen Friseursalon. Ihm wurde ein Platz angewiesen. Als er sich im Spiegel erblickte, fiel ihm ein Kriminalfilm ein, in dem sich Humphrey Bogart einer Gesichtsoperation unterzieht, um nicht gefaßt zu werden.

"Welchen Haarschnitt wünscht der Herr?" sagte hinter ihm eine Stimme, die zu einem Wesen gehörte, das auf Anhieb geschlechtlich nicht definierbar war.

"Ich möchte so aussehen wie Sie", sagte Berger.

Der junge Mensch überlegte kurz und begann mit der Arbeit. Während Berger die Handgriffe an seinem Kopf im Spiegel verfolgte, erinnerte er sich an die erste Begegnung mit der Studentin, an den Park und den Mann auf der Bank, der besitzergreifend, wie ihm schien, den Arm um ihren Hals gelegt hatte. Dabei machte er die Erfahrung, daß die Berührungen, die mit dem Haareschneiden verbunden waren, das Nachdenken förderten. Auch gewisser Einzelheiten, an die sich zu erinnern er nicht für nötig hielt, etwa der schwarzen Quadrate in dem karierten Heft, entsann er sich.

"Sind Sie gestürzt?" fragte der Friseur, der auf eine Kopfwunde, über der sich eine Kruste gebildet hatte, gestoßen war.

"Man müßte eine Maschine erfinden", erwiderte Berger, "die einem, während man nachdenkt, durch das Haar fährt wie eine Frau, eine Streichelmaschine gewissermaßen. Wahrscheinlich werden die Gehirnzellen durch Zärtlichkeit stimuliert, sofern sie sich auf den Kopf beschränkt."

Er mußte über einen Gedanken, den er nicht aussprach, lachen.

"Die Wunde", fuhr er fort, "stammt von einem Autounfall, oder genauer von einem Unfall mit einem Taxi. Ich besitze kein Auto. Ich habe noch nicht einmal einen Führerschein. Der Taxifahrer wurde aus dem Wagen geschleudert. Ich nehme an, er ist tot. Mir ist, wie Sie sehen, nicht viel passiert. Ich bin, wie man so sagt, mit dem Schrecken davongekommen. Dabei war ich gar nicht erschrocken, sondern bin zur nächsten Tankstelle gegangen, um die Polizei zu verständigen. Dann kam es mir aber, da ich kurz zuvor eine Frau umgebracht hatte, vernünftiger vor, in einen Mercedes zu steigen, der herrenlos an einer Zapfsäule stand, und die Fahrt fortzusetzen."

"Ich mache es Ihnen so, daß man nichts sieht", sagte der Friseur in den Spiegel.

Berger, der, von sich selbst überrascht, vor Einfällen sprühte, konnte kaum seinen Kopf ruhig halten.

"Das Haareschneiden ist eine Kunst!" rief er aus. "Letzten Endes ist alles, was wir tun, Kunst. Wir gehen, aber eigentlich tanzen wir. Wir sprechen, dabei sagen wir dauernd Gedichte auf. Unser Leben ist ein Theaterstück. Wozu es aufschreiben, frage ich Sie. Sie schneiden mir eine Naturlocke ab, eine Kunstlocke, und lassen sie auf den Boden fallen, verstehen Sie? Alles abschneiden, alles weglassen, das ist die Lösung. Machen Sie mir eine Kurzhaarschnitt! Schneiden Sie alles ab! Rasieren Sie mir eine Glatze! Kahlgeschoren verlasse ich Ihre Kunstwerkstatt. Eine Person, die sich vor zehn Minuten mit mir verabredet hat, wird an mir vorübergehen, als wäre ich unsichtbar."

Der Friseur, der es gewohnt war, seinen Gesichtsausdruck unter Kontrolle zu halten, versuchte zu lächeln.

"Mein Kopf ist es ja nicht", murmelte er und schnitt, sich überwindend, ein Büschel Haare ab.

Berger sah seiner Verunstaltung mit einem Gefühl der Begeisterung zu.

"Ich übernehme jede Verantwortung", rief er. "Haben Sie keine Hemmungen! Seien Sie rücksichtslos! Man soll die Wunde ruhig sehen."

Seine Unruhe übertrug sich auf die anderen Kunden, die, da sie still sitzen mußten, ihre Neugier nicht befriedigen konnten. Er dachte an nichts. Seine Erregung erreichte den Höhepunkt, als das letzte Büschel auf den Umhang um seine Schultern fiel und den Kopf nur noch Stoppeln von ungleicher Länge bedeckten, so daß die Stellen, an denen die Haut durchschien, hell, andere dunkler waren. Danach versank er in Apathie. In seinem Kopf wiederholten sich so wie auf einer alten Schallplatte, auf der die Nadel hängt, ein Stück Melodie immer wiederkehrt, die Worte: aufhören, das ist das Ende, das Ende, das Ende. Als der Friseur den Umhang entfernte und ihm mit Hilfe eines Handspiegels die Begutachtung der seitlichen Kopfpartien und des Hinterkopfes ermöglichte, reagierte er nicht. Der Kahlschädel, den er im Spiegel sah, erinnerte ihn an Babypuppen, die mit geschlossenen Lippen sprechen, wenn ihnen ein Kind seine Stimme leiht.

"Zufrieden?" fragte der Friseur mit einem leicht spöttischen Unterton.

Du mußt aufstehen, dachte Berger, aufstehen, aufstehen. Er ging zur Kasse. Als er das gestohlene Geld in der Tasche spürte, gewann er seine Fassung zurück. Auf der Straße war er sofort von Blicken umzingelt. In gemessenem Tempo schritt er über den Platz vor der Feldherrenhalle auf den Hofgarten zu. Obwohl es zu regnen aufgehört hatte, waren die Schirme noch aufgespannt. Die Parkbänke waren naß. Berger nahm aus einem Abfallkorb eine gelesene Zeitung und breitete sie auf einer der Bänke aus. Dann setzte er sich. Nun fiel er auf doppelte Weise auf, da außer ihm niemand saß. Als die Studentin kam, sah sie, da er sich vorgebeugt hatte, nur seine Glatze. Unschlüssig blieb sie in einem von gestutzten Hecken gebildeten Durchgang stehen. Plötzlich brach sie in lautes Gelächter aus. Berger blickte auf und erkannte sie. Zur Begrüßung erhob er sich.

"Was hast du dir dabei gedacht?" fragte sie.

"Nichts", erwiderte er. "Das ist gerade das Seltsame. Ich habe mir nichts gedacht. Zuerst bin ich einfach nur losgegangen. Als es zu regnen begann, habe ich mich untergestellt. Zufällig befand sich wenige Schritte entfernt ein Friseursalon. Es hätte genausogut ein Juweliergeschäft oder ein Restaurant sein können. In einem Restaurant hätte ich, obwohl ich nicht hungrig war, etwas zu mir genommen. In einem Juweliergeschäft hätte ich dir einen Ring gekauft."

"Warum einen Ring und kein Armband?"

"Gute Frage."

Sie waren, ohne es zu merken, aus dem Park hinaus in Richtung Englischer Garten gegangen.

"Wie heißt du überhaupt?"

"Gustav, und du?"

"Christine. "

"Schöner Name."

Berger grübelte immer noch über ihre Frage, warum er einen Ring und kein Armband gekauft hätte, nach.

"Warum eine Glatze?" fragte er nun sich selbst. "Obwohl gedankenlos, muß ich gesprochen haben. Aber das geht doch nicht."

"Doch, das geht", widersprach sie ihm.

Ihre Heiterkeit äußerte sich in der Andeutung eines kindlichen Hüpfens.

"Warst du schon in der Max-Ernst-Ausstellung?"

Seine Miene hellte sich auf.

"Kunst!" rief er. "Mit dem Wort ,Kunst' hat es angefangen."

"Was hat angefangen?"

"Meine Gedankenlosigkeit."

Sie nahm seine Hand.

"Ich dachte, du bist schon gedankenlos in den Laden hineingegangen."

"Ja, aber dann... "

Er blieb abrupt stehen, so daß seine Hand sich aus ihrer löste.

"Ich muß nach Hause", sagte er, drehte sich um und ging zur U-Bahn-Station.

Als Erklärung für die auf dem Bahnsteig und noch stärker im Zug auf ihn gerichteten Blicke fiel ihm nicht seine Glatze, sondern das Verbrechen in Salzburg ein. Erst sein Spiegelbild auf der Glasscheibe der Tür, vor der er stand, beruhigte ihn. Unkenntlich, dachte er, unauffindbar. Am Max-Weber-Platz stieg er aus und warf den Schlüssel aus dem Gasthof in einen Gully. Zu Hause steckte er die Lederjacke, die Blue jeans, das zerrissene Hemd und die Schuhe, die er auf der Reise getragen hatte, in zwei unauffällige Plastikbeutel und schaffte sie zu den Mülltonnen eines Wohnblocks, der einige hundert Meter entfernt von dem seinen lag. Aus einer Telefonzelle rief er das Hotel "Vier Jahreszeiten", von dem er schon gehört hatte, an und fragte:

"Haben Sie für drei Tage ein ruhiges Zimmer frei?"

Als bejaht wurde, sagte er:

"Mein Name ist Haller, Heinrich, Anton, Ludwig, Ludwig, Emil, Richard. Ich komme noch heute nachmittag."

Auf dem Weg zurück begegnete er der Nachbarin, die ihn ungläubig musterte. In der Wohnung begann er sofort mit dem Packen. Viel nahm er nicht mit, einige Kleidungsstücke, das Waschzeug und zwei Bücher, die er besonders liebte. Zum Jackett band er sich eine Krawatte um. Vor dem Aufzugspiegel registrierte er mit Befriedigung, daß er durch die Krawatte seriös und durch die Glatze um Jahre älter wirkte. An der Einsteinstraße winkte er ein Taxi herbei. Es wurde von einer Frau gelenkt. Er hob den nur halbvollen Koffer mit einem Schwung in den Kofferraum, den sie geöffnet hatte.

"Hotel 'Vier Jahreszeiten'", sagte er. "Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich hinten sitze?"

Er setzte sich in den Fond.

"Ich frage nur, weil Sie eine Frau sind. Einen Mann hätte ich nicht gefragt. Als Frau fühlen Sie sich vielleicht bedroht, obwohl auf einer so kurzen Strecke, noch dazu mitten in der Stadt, nicht viel passieren kann. Ich müßte Ihnen eine Waffe so, daß man es von draußen nicht sieht, in die Seite drücken und Ihnen befehlen, aus der Stadt hinaus auf einen Feldweg zu fahren. Erst dort könnte ich meinen Plan in die Tat umsetzen. Aber wahrscheinlich käme ich gar nicht so weit, weil Sie an der ersten roten Ampel die Tür aufstoßen und hinausspringen würden. Fahren Sie auch in der Nacht? Nachts würde ich mich natürlich nach vorne setzen. Ich würde auf Ihre Angst Rücksicht nehmen, obwohl ich es hasse, neben einer mir fremden Person zu sitzen..."

Eine plötzliches Abbiegen ließ ihn kurz innnehalten.

"Die Menschen haben das Gefühl für Distanz verloren", fuhr er fort. "Tiere rücken nur bei Gefahr zusammen. Der Löwe erkämpft sich sein Territorium und verteidigt es wie sein Leben. Der Wunsch nach Nähe ist eine Verfallserscheinung."

Sie waren angekommen. Die Fahrerin stieg aus, um den Koffer zu holen. Ein Hotelpage öffnete Berger die Wagentür. Er bezahlte und ließ sich von dem Pagen, der den Koffer trug, in die Halle führen. An der Rezeption wurde er wie ein Stammgast empfangen.

"Haben Sie reserviert?"

"Ja, auf den Namen Haller, ein Einzelzimmer."

Einen Ausweis mußte er nicht vorzeigen. In das Meldeformular trug er die Adresse seines Schulfreundes ein. Auf dem Zimmer zählte er das Geld, das er noch übrig hatte. Es erlaubte ihm über mehrere Wochen ein sorgloses Leben. Nachdem er ausgepackt, das Bad besichtigt und mit der Fernbedienung einmal zur Probe durch alle Fernsehprogramme geschaltet hatte, stellte er sich endlich die Frage, warum er sich seiner Verhaftung, auf die er sich, wie er geglaubt hatte, freute, zu entziehen versuchte. Zum Nachdenken legte er sich auf das Bett. Ihm fiel der Zwischenfall mit der Nachbarin ein, das Paket, der androgyne Friseur, Christines schallendes Lachen. Den Grund für seine Sinnesänderung fand er nicht. Da er nach den Erfahrungen der letzten Tage kein Vertrauen mehr in sein Denken hatte, gab er es auf und aß die Kartoffelchips aus der Minibar, dann die Salzstangen. Dazu trank er Sekt.

Durch die Wirkung des Alkohols kehrte sein Gleichmut wieder und die Lust, seinen Impulsen zu folgen. Leicht berauscht verließ er das Zimmer und schritt auf der weichen Auslegeware zum Lift, wo er einer Dame den Vortritt ließ. Das Lächeln, hinter dem sie ihr Erschrecken über seine Glatzköpfigkeit zu verbergen suchte, verschaffte ihm ein Gefühl des Triumphs, das er verlängern wollte, indem er sich in die Halle setzte. Da kein Kellner zu sehen war, ging er zur Rezeption und fragte:

"Wäre es möglich, mir ein Glas Whisky zu bringen?"

"Pur oder mit Soda?"

"Pur", sagte er, als spreche er einen Rollentext.

Die Dame aus dem Lift war von zwei Männern erwartet worden, die sie in ihre Mitte nahmen und lachend ins Freie schoben. An der Glastür, die den vorderen Teil der Halle vom Hauptteil trennte, drehte sie sich noch einmal um. Berger bereute es, etwas bestellt zu haben. Im selben Moment merkte er, daß sich ein Jüngling in einem Alter, in dem er selbst ein so teures Hotel nur in Begleitung der Eltern betreten hätte, von der kleinen Treppe, die zu den Aufzügen führte, seinem Tisch näherte. Die äußere Erscheinung wies ihn als jemanden aus, der in Kreisen verkehrte, in denen Geld keine Rolle spielte.

"Sie gestatten?" fragte er so leise, daß niemand außer Berger es hören konnte.

Zögernd, da dieser nicht antwortete, setzte er sich an die Schmalseite des Tisches und sagte, nun beinahe flüsternd:

"Wenden Sie mir Ihr Gesicht nicht zu. Ich habe Sie beobachtet. Wenn Sie mit dem rechten Zeigefinger auf die Tischplatte klopfen, stehe ich auf und entferne mich."

Der Kellner brachte auf einem Tablett das Glas Whisky.

"Ich möchte gleich zahlen", sagte Berger, nahm das Glas und legte einen Geldschein auf das Tablett. Die Rechnung und das Wechselgeld ließ er liegen.

Der Jüngling steckte einen gefalteten Zettel unter den Aschenbecher.

"Ich gehe jetzt", flüsterte er. "Aber Sie bleiben sitzen. Man darf uns nicht zusammen hinauffahren sehen. Trinken Sie Ihren Whisky und kommen Sie in ungefähr zehn Minuten. Die Tür wird einen Spalt offen sein."

Erst als er in einem der Lifte verschwunden war, entfaltete Berger den Zettel, auf dem eine Nummer stand. Daß es die Nummer des Zimmers war, in das er kommen sollte, erriet er sofort. Aber wer wartete dort auf ihn? Wollte man ihm eine Falle stellen? Fluchtgedanken schossen ihm durch den Kopf. Er überlegte, ob er das Hotel wechseln, eine Perücke kaufen und sich als Mädchen verkleiden sollte. Vom Whisky trank er nur einen Schluck. Dann lief er, da gerade kein Aufzug kam, die fünf Stockwerke zu seinem Zimmer hinauf und rief die Telefonauskunft an.

"Ich brauche eine Nummer in Salzburg. Der Teilnehmer heißt Hahn, Vorname Robert."

Neben dem Telefon lagen ein Block und ein Bleistift. Berger kritzelte, während er wartete, eine Blume auf das Papier. Als sich das Fräulein vom Amt wieder meldete, legte er auf. Vom Treppensteigen noch außer Atem, fuhr er zwei Etagen nach unten und trat in das Zimmer, dessen Tür offenstand. Der Anblick, der sich ihm bot, überraschte ihn. Der Jüngling kniete, nackt bis auf die Unterhose, neben dem Bett, das Gesicht im Plumeau vergraben. Sein knochiger Rücken war mit Striemen bedeckt.

"Schließ ab", sagte er mit gedämpfter Stimme. "Nimm den Gürtel."

Berger blickte sich um. Über dem Fußteil des Bettes hing ein Ledergürtel mit Eisennieten. Er nahm ihn.

"Schlag zu."

Nein, dachte er. Aber er tat es.

"Fester! "

"Man hört es im Nebenzimmer."

"Unsinn. Schlag mit der Schnalle zu."

Berger folgte den Anweisungen. Der schmächtige Körper des Knaben begann zu zittern. Plötzlich richtete er sich auf. Sein Gesichtsausdruck war entspannt. Er wischte sich Tränen ab.

"Hat es dir ein wenig gefallen?"

"Ja", sagte Berger, und nach einer Pause: "Wie alt bist du?"

"Sechzehn. "

"Möchtest du sprechen?"

"Nein."

Er umarmte ihn linkisch. Dann schloß er auf und ging aus dem Zimmer. Im Flur rückte er die Krawatte zurecht, die sich verschoben hatte, und stopfte das Hemd in die Hose. Etwas benommen stieg er die Treppe hinunter. In der Hotelhalle mußte er sich zusammennehmen, um nicht zu wanken. Beim Abgeben des Zimmerschlüssels fragte er den Rezeptionsangestellten:

"Können Sie mir sagen, bis wann die Max-Ernst-Ausstellung geöffnet hat?"

Der Angestellte sah in einem der Stadtführer nach, die auf dem Empfangspult lagen.

"Montag, Dienstag, Mittwoch von neun bis achtzehn Uhr, Donnerstag neun bis zwanzig Uhr, Freitag... "

"Vielen Dank", unterbrach ihn Berger. "Darf ich den Führer behalten?"

"Aber natürlich."

Er steckte das schmale Heft in eine äußere Jackentasche, damit man ihn für einen Touristen hielt. Auf der Maximilianstraße schlug er die Richtung zur Stadtmitte ein. Es war kühler geworden. Er vermißte seinen Übergangsmantel, den er in der Wohnung vergessen hatte. An der Oper baten ihn zwei Japaner mit Zeichen und Gesten, sie mit ihrer Kamera aufzunehmen. Er fotografierte sie kopflos. Vor einem Juweliergeschäft reizte er einen mit der Leine an einem Haken angebundenen Dackel durch Grimassen zum Bellen. Als die Besitzerin aus dem Laden kam, lächelte er wie erstaunt über den tobenden Hund. Er war in die Residenzstraße eingebogen. Auf dem Odeonsplatz, den er schon kannte, warf er zwei Münzen in den Hut einer Bettlerin. Rechts lag der Hofgarten. Vor sich, am Ende der Ludwigstraße, sah er das Siegestor.

Christine, dachte er und wußte im selben Moment, daß er ihr nicht begegnen wollte. Da ein Zusammentreffen überall möglich war, machte er kehrt und ging raschen Schrittes und mit gesenktem Kopf zum Hotel zurück. Auf dem Zimmer rief er wieder die Auskunft an.

"Eine Nummer in Salzburg bitte, Hahn Robert. Ich buchstabiere: Heinrich, Anton, Heinrich, Nordpol."

Seine Hand zitterte. Er notierte die Nummer und drückte die Gabel nieder. Dann wählte er, wobei er die Ziffern einzeln vom Block ablas. Als das Freizeichen ertönte, hielt er die Sprechmuschel zu. Der Vetter meldete sich mit ruhiger Stimme.

"Ja, bitte?"

Berger begann, in Gedanken zu zählen: einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig, vierundzwanzig...

"Wer ist denn dort?"

"Ich bin es", sagte er, "ich, ich, ich, ich."

Viermal wiederholte er, bevor er auflegte, das Wort. Es blieb wie ein Echo im Zimmer hängen. Er wählte die Nummer der Eltern, die er auswendig wußte. Vor der letzten Zahl brach er ab. Mit der Fernbedienung, die in Reichweite lag, schaltete er den Fernseher ein. Es wurden Nachrichten gesendet. Ein Massenmörder hatte in den Vereinigten Staaten siebzehn Frauen getötet, die Leichen zerstückelt und die Teile in seiner Gefriertruhe aufbewahrt. Bei seiner Verhaftung habe er sich, sagte der Sprecher, vollkommen ruhig verhalten. Ein Schwarzweißfoto wurde gezeigt. Berger schaltete den Fernseher aus. In der Stille ergriff ihn eine, wie er fand, grundlose Angst. Obwohl er wußte, daß er, um sie zu mildern, nur den Fernseher wieder einschalten mußte, tat er es nicht. Er hätte auch baden, etwas trinken oder einfach im Zimmer auf und ab gehen können.

Immer mehr Möglichkeiten, sich zu beruhigen, fielen ihm ein. Aber er nutzte sie nicht. Statt sich zum Beispiel vom Zimmerkellner ein Menü bringen zu lassen, blieb er wie gelähmt auf der Bettkante sitzen. Der Beweis für die Unerträglichkeit der Angst schien ihm erst dann erbracht, wenn die erlösende Tat gleichsam aus ihr selbst entsprang. Nicht sein Verstand sollte ihn retten. Während er auf den Angsthöhepunkt wartete, klopfte es an der Zimmertür. Er riß vom Notizblock das Blatt mit der Nummer des Vetters, stopfte es in den Mund und zerkaute es zu einer Kugel. Da es ihm nicht gelang, sie zu schlucken, schob er sie mit der Zunge zwischen Backe und Oberkiefer. Dann öffnete er. Beim Anblick Christines rief er aus:

"Du bist es!"

"Ich versuche seit einer halben Stunde, dich zu erreichen", beschwerte sie sich, "aber es ist dauernd belegt."

Er würgte die Kugel wie eine Pille hinunter.

"Der Mensch an der Rezeption wollte mir deine Zimmernummer nicht geben. Ich hatte dich in das Hotel gehen sehen. Ein junger Mann mit Glatze, sagte ich, Vorname Gustav. Aber so heißt du ja gar nicht."

Sie war zielstrebig auf einen der beiden Fauteuils zugegangen, die um einen runden Tisch herum standen.

"Warum hast du mich angeschwindelt?"

Berger begriff nicht, wovon sie sprach. Er hatte vergessen, daß er in dem Hotel unter falschem Namen wohnte. Sie setzte sich und begann, in ihrer Handtasche, die sie auf den Schoß gestellt hatte, zu kramen. Gespannt sah er ihr zu, denn er glaubte, sie werde nun den Beweis für die Behauptung, daß er nicht Gustav heiße, zutage fördern. Sie legte mehrere Gegenstände, die sie der Tasche entnahm, auf den Tisch, einen Schlüsselbund, einen Kamm, ein benutztes Taschentuch, eine Puderdose. Schließlich hob sie die Tasche hoch und stülpte sie um, so daß der restliche Inhalt, darunter ein goldenes Feuerzug, auf die Tischplatte fiel. Als Berger das Feuerzeug sah, trat er von hinten an sie heran. Da sie den Kopf etwas neigte, teilte sich über dem Nacken das Haar. Er berührte mit den Fingerspitzen den obersten Rückenwirbel.

Sie ließ langsam die Tasche sinken und neigte den Kopf noch mehr. Nun begann er, ihr Kleid aufzuknöpfen. Das Oberteil, unter dem sie nichts trug, glitt von den Schultern und fiel, da sie die Arme streckte, in ihren Schoß.

"Wirst du mich verraten?" fragte er.

Sie richtete sich auf und wandte den Kopf, um sein Gesicht zu sehen. Dabei bedeckte sie mit dem rechten Arm die entblößten Brüste. In ihren Augen erkannte Berger wie in einem Spiegel die Angst, an deren Überwindung sie ihn gehindert hatte. Er zog seine Jacke aus und nahm die Krawatte ab. Christine war aufgestanden und wieder in das Oberteil ihres Kleides geschlüpft. Sich verrenkend schloß sie zuerst die unteren, dann die oberen Knöpfe. Berger setzte sich auf das Bett und beobachtete, wie sie die Gegenstände vom Tisch in die Handtasche packte. Plötzlich sagte er:

"Ich habe dich nicht angeschwindelt. Ich wohne hier unter falschem Namen. Als du klopftest, dachte ich, es wäre die Polizei, obwohl das natürlich Unsinn ist. Sie können mich hier nicht finden. Erstens wissen sie nicht, wen sie suchen sollen, zweitens würden sie mich nicht in diesem Hotel vermuten. Ich habe mich unauffindbar gemacht. Obwohl ich mir nichts so sehr wünsche wie meine Verhaftung, habe ich alle Spuren verwischt."

Noch während er sprach, hatte er sich Christine genähert und von hinten die Arme um sie gelegt.

"Was hast du ausgefressen?" fragte sie.

"Das ist eine lange Geschichte."

Er küßte sie auf die Schulter. Dann schob er das Haar zur Seite und liebkoste ihr Ohr. Ihr anfänglicher Widerstand, der sich in einer Versteifung des Körpers zeigte, erlahmte allmählich. Mit Befriedigung registrierte er den Erfolg seiner Zärtlichkeiten. Sanft zwang er sie, sich ihm zuzuwenden. Während er mit den Lippen ihre Stirn, die Schläfen, Wangen und Nase betupfte, öffnete er, sie Stück für Stück, ohne daß sie es merkte, in die Richtung des Bettes drängend, an ihrem Rücken wieder die Knöpfe. Als ihre Beine an den Bettrahmen stießen, knickte sie ein und sank, von ihm gehalten, auf die Matratze. Er kniete sich auf den Boden und beugte sich über sie. Dann zog er das Kleid von den Achseln und, mit der Zunge auf der Haut eine feuchte Spur hinterlassend, bis zu den Hüften herunter.

Beim Abstreifen der Ärmel half sie schon etwas. Als seine Zunge den Nabel erreichte, hielt er inne, um zu erspüren, ob sie es ihm erlaubte, auch das Höschen herunterzuziehen. Dann tat er es. Das Gesicht in ihr Schamhaar vergraben, atmete er den leichten Uringeruch. Mit beiden Händen preßte sie seinen kahlen Schädel zwischen die Schenkel. Er saugte sich in sie hinein, als wollte er in ihr verschwinden. Sie stieß mehrere kurze Schreie aus. Als die Spannung in ihrem Körper sich löste, schob er sich langsam zu den Brüsten zurück, öffnete mit einer Geschicklichkeit, die ihn erstaunte, die Hose und vollführte den Koitus. Wie ein Riesensäugling blieb er danach erschöpft auf ihr liegen. Sie strich ihm mütterlich über die Glatze.

"Möchtest du mit mir eine Reise machen?" fragte er.

"Wohin?"

Ihm fiel "Simering" ein, aber er sagte: "Nach Salzburg."

Sie fand die Bezeichnung "Reise" für die Fahrt zu einem so nahen Ziel übertrieben. Doch sie fragte nur:

"Wann?"

"Jetzt gleich", sagte Berger.

Er hatte sich mit dem rechten Arm aufgestützt. Christine sah ihm zum erstenmal in die Augen.

"Hast du ein Auto?"

"Nein."

"Dann treffen wir uns in einer Stunde am Bahnhof. Kennst du den Kiosk gegenüber den Fahrkartenschaltern?"

"Ja."

"Dort wartest du."

"Und wenn du nicht kommst?"

"Ich komme bestimmt."

Sie stand auf, zog das Höschen hoch, dann das Kleid. Berger half ihr beim Schließen der Knöpfe.

"Also bis dann."

"Bis dann", sagte sie.

Er begleitete sie durch den Vorraum zur Tür. Den Versuch einer Umarmung wehrte sie ab. Als er wieder ins Zimmer trat, fiel sein Blick auf einen schimmernden Gegenstand. Vor seinem inneren Auge erschienen die roten Plastikstühle, auf denen Bauarbeiter in blauen Overalls saßen. Christine hatte ihr Feuerzeug liegenlassen. Er steckte es in die Hosentasche. Dann hob er die Krawatte vom Boden auf und band sie sich, so gut es ohne Spiegel ging, um. Das Jackett schüttelte er, bevor er es anzog, wie einen Staublappen aus. Daß er das Hotelzimmer behalten würde, hatte er schon beim Zuknöpfen des Kleides beschlossen. An den äußeren Türgriff hängte er das Schild "Bitte nicht stören". Im Flur überlegte er, ob er umkehren sollte, um seine Zahnbürste zu holen.

Als er Schritte hörte, ging er rasch weiter zum Lift. Wie die roten Stühle beim Anblick des Feuerzeugs sah er nun im Geiste den Feldweg vor sich, auf dem er sein Geld gezählt und geschmunzelt hatte, weil das einzige, das ihm fehlte, eine Zahnbürste gewesen war. Im Aufzug schloß er die Augen, um das Bild festzuhalten. Doch es verschwand. Stattdessen sah er Christines Brüste, dann ihren Nabel, dann das Dreieck der Scham. Ein Schwindel ergriff ihn. Er lehnte sich an die Kabinenwand.

"Ist Ihnen nicht gut?" fragte eine Stimme, die ihm bekannt vorkam.

Er schlug die Augen auf und blickte in das Gesicht des masochistischen Knaben. Gleichzeitig glaubte er, Schüsse zu hören und das Geräusch eines sich nähernden Traktors.

"Wir bewegen uns nicht", sagte er, "wir werden bewegt. In Gedanken sind wir gelähmt vor Angst. In Wirklichkeit bringen wir uns in Sicherheit. Die Gedanken haben keine Macht über uns. Wir sind frei. Doch die Freiheit ist ein Gefängnis, verstehen Sie?"

Der Aufzug war im Parterre angekommen. Der Knabe zog ein bedrucktes Kärtchen aus seiner Hosentasche und steckte es Berger zu. Beim Aussteigen stolperte er und stürzte fast. In der Hotelhalle wurde er von einer grell geschminkten Dame mit Küssen auf beide Wangen begrüßt. Berger beobachtete wie gebannt die Szene. Genauso hatte ihn Agnes zur Begrüßung auf die Wangen geküßt. Er lief durch die Halle zum Ausgang und stieg in eines der vor der Hotelauffahrt wartenden Taxis. Der mit Zigarettenstummeln gefüllte Aschenbecher unter dem Armaturenbrett verstärkte in ihm das Gefühl, daß Christine seine einzige Hoffnung war.

"Zum Bahnhof", sagte er, "schnell!"

Doch als das Taxi an einer Ampel hielt, stieß er die Tür auf und sprang aus dem Wagen. Verfolgt von den Flüchen des Fahrers, flüchtete er um die nächste Ecke in einen Blumenladen.

"Zwanzig rote Rosen", rief er der Verkäuferin zu, "oder nein, fünfzig, wenn Sie so viele haben."

Er zeigte auf eine mit Rosen gefüllte Vase.

"Die nehme ich."

"Alle?"

"Ja, alle! Ein Rausch in Rot, ein unmißverständliches Zeichen."

Die Verkäuferin kam hinter dem Verkaufstisch hervor. Berger griff nach dem Geld in der Jackentasche, zog aber versehentlich das Kärtchen heraus, das der Knabe ihm zugesteckt hatte. Es war eine Visitenkarte. Auf ihrer Rückseite stand eine Uhrzeit, darunter die ihm schon bekannte Zimmernummer. Wie das Zugbillett, das ihm auf dem Feldweg, als er sein Geld zählen wollte, in die Hände gefallen war, zerriß er nun die Visitenkarte. Die Papierschnitzel warf er in hohem Bogen über einen üppig blühenden Azaleenstrauch. Das Lächeln der Verkäuferin, die mit dem Arrangieren der Rosen begonnen hatte, erstarrte.

"Verzeihen Sie", sagte er und stürzte zur Tür, "die Erinnerung überwältigt mich."

Draußen fragte er einen Passanten: "Wo geht es zum Bahnhof?"

"Vorne links, an der Kreuzung rechts, dann immer geradeaus."

Er rannte wie um sein Leben. Vor dem Bahnhofseingang hielt er inne, um sich zu fassen. Er wollte Christine nicht atemlos gegenüberstehen. Wenn sie nicht da ist, dachte er, gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder es ist zu früh, oder sie hat gewartet und ist schon gegangen. Die zweite erschien ihm unwahrscheinlich. Denn er hatte das Hotelzimmer, als sie fort war, sogleich verlassen. Das Erlebnis mit dem Knaben hatte nur so lang wie die Fahrt mit dem Lift gedauert. Im Taxi hatte er höchstens fünf Minuten gesessen, und auch in dem Blumenladen hatte er durch einen glücklichen Umstand kaum Zeit verloren. Festen Schrittes betrat er die Bahnhofshalle. Seine Erregung stieg sprunghaft, als er an dem Kiosk in der Mitte der Halle eine offenbar junge Frau mit langem Haar in einem hinten geknöpften Kleid erblickte. Ihr Gesicht konnte er, da sie ihm den Rücken zuwandte, nicht sehen.

Seinen Berechnungen zum Trotz glaubte er nun, sich verspätet zu haben. Zur Entschuldigung fiel ihm eine in seiner Schulzeit häufig benutzte Ausrede ein. Ihm sei unterwegs plötzlich übel geworden, hatte er, wenn er zu spät zum Unterricht gekommen war, zur Erheiterung der Klasse erklärt. Er habe sich übergeben müssen. Nie hatte ihn jemand nach der Wahrheit gefragt. Er hätte die Frage auch nicht beantworten können, denn er war jedesmal früh genug aus dem Haus gegangen und hatte den kurzen Schulweg, soweit er sich erinnerte, zügig zurückgelegt. Im Glück, schoß es ihm durch den Kopf, schwindet das Zeitgefühl. Mit klopfendem Herzen näherte er sich dem Kiosk. Die Frau nahm eine Zigarette zwischen die Finger. Ein junger Mann, der neben ihr stand, gab ihr Feuer. Sie sprach mit ihm. Berger blieb verstört stehen. Den Plan, sie durch eine Umarmung von hinten zu überraschen, mußte er fallenlassen.

Stattdessen ging er zum Eingang zurück. Es sollte so aussehen, als wäre er gerade erst durch die Tür gekommen. Sobald ihm die Frau, die er für Christine hielt, das Gesicht zukehrte, wollte er sich in Bewegung setzen. Den Blick auf den Kiosk gerichtet, konzentrierte er sich darauf, den Moment nicht zu verpassen. Dabei dachte er, daß es, je länger er wartete, immer schwieriger wurde, eine Entschuldigung für seine Verspätung zu finden. Der junge Mann hatte sich eine Flasche Bier gekauft. Aus seiner Lederjacke schaute eine Zeitung hervor. Als er die Frau durch etwas, das er erzählte, zum Lachen brachte, verspürte Berger einen stechenden Schmerz in der Brust. Wahrscheinlich ein alter Bekannter, den sie getroffen hat, beruhigte er sich. Er hat sie in ein Gespräch verwickelt. Sie will nicht unhöflich sein. Aber warum nimmt sie jetzt seine Hand? Warum streicht sie ihm über die Wange? Warum läßt sie es zu, daß er den Arm um ihre Hüfte legt?

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Erschienen im Rospo-Verlag, Hamburg, 1998