Die Wohnung erschien ihm als der einzige Ort, an dem er ungestört denken konnte.
Er legte sich auf die Schaumstoffmatratze und schaute zur Decke, auf der eine
Fliege saß, die er für einen Schmutzfleck hielt. Als sie sich plötzlich bewegte,
schreckte er aus Gedanken auf, die er im selben Moment schon vergessen hatte.
Nun wartete er darauf, daß es klopfte und jemand ins Zimmer trat. Die Erleichterung,
als ihm einfiel, daß das nicht möglich war, äußerte sich in einem tiefen, geräuschvollen
Atemzug. Er ging in die Küche und sah nach, was im Kühlschrank war. Auf Schokoladenpudding
hätte er Appetit gehabt, stellte sich aber vor, er müßte eine Schweinshaxe essen.
Die Folge war, daß ihm die Lust auf Pudding verging. Hunger hatte er nicht.
Offenbar, so dachte er, entsteht Lust durch die Einbildung, daß ihre Befriedigung
nötig sei.
Wieder im Zimmer, merkte er, daß ihn die Fliege beim Denken störte. Er wartete,
bis sie sich auf das Fenster setzte, und zerquetschte sie mit einem Papiertaschentuch.
In die Wohnungen auf der anderen Seite fiel Sonnenlicht. Er hörte Klaviermusik.
Kann Hunger, fragte er sich, aus Verzicht entstehen? Im Fernsehen hatte er Kinder
gesehen, die vor Hunger schon so apathisch waren, daß sie die Fliegen nicht
mehr vertrieben, die sich auf ihre Gesichter setzten. Der Vater hatte über die
wirtschaftlichen Ursachen von Hungersnöten gesprochen. Berger hatte sich dadurch
gestört gefühlt. Selten war er beim Fernsehen allein gewesen. Einen eigenen
Fernseher hatte man ihm nicht erlaubt. Er legte sich wieder hin und knöpfte
das Hemd bis zum Nabel auf. Seine Brust war noch haarlos. Er schwitzte. Es tat
ihm gut, sich zu spüren.
Richtigen Hunger, dachte er, würde er nie erleben. Sein Blick ging zum Fenster.
Er fühlte sich eingesperrt. Wie ein Gefangener, der sich ausmalt, was er, wäre
er frei, unternehmen würde, stellte er sich vor, er säße im Zug und führe in
ein südliches Land. Natürlich wußte er, daß er die Wohnung, wann immer er wollte,
verlassen konnte. Er hätte zum Bahnhof fahren und in einen Zug steigen können.
Die Idee amüsierte ihn. Es kam ihm so vor, als hätte alles, was er nun täte,
nur den Sinn gehabt, sich zu beweisen, daß er dazu in der Lage war. Da geschah
etwas, das er nicht für möglich gehalten hätte: Er schrie. Ein kurzer, gellender
Laut brach plötzlich aus ihm hervor. Er lag da wie gelähmt. Bestimmt hatte ihn
jemand gehört. Er wartete darauf, daß es klingelte. Er sei es nicht gewesen,
würde er sagen. Aber es klingelte nicht. Man gab ihm nicht die Chance, sich
zu verleugnen.
Erschöpft schlief er ein. Als er erwachte, war es draußen noch hell. Er sah
auf die Uhr. Dann schaltete er den Fernseher ein. Erst als das Bild erschien,
wußte er, daß es nicht Morgen, sondern sieben Uhr abends war. Im Traum wäre
er beinahe erschossen worden. Von allen Seiten hatte man auf ihn gezielt. Im
letzten Moment war er aufgewacht. Es dauerte eine Zeit, bis er begriff, daß
er sich außer Gefahr befand. Im Fernsehen wurde ein Quiz gesendet. Die Kandidaten
nannten ihre Berufe und zählten auf, welche Hobbys sie hatten. Schüler oder
Studenten wurden befragt, welchen Beruf sie später ergreifen wollten. Außerdem
erfuhr man, ob die Kandidaten verheiratet waren und wie viele Kinder sie hatten.
Berger zog sich aus, ging ins Bad und ließ Wasser ein. Die Toilettenartikel
hatte er gleich nach dem Auspacken an ihren Platz gestellt. Das Badezimmer war
verfliest und wie die Küche mit allem Nötigen ausgestattet.
Er stellte sich in die Wanne und seifte den Körper ein. Sein Glied wurde steif.
Nachdem er sich hingesetzt hatte, drückte er sein Becken so weit nach oben,
daß das Glied aus den Wasser ragte. Dann urinierte er. Eine Harnfontäne stieg
auf und verebbte rasch. Berger hätte jetzt gern sein Gesicht gesehen. Aber er
wußte, daß sich der Ausdruck verändert, sobald man in einen Spiegel schaut.
Das Wasser färbte sich. Nun konnte er mit dem Kopf nicht mehr untertauchen,
dachte er. Zum Haare waschen nahm er die Brause. Als er fertig war, hörte er
das Zeichen, mit dem die Nachrichtensendung im Fernsehen begann. Schüsse ertönten,
Schreie von Frauen. Er stieg aus der Wanne und stürzte ins Zimmer. Es war dunkel
geworden. Ein Gewitter zog auf. Er schaltete den Fernseher aus. Dann ging er
ins Bad zurück. Das Wasser war nur noch lau. Seine Haut wurde schrumplig. Da
er keinen Schirm besaß, konnte er das Haus nicht verlassen.
Wieder befiel ihn jenes Gefühl der Sinnlosigkeit, das dadurch entstand, daß
er sich gleichsam von außen sah. Er wünschte, daß etwas geschähe, das ihn zum
Handeln gezwungen hätte. Man schläft, um aufzuwachen, dachte er, man verreist,
um zurückzukehren, man lebt, um zu sterben. Aus der Wohnung über ihm drangen
Geräusche. Jemand klappte den Klosettdeckel hoch und verrichtete seine Notdurft.
Berger stieg aus dem Wasser und hüllte sich in ein Badetuch. Im Zimmer sah er
die Blitze zucken. Es donnerte. Er stellte sich vor, er wäre im Freien und müßte
vor dem Gewitter fliehen. In einem Sommerurlaub hatte er auf diese Weise ein
Mädchen kennengelernt, mit dem er dann auch geschlafen hatte. Das Vergangene
schien ihm so weit entfernt, daß er es nicht mit sich in Verbindung brachte.
Sogar die Eltern kamen ihm jetzt wie Fremde vor. Er zog sich an, kämmte und
parfümierte sich.
Als es zu regnen aufgehört hatte, verließ er die Wohnung. Die Straßen waren
noch naß. Über der aufbrechenden Wolkendecke glühte das Abendrot. Er hatte beschlossen,
sich zu betrinken. Seine Vorstellung von dem Ort, an dem dies geschehen sollte,
war von Filmen geprägt, in denen einsame Männer ihr Unglück mit Schnaps betäubten.
Doch so naiv war er nicht zu glauben, daß die Realität dem entsprechen könnte.
Also betrat er aufs Geratewohl ein Lokal, das von außen den Eindruck machte,
als würde es dem, was er suchte, zumindest nahekommen. An der Theke saß ein
Mann, dessen Kopf immer wieder nach vorne sank, so als drohte er einzunicken.
Berger setzte sich an einen Tisch in der Ecke. Hinter der Theke stand eine rothaarige
Frau. Als sie sich näherte, roch er ihr schlechtes Parfum. Sie musterte ihn.
Er fragte:
"Gibt es etwas zu essen?"
Sie holte von einem anderen Tisch eine Speisekarte. Ihre Bewegungen drückten
aus, daß sie es unwillig tat. Der Mann an der Theke murmelte etwas. Berger las,
was auf der Karte stand. Offenbar wurde in dem Lokal um diese Zeit nicht gegessen.
Es war ihm peinlich, aus dem Rahmen zu fallen.
"Ich kann Ihnen einen Wurstsalat machen", sagte die Frau.
"Ja, den nehme ich."
"Und zu trinken?"
"Ein Bier."
Ihr Gesicht schien sich aufzuhellen. Obwohl sie ihn abstieß, hatte Berger sofort
den Wunsch verspürt, sich bei ihr auszusprechen. An der Theke, dachte er, wäre
das möglich gewesen. Er hätte mehrere Schnäpse getrunken. Der Alkohol hätte
ihm die Zunge gelöst. Er hätte ihr sein Herz ausgeschüttet. Ein weiterer Gast
betrat das Lokal. Durch die geöffnete Tür kam frische Luft herein. Der Mann
setzte sich an die Bar und begrüßte den anderen, indem er ihm auf die Schulter
schlug. Die Frau brachte das Bier. Berger sagte laut:
"Danke."
Sie reagierte nicht. Er nahm einen kräftigen Schluck und gleich einen zweiten.
Er wollte ausgetrunken haben, bevor sie mit dem Wurstsalat kam. Der Raum um
die Theke füllte sich langsam. Jeder neue Gast grüßte die schon Anwesenden.
Es waren ausschließlich Männer. Berger sah auf eine Mauer aus breiten Rücken,
die ihm den Blick auf die Frau versperrte. Sie war kurz in die hinter der Bar
gelegene Küche gegangen. Als sie den Wurstsalat brachte, sagte er:
"Noch ein Bier und einen Klaren. Haben Sie Zigaretten?"
"An der Tür ist ein Automat."
Er ging hin und zog eine Schachtel. Auf dem Weg zurück warf er eine Münze in
die Musikbox und drückte, ohne zu wählen, drei Nummern. Das erste Lied war ein
Schlager, zu dem man schunkeln konnte. Er verabscheute diese Art von Musik.
Doch es freute ihn, daß man ihn nun für jemanden hielt, der so etwas gerne hörte.
Die Frau brachte auf einem kleinen Tablett die Getränke.
"Wann machen Sie heute Schluß?"
"Um elf", sagte sie und stellte die Gläser hin. Das Tablett nahm sie
mit.
Berger war mit sich zufrieden. Er aß den Wurstsalat und trank Bier dazu. Als
er fertig war, leerte er das Schnapsglas in einem Zug. Die Musik hatte ihm bei
den Männern Sympathie eingetragen. Einer hatte sich umgedreht und ihm zugeprostet.
Er fühlte sich nicht mehr ausgeschlossen. Der Alkohol tat seine Wirkung. Die
Rücken der Männer auf den langbeinigen Hockern schienen ihn nicht mehr abzuweisen.
Die Frau kam, um den Teller zu holen. Er schob ihr das Schnapsglas hin.
"Noch ein Bier?" fragte sie.
Er trank den Rest, und sie nahm auch das Bierglas mit. Um elf wurde sie abgelöst.
Die Gäste zahlten, um bei der Nachfolgerin neu zu bestellen. Berger war so betrunken,
daß er kaum stehen konnte. Die Frau führte ihn in ein Zimmer oberhalb des Lokals,
in dem nur ein Bett und zwei Stühle standen. Eine Deckenlampe gab schwaches
Licht. Ihm fiel die geblümte Tapete auf. Helle Stellen markierten, wo einmal
Bilder gehangen hatten. Er setzte sich auf das Bett. Die Frau zog sich aus und
legte die Kleidungsstücke auf einen der Stühle. Sie stand von ihm abgewandt.
Ihn überraschte, wie dünn sie war. Man konnte die einzelnen Wirbel des Rückgrats
sehen. Die Beckenknochen bildeten spitze Hügel unter der Taille. Er begann,
sein Hemd aufzuknöpfen. Dabei dachte er, daß er besser aufstehen und gehen sollte.
Zur Tür waren es wenige Schritte. Die Frau hatte abgesperrt, aber der Schlüssel
steckte.
Sie drehte sich um. Berger sah das Dreieck des Schamhaars über den schmalen
Schenkeln. Als sie ihm half, das Hemd auszuziehen, fiel ihm eine Fernsehsendung
über Behinderte ein. Man hatte einen Gelähmten gezeigt, der mit dem Mund einen
Computer bedienen konnte. Die Frage des Reporters, ob er je daran gedacht habe,
sich umzubringen, hatte der Gelähmte, wie sich Berger erinnerte, energisch verneint.
Er ließ seinen Oberkörper nach hinten fallen. Die Frau zog den Reißverschluß
seiner Hose auf. Während sie ihn befriedigte, stellte er sich vor, er würde
mit der Studentin schlafen. Danach stand er auf, zog sich an und verließ das
Zimmer. Vor dem Haus übergab er sich. Das Mondlicht spiegelte sich im Erbrochenen.
Er lehnte sich an einen Laternenmast. Die Straße war menschenleer. Nur ab und
zu kam ein Taxi vorbei. Es lohnte sich nicht, eines anzuhalten.
Er hatte nicht weit zu gehen. In den Häusern brannte kaum noch ein Licht. Die
Menschen schliefen. Er fühlte seine Macht über sie. In einer Toreinfahrt lagen
wie Abfall zwei Obdachlose in Plastiksäcken. Die Kinder, dachte er, schlafen
mit ihren Kuscheltieren, die Erwachsenen haben den Wecker gestellt. Von seinem
Rausch war nur ein leichter Kopfschmerz geblieben. Er genoß es, erschöpft zu
sein. Aus einer Diskothek traten Jugendliche ins Freie und stiegen auf Motorräder.
Sie hatten sich Helme über die Köpfe gestülpt. Das Schwarz ihrer in Leder gehüllten
Körper verschmolz mit dem Schwarz der Maschinen. Das Gedröhn der Motoren brach
los. Berger stand gerade so weit entfernt, daß er alles sah, aber selbst nicht
beachtet wurde. Er wußte, er würde nie ein Motorrad fahren. Der Gedanke an die
Sinnlosigkeit würde ihn daran hindern. Das meiste im Leben würde er nur als
Zuschauer kennenlernen.
Zu Hause schaltete er gleich den Fernseher ein. Ihm genügte das Rauschen und
Flimmern nach Sendeschluß. Er setzte sich au den Boden. Sein letzter Gedanke,
bevor ihn die Müdigkeit übermannte, war, daß er, um wach zu bleiben, nur die
Ausschalttaste der Fernbedienung, die er in der Hand hielt, zu drücken brauchte.
Wenig später weckte ihn Todesangst. Im Traum wäre er fast ertrunken. Der Fernseher
rauschte nicht mehr. Auf dem Schirm war das Testbild erschienen. Berger öffnete
eine Fensterhälfte. Es fuhren schon Straßenbahnen. Er entkleidete sich bis auf
die Unterhose. Als er sich hingelegt hatte, hörte er von gegenüber ein Baby
schreien. Es war ein Fehler, dachte er, das Fenster zu öffnen. Dann schlief
er ein. Das Fernsehprogramm begann mit einem Bericht über die Herstellung von
Flaschenkorken. Es folgte eine Konzertübertragung. Als Berger erwachte, brandete
Beifall auf.
Er sah den sich verbeugenden Dirigenten. Eine dicke Sopranistin bekam einen
Blumenstrauß. Während der Abspann lief, schwoll der Beifall zu Jubel an. Erst
als die letzte Zeile am oberen Bildrand verschwunden war, drückte Berger die
Ausschalttaste. Es war Samstag. An schulfreien Tagen war er, als er noch bei
den Eltern wohnte, so lange im Bett geblieben, bis ihn die Mutter zum Frühstück
rief. Jetzt wußte er nicht, warum er aufstehen sollte. Früher hatte er sich
darauf verlassen können, daß durch die Mutter, die, wenn das Rufen nicht half,
in sein Zimmer trat, das Liegen beendet wurde. Er war ihr dann, scheinbar widerwillig,
gefolgt. Nun sah er eine Leere vor sich. Wäre Krieg, dachte er, würden ihn die
Alarmsirenen zum Aufstehen zwingen. Ihn fror. Er hätte das Fenster schließen
und sich etwas anziehen können. Aber er fand, daß das Frieren eine Erfahrung
war, deren Wert durch eine andere nicht übertroffen würde.
Ein Helikopter flog lärmend über das Haus. In der Stille danach glaubte Berger,
sein Herz zu hören. Er fühlte, wie es das Blut in die Adern pumpte. Die Tatsache,
daß er darauf keinen Einfluß hatte, machte ihm Angst. Er hielt den Atem an.
Das Klopfen in seiner Brust erinnerte ihn an einen tropfenden Wasserhahn. Der
Versuch, sich etwas vorzustellen, das ihn beruhigte, mißlang. Er konnte an nichts
anderes denken als an die Möglichkeit eines plötzlichen Herzstillstands. Der
Helikopter, der auf dem Dach eines in der Nähe befindlichen Krankenhauses gelandet
war, hob wieder ab. Die Wände erzitterten. Berger schloß nun das Fenster. Dann
ging er in die Küche und strich sich ein Marmeladebrot. Seinen Durst löschte
er mit einem Glas Apfelsaft. Es sah so aus, als ob er es eilig hätte. Die Körperpflege
beschränkte er auf das Nötigste. Während er sich anzog, ging ihm eine Schlagermelodie
nicht aus dem Kopf. Bevor er die Wohnung verließ, entfernte er das Namensschild
von der Tür.
Bekleidet war er mit Blue jeans, einem gemusterten Baumwollhemd und einer Lederjacke.
Eine Hauspartei, der er im Flur begegnete, grüßte er mit einer stummen Verbeugung.
Im Aufzug vermied er es, in den Spiegel zu sehen. An der nächsten Straßenecke
winkte er ein Taxi herbei und fragte:
"Ist bei Ihnen das Rauchen erlaubt?"
Der Fahrer zog den Aschenbecher heraus, der voller Stummel war. Berger setzte
sich neben ihn.
"Zum Hauptbahnhof bitte."
Obwohl er wußte, daß er die Zigaretten nicht bei sich hatte, griff er, als suchte
er sie, in die Taschen der Lederjacke, dann in die Hosentaschen. Als das Taxi
an einer Ampel hielt, konnte er der Versuchung, aus dem Wagen zu springen, kaum
widerstehen. Um sich abzulenken, las er vom Taxameter den von Sekunde zu Sekunde
sich erhöhenden Fahrpreis ab. Am Bahnhof zahlte er mit einem Schein, dessen
Wert den Betrag, den er schuldig war, weit überstieg. Als ihm der Fahrer herausgeben
wollte, sagte er:
"Der Rest ist für Sie."
In der Bahnhofshalle kaufte er Zigaretten und eine Tageszeitung. An einem Kiosk
in der Mitte der Halle trank er ein Bier. Reisende eilten an ihm vorbei zu den
Geleisen. Eine Frauenstimme forderte über Lautsprecher zum Einsteigen auf. Er
sah zu den Fahrkartenschaltern, an denen sich Schlangen gebildet hatten. Namen
von Städten fielen ihm ein, mögliche Reiseziele. Ein Betrunkener, der neben
ihm stand, sprach ihn an.
"Entschuldigung, haben Sie eine Zigarette für mich?"
Berger gab ihm die ganze Schachtel. Dann ging er mit raschen Schritten zu einem
der Fahrkartenschalter und reihte sich ein. Er war in der Warteschlange der
einzige ohne Gepäck. Je näher er der Glasscheibe kam, hinter der ein, wie ihm
schien, mißgelaunter Beamter saß, desto deutlicher fühlte er, daß das, was er
tat, ohne seinen Willen geschah. Er wollte nicht reisen. Warum war er überhaupt
zum Bahnhof gefahren? Als ihn nur die in Mundhöhe durchlöcherte Scheibe vom
Gesicht des Beamten trennte, murmelte er so leise, daß er es selbst kaum verstand,
das Wort "Simering". Seines Wissens gab es keinen Ort dieses Namens.
Der Beamte schien nicht erstaunt zu sein. Er tippte etwas in seinen Computer
ein und stellte eine Fahrkarte aus. Berger bezahlte, indem er das Geld in die
unterhalb der Scheibe drehbare Schale legte, auf der es in das Innere des Schalters
gelangen konnte. Es beruhigte ihn, daß sich alles so sinnvoll zusammenfügte.
Den
auf dem Fahrschein als Reiseziel angegebenen Ort kannte er nicht. Offenbar
hatte sich der Schalterbeamte verhört. Nichts Ungewöhnliches, dachte Berger und
sah sich nach einem Fahrplan um. Der nächste Zug, den er nehmen konnte, fuhr in
zwei Stunden. Nun galt es, sich die Zeit zu vertreiben. Innerhalb des
Bahnhofsgebäudes gab es ein Pornokino. Er erinnerte sich an die Scham, die ihn
früher am Besuch einer solchen Stätte gehindert hätte. Allem Anschein nach war
er ein anderer Mensch geworden. Denn ohne jede Scheu betrat er das Kino. Die
Frau an der Kasse nahm das Eintrittsgeld, ohne ihn anzusehen. Der Film hatte
schon angefangen. Eine Platzanweiserin gab es nicht. Berger blieb an der
Rückwand des Saales stehen, damit sich seine Augen an das Dunkel gewöhnen
konnten. Das Kino war schlecht besucht. Schließlich setzte er sich an den Rand
einer Reihe.
In einigem Abstand von ihm saß ein Mann, der unter seinem Mantel, den er auf
den Schoß gelegt hatte, zu onanieren versuchte. Berger stellte zwischen den
Bildern auf der Leinwand und der sexuellen Erregung des Mannes, deren
Intensität er an der Heftigkeit seiner Armbewegungen erkennen konnte, eine
Verbindung her. Dabei zeigte sich, daß der andere eine Vorliebe für bestimmte
Situationen hatte, die durch den Film nur selten befriedigt wurde. Wie eine
Maschine, die ab und zu aussetzt, erlahmte er, wenn auf der Leinwand nicht das,
was ihn erregte, geschah, um bald darauf einen neuen Anlauf zu nehmen, den
Orgasmus herbeizuführen. Als es ihm endlich gelang, schob er im letzten Moment
den Mantel beiseite und rutschte zur Sitzkante vor. Dann zog er hastig die Hose
hoch, knöpfte sie zu und verließ das Kino.
Berger, der nun allein in der Reihe saß, vergewisserte sich durch einen Blick
auf die Uhr, wieviel Zeit er noch hatte. Der Film langweilte ihn. Die Handlung
empfand er als lächerlich. Die pornographischen Szenen stießen ihn ab. Trotzdem
blieb er, da er nicht wußte, was er sonst tun sollte, sitzen. Später, im Zug,
kehrten die Filmbilder wieder. Er hatte ein leeres Abteil gefunden. Während er
aus dem Fenster sah, merkte er, daß ihn die Erinnerung an einzelne Szenen
erregte. Er ging zur Toilette und schloß sich ein. Die Enge des Raums, das
Gerüttel, der Lärm, der durch die Toilettenöffnung nach oben drang, lenkten ihn
so sehr ab, daß er die zur Selbstbefriedigung nötige Erektion nicht zustande
brachte. Um keinen Verdacht zu erwecken, betätigte er die Wasserspülung. Dann
wusch er sich mit flüssiger Seife aus dem Behälter über dem Waschbecken die Hände
und wischte sie, da es kein Handtuch gab, an der Hose ab. Das Gesicht im
Spiegel erkannte er nicht.
Auf seinem Platz saß, als er zurückkam, ein junger Mann und las die Zeitung,
die er im Abteil hatte liegen lassen. Da er seinen Besitzanspruch sowohl auf
den Platz als auch auf die Zeitung durch nichts hätte beweisen können, fragte
er:
"Verzeihen Sie, ist hier noch frei?"
Der junge Mann blickte auf.
"Normalerweise stört es mich nicht, wenn geraucht wird", erklärte
Berger. "Aber gegen Zigarre bin ich allergisch."
Da der Mann schwieg, setzte er sich, ihm schräg gegenüber, auf den Platz an der
Tür.
"Zigarrenrauch erinnert mich an Uringeruch... Erinnern ist wahrscheinlich
das falsche Wort..." Er überlegte. "Die Erinnerung an den Uringeruch
wäre noch auszuhalten. Es ist etwas anderes. Ich glaube, mich in Anwesenheit
eines Zigarrenrauchers, wenn ich die Augen schließe, in einem Pissoir zu
befinden. Ich weiß natürlich, daß es Einbildung ist. Mein Verstand sagt mir,
daß der Ekel, den ich empfinde, auf einer Täuschung beruht... Nun fragen Sie:
Warum Ekel?"
Er sah den Mann, der eine Brille trug, herausfordernd an. Plötzlich veränderte
sich, wie durch einen Schreck, sein Gesichtsausdruck.
"Nein, Sie fragen nicht", murmelte er. "Ich frage mich
selbst."
Der junge Mann wandte sich wieder der Zeitung zu. Er sitzt auf meinem Platz,
dachte Berger, er liest meine Zeitung. An der nächsten Station stieg er aus. Er
war bis auf eine alte Frau, die von zwei Kindern auf dem Bahnsteig empfangen
wurde, der einzige, der den Zug verließ. Auf den roten Plastikstühlen des
Bahnhofsrestaurants, die an runden Tischen im Freien standen, saßen Bauarbeiter
in blauen Overalls. Er wußte sofort, daß er dieses Bild nie vergessen würde.
Der Zug fuhr nach kurzem Aufenthalt weiter. Die Frau mit den Kindern strebte
dem Ausgang zu. Die Männer erhoben sich. Berger wartete, bis sie gegangen
waren. Dann setzte er sich auf einen der frei gewordenen Stühle. Jenseits der
Gleise sah er bis zum Horizont flaches Land. Hochspannungsmasten ragten zum Himmel.
Auf den Leitungen saßen, wie Perlen aufgereiht, Vögel. Im Geäst eines Baumes
lachte ein Drachengesicht.
Die Bedienung kam, um den Tisch abzuräumen. Einer der Arbeiter hatte sein
Feuerzeug liegenlassen.
"Gehört das Ihnen?"
"Ja", sagte Berger und steckte es ein.
Da er weder essen noch trinken wollte, ging er, bevor die Kellnerin wiederkam.
Auf dem Platz vor dem Bahnhof stand ein Omnibus mit laufendem Motor. Die
Kinder, die er schon auf dem Bahnsteig gesehen hatte, drückten sich an der
Scheibe die Nasen platt. Auf der Wartebank lag eine ausgelesen Zeitung. Er nahm
sie und zündete sie mit dem Feuerzeug an zwei Ecken an. Die Bustüren schlossen
sich. Hätte er die Zeitung nicht angezündet, wäre er eingestiegen. An eine
Busfahrt, dachte er, hätte er sich später bestimmt nicht erinnert. Verkohlte
Papierreste flogen im Wind davon. Er steckte die brennende Zeitung in einen
Abfallkorb. Als sich der Bus in Bewegung setzte, streckten ihm die Kinder die
Zungen heraus.
Vom Bahnhof führte eine gerade Straße ins Zentrum des Ortes. Berger ging in die
entgegengesetzte Richtung. Autos überholten ihn. Manche hupten. Bei der ersten
Gelegenheit bog er in einen Feldweg ab. Durch eine Unterführung gelangte er auf
die andere Seite der Gleise. Um einen Ausblick zu haben, stieg er den Bahndamm
hoch. Hinter einem Holunderstrauch am Fuße des Abhangs sah er etwas, das seine
Neugier weckte. Er lief hinunter. Es waren Kleidungsstücke, ein Rock, eine
Hose, ein zerschlissener Wintermantel. Außerdem entdeckte er ein offensichtlich
benutztes Präservativ, eine leere Konservendose und ein vom Regen knittrig
gewordenes Comicheft, aus dem einzelne Seiten fehlten, die zerknüllt neben
einem Kothaufen lagen. Mit zwei Fingern, damit er sich nicht beschmutze, hob er
die Dose vom Boden auf und schob mit Hilfe des Comicheftes die Exkremente
hinein. Dann drückte er den aufgebogenen Deckel zu.
Noch nie hatte ihn eine Handlung so viel Überwindung gekostet. Ein Geräusch
schreckte ihn auf. Er drehte sich um. Es war nichts, ein Tier vielleicht. Über
ihm brauste ein Zug vorbei. Er stellte sich auf die Zehenspitzen und winkte.
Hätte ihn jemand gefragt, weshalb er das Feuerzeug mitgenommen, die Zeitung in
Brand gesteckt und die Konservendose mit Kot gefüllt habe, er hätte die Antwort
gewußt. Einem anderen zuliebe hätte er Gründe gefunden. Doch für sich suchte er
keine Erklärung. Die Aussicht, erschöpft und hungrig im nächsten Dorf
anzukommen, genügte ihm. Ein Kirchturm markierte das Ziel. In der Ferne kurvte
ein Traktor über ein Stoppelfeld. Güllegeruch lag in der Luft. Berger achtete
darauf, daß er den Mund beim Atmen geschlossen hielt.
Damit er das Gehen spüre, zog er die Schuhe und Socken aus. Die Schuhe hängte
er an den zusammengebundenen Schnürsenkeln über die rechte Schulter. Die Socken
stopfte er in die Hosentaschen. Die Fußsohlen schmerzten, wenn er auf Steine
trat. Er versuchte nicht auszuweichen, sondern verfolgte gespannt, wie der
Schmerz von Schritt zu Schritt, teils durch Gewöhnung, teils durch Abhärtung,
nachließ. Je länger er ging, desto stärker wurde in ihm der Drang umzukehren.
Um die Kirche herum konnte er nun schon Häuser erkennen. Offenbar war es ein
Dorf, das abseits der Bahnstrecke lag. Bestimmt gab es dort kein Hotel,
höchstens ein Gasthaus mit Zimmervermietung. Sein Erscheinen würde einiges
Aufsehen machen. Anders als in der Großstadt, wo keiner sein Fremdsein
bemerkte, würde es in einem so kleinen Ort, in dem jeder jeden kennt, sofort
auffallen.
Er blieb stehen, um nachzusehen, wieviel Geld er noch hatte. Als er das
Portemonnaie aus der Tasche zog, fiel ihm das Zugbillett in die Hände, das er
nicht hatte vorweisen müssen, denn er war, als der Schaffner kam, auf der
Toilette gewesen. Wie um die Erinnerung auszulöschen, zerriß er es und warf die
Stücke in eine Wasserlache, die vom Regen am Vortag geblieben war. Dann zählte
er das Geld, auch die Münzen. Es reichte für Essen und Unterkunft. Dumm nur,
daß Samstag ist, dachte er, und die Geschäfte bereits geschlossen haben.
Zugleich mußte er schmunzeln, weil das einzige, das ihm fehlte, eine Zahnbürste
war. Er steckte das Portemonnaie wieder ein. Wegen einer Zahnbürste umzukehren,
erschien ihm lächerlich. Sich zuerst auf dem einen, dann auf dem anderen Bein
im Gleichgewicht haltend, streifte er den Sand von den Füßen und zog die Socken
und Schuhe an. Dann ging er weiter.
Vom Dorf hörte er schon die Hähne krähen und das Brüllen der Kühe, das aus den
Ställen drang. Die Augen ließ er beim Gehen auf den Boden geheftet. In Gedanken
versunken, merkte er nicht, daß ihm der Traktor, den er von weitem gesehen
hatte, entgegenkam. Im letzten Moment sprang er zur Seite, um Platz zu machen.
Der Fahrer rief ihm mit erhobener Hand etwas zu, das er wegen des Lärms nicht
verstand. Als er zum Himmel blickte, sah er einen Vogel herunterfallen. Jäger
durchkämmten in lockerer Reihe ein abgeerntetes Feld. Schüsse knallten. Die
Jagdhunde apportierten die Beute. Der Traktor nahm, sich entfernend, den
Motorlärm mit. Der Körper des Fahrers hüpfte auf dem federnden Sitz wie von
Lachen geschüttelt. Berger schlug eine raschere Gangart an. Der Weg mündete in
die Straße, von der er gekommen war. Das letzte Stück ging er am Straßenrand.
Mit dem Bus, dachte er, wäre er schneller gewesen.
Am Ortseingang fiel ihm ein, wie er fand, überflüssiger Spielplatz auf. Vor
einem offenen Tor saß ein Mann mit zerfurchtem Gesicht und lüftete mehrmals
hintereinander den Hut, so als hätte er auf die Gelegenheit dazu lange
gewartet. In einem Garten hockte ein Kind und hob mit der Hand eine Grube aus.
Als sie tief genug war, legte es eine Mohnblume hinein und schob die
aufgehäufte Erde darüber. Berger wußte nicht, daß er beim Zusehen von einem
Mädchen beobachtet wurde, das sich hinter einem Fenster des Hauses, zu dem der
Garten gehörte, die Haare flocht.
"Hast Du die Blume begraben?" rief er über den Zaun.
Das Kind sprang auf und lief, so schnell es konnte, ins Haus. Das Mädchen trat
vom Fenster zurück, um nicht entdeckt zu werden. Abends, in der Wirtsstube des
Gasthofes, in dem sich Berger ein Zimmer genommen hatte, sah es ihn wieder. Er
aß einen Hasenbraten. Als er aufblickte, hielt es die Hände vor das Gesicht.
Ein anderes Mal versteckte es sich hinter dem Rücken der Mutter. Dabei stieß
es ein Weinglas um und wurde gescholten. Schließlich kroch es unter den Tisch
und löste sich so, daß nur Berger es sehen konnte, die Zöpfe auf. So wenig ihn
die Gründe für sein eigenes Tun interessierten, so wenig fragte er sich nach
möglichen Gründen für das Verhalten des Mädchens. Wichtig war ihm nur, sich
alles seit dem Verlassen des Zuges Erlebte fest einzuprägen.
Vor dem Abendessen hatte er die Kirche besucht und, obwohl er nicht gläubig
war, mehrere Vaterunser gebetet. Danach war er auf den an die Kirche
angrenzenden Friedhof gegangen und hatte mit gesenktem Kopf so lange vor einem
Grab gestanden, bis ihm Tränen über die Wangen liefen. Da wie dort hatte er die
dem Ort angemessene Rolle gespielt. Nach dem Abendessen hielt er sich kurz auf
dem Zimmer auf, wusch sich und zerwühlte das Bett, damit es benutzt aussah.
Dann fuhr er mit dem Bus in das nächste Dorf. Den Zimmerschlüssel hatte er
mitgenommen und stattdessen das Feuerzeug, das ihm nicht gehörte,
zurückgelassen. Es lag auf dem Nachttisch, wo man es nicht übersehen konnte.
Während der Fahrt spürte er, wie erschöpft er war. Die Augen fielen ihm zu. Wenn
er sich hinlegte, dachte er, würde er sofort schlafen können.
Im Gasthof wurde er zunächst nicht vermißt. Erst als er am Morgen nicht zum
Frühstück erschien, klopfte die Wirtin an seine Zimmertür. Da keine Antwort
kam, trat sie ein. Es war nicht abgeschlossen. Daß in dem Bett niemand
geschlafen hatte, sah sie sofort. Das Feuerzeug steckte sie in die
Schürzentasche. In der Küche erzählte sie, der junge Mann habe bezahlt und sei
abgereist. Den Frühstückskaffee schüttete sie in den Ausguß der Spüle. Berger
hatte in dem anderen Dorf nahe der Busstation ein Hotel gefunden und war, wie
erwartet, rasch eingeschlafen. Im Traum wurde er von der Polizei als Betrüger
gesucht. Ein vermeintliches Rütteln an der Tür weckte ihn auf. Es dauerte eine
Weile, bis er zwischen Traum und Wirklichkeit unterscheiden konnte.
Das Doppelzimmer, in dem er lag, hatte zwei Fenster, durch die das Licht der
schon hoch stehenden Sonne fiel. Die gewellten Schatten der Fensterkreuze auf
den weißen Gardinen bewegten sich leicht. An der Wand gegenüber dem Doppelbett
hing ein Landschaftsbild, auf dem er den Bahndamm und die Felder erkannte,
durch die er gekommen war. Unter dem Bild stand ein Tisch mit zwei Stühlen.
Über die Lehne des einen hatte er seine Jacke und die Blue jeans gehängt. Einerseits
verspürte er große Lust, so lange liegen zu bleiben, bis sich das Geträumte
verwirklichen würde, so daß er zum Aufstehen gezwungen wäre, andererseits
wollte er so schnell wie möglich in die Normalität zurück. Das Normale war sein
Studentenleben. Er konnte sich nicht entscheiden. Da klopfte es an der
Zimmertür. Er sprang aus dem Bett und zog rasch die Hose an. Ein Schlüssel
wurde ins Schloß gesteckt. Der Türgriff drehte sich. Eine ältere Frau in einem
vorne geknöpften Arbeitskittel trat ein.
"Erschrecken Sie nicht", sagte Berger.
Er saß auf dem Stuhl, auf dem seine Jacke hing, und zog die Socken und Schuhe
an. Einen Moment hatte er gedacht, der Kopf der Frau sitze verkehrt auf dem
Körper.
"Ich komme später", sagte sie.
"Nein, bleiben Sie!" Er band die Schnürsenkel zu. "Ich bin schon
fertig. Sie können gleich saubermachen. Die Bettwäsche in der linken Hälfte
brauchen Sie nicht zu wechseln. Von den Handtüchern habe ich nur das kleine
benutzt."
Er stand auf und stopfte das Hemd in die Hose.
Haben Sie gut geschlafen?" fragte die Frau. Überrascht sah er sie an.
"Ja, danke. Gewöhnlich schlafe ich nicht so ruhig. Morgens liegt die Decke
meist auf dem Boden. Oft wache ich auf, weil ich friere. Manchmal bewahrt mich
ein Traum vor dem Erwachen. Dann erkälte ich mich."
Während er sprach, dachte er, daß er, um keine Zeit zu verlieren, auf das
Frühstück verzichten werde.
"Wissen Sie, in welchem Abstand die Busse fahren?"
"Alle vierzig Minuten", sagte die Frau. "Wenn Sie den nächsten
nehmen, haben Sie Zuganschluß."
Woher wußte sie, daß er mit dem Zug und in welche Richtung er fahren wollte?
Jedes weitere Wort erschien ihm verräterisch. Er nahm die Jacke vom Stuhl und
lief, an der Frau vorbei, aus dem Zimmer. Niemand hielt ihn auf, als er das
Hotel, ohne bezahlt zu haben, verließ. An der Busstation traf er die Kinder
wieder, die ihm die Zungen herausgestreckt hatten. Sie faßten sich bei den
Händen, als sie ihn kommen sahen. Jetzt erst erkannte er, daß es Zwillinge
waren.
"Ihr dürft schon allein mit dem Omnibus fahren?" fragte er mit
gespielter Verwunderung.
Sie blickten ihn schweigend an. Er griff in die Innentasche der Lederjacke.
"Wollt ihr euch Schokolade kaufen?"
Die Tasche war leer. Er hatte sein Portemonnaie verloren. Wahrscheinlich,
dachte er, ist es beim Ausziehen der Jacke herausgefallen. Doch statt ins Hotel
zurückzugehen und nachzusehen, stellte er sich mit erhobenem Arm an den
Straßenrand. Gleich das erste Auto, das kam, nahm ihn mit.
"Warum bezahlen, wenn es auch gratis geht?" scherzte der Fahrer.
Berger winkte zum offenen Fenster hinaus.
"Ich bin bestohlen worden", sagte er. "Als ich den Kindern Geld
geben wollte, merkte ich, daß mir die Brieftasche fehlt. Im ersten Augenblick
war ich natürlich erschrocken. Aber dann habe ich mich damit abgefunden. Es ist
eine Strafe, habe ich mir gedacht."
Der Fahrer wischte sich mit der Hand über die Stirn.
"Ungewöhnlich warm für September."
"Das ist der Vorteil des Schuldgefühls", fuhr Berger fort. "Wer
sich schuldig fühlt, wird durch einen Schicksalsschlag nicht aus der Bahn
geworfen."
Sie näherten sich dem Dorf, in dem er zu Abend gegessen hatte. Der Fahrer
lenkte das Auto in einen Rübenacker, stieg aus und urinierte so, daß Berger
zwischen den Beinen den Strahl sehen konnte. Als er den Blick angewidert nach
vorne wandte, entdeckte er auf der Ablage unter der Windschutzscheibe das
Portemonnaie des Mannes und steckte es ein. An der einzigen Kreuzung des
Dorfes, an der sie kurz halten mußten, sprang er ohne ein Wort aus dem Wagen.
Der nächste Zufluchtsort war die Kirche. Es roch noch nach Gottesdienst. In den
Reihen saßen schwarz gekleidete Frauen und beteten murmelnd den Rosenkranz.
Berger blieb neben dem Eingang stehen. Eine der Frauen, die sich, als er
eintrat, erhoben hatte, kam auf ihn zu. Aus der Nähe erkannte er, daß es die
Wirtin des Gasthofs war.
"Ich habe mir Sorgen gemacht", sagte sie mit gedämpfter Stimme.
"Ich dachte, Ihnen sei etwas zugestoßen."
Er blickte über ihren Kopf hinweg zum Altar, auf dem noch die Kerzen brannten.
Sie nahm aus einer schwarzen Tasche, die sie am Arm trug, das Feuerzeug.
"Das haben Sie liegenlassen."
"Ich glaube, Sie verwechseln mich", flüsterte er.
Eine Frau in der letzten Reihe drehte sich um.
"Keine Angst", sagte die Wirtin, "ich möchte kein Geld von
Ihnen."
Die Frau stand auf und verließ die Kirche. Sekundenlang hörte man nur das
Gemurmel der Betenden, dann das Geräusch des vorbeifahrenden Busses. Berger
lief auf die Straße. An der Kreuzung gab er dem Fahrer ein Zeichen und wurde
eingelassen. Um eine Karte zu lösen, mußte er die gestohlene Börse öffnen. Sie
enthielt bis auf einige Münzen in fremder Währung nur große Scheine. Als er
bezahlte, sagte er:
"Entschuldigung, ich habe es leider nicht kleiner."
Die Gelassenheit, mit der der Fahrer die Tasten des Geldwechslers drückte,
beruhigte ihn. Wie aus einem Spielautomaten, wenn der Spieler gewonnen hat,
prasselten die Münzen heraus. Berger steckte sie in die Hosentasche. Der Bus
war fast voll besetzt. Im vorderen Teil saßen die Zwillinge, die den Vorgang
beobachtet hatten. Er beugte sich über sie und fragte leise:
"Soll ich euch ein Geheimnis verraten?"
Sie nickten.
"Aber ihr dürft es nicht weitersagen."
Sie schüttelten stumm die Köpfe.
"Ich bin ein Dieb."
Er zeigte ihnen die Scheine. Dann schenkte er jedem ein Geldstück und ging nach
hinten, wo es noch freie Plätze gab. Das Ausgesprochene war nicht mehr
zurückzunehmen. Er hatte gestanden, aber er war kein Risiko eingegangen.
Geschichten von Kindern, dachte er, werden nicht ernst genommen. Einzig auf die
Bekräftigung durch das Wort war es ihm angekommen. Daß er als Dieb damit
rechnen mußte, verfolgt zu werden, verlieh allem, was er von nun an tat, Sinn.
Möglicherweise hatte ihn der Bestohlene bereits angezeigt und der Polizei eine
Beschreibung gegeben. Da man ihn am ehesten an seiner Lederjacke erkennen
konnte, zog er sie aus und hängte sie, als er ausstieg, über die Schulter,
wobei er mit einem Finger die Schlaufe hielt. Die Geldbörse schob er, nachdem
er die Scheine herausgenommen und eingesteckt hatte, in den Spalt zwischen zwei
Sitzen.
Dies tat er nicht aus Furcht oder Vorsicht, sondern weil es zu seiner neuen
Rolle gehörte, sich der Gefahr, verhaftet und überführt zu werden, nicht
mutwillig auszusetzen. Aus demselben Grund beschloß er, als er vor dem
Bahnhofseingang zwei Polizisten sah, seine Abreise aufzuschieben. Am wenigsten
gefährlich erschien es ihm, sich unter die Menschen zu mischen, die in Scharen
zu einem Jahrmarkt strömten. An einem Imbißstand aß er, obwohl ihm davon fast übel
wurde, ein Schaschlik. An einer Schießbude hielt er zum erstenmal ein Gewehr in
der Hand und schoß daneben. Von einem Marktschreier ließ er sich ein Gerät zum
Entsaften von Obst vorführen. Das Gefühl, daß man ihn suchte, wurde, da er
unbehelligt blieb, immer schwächer. Um es aufzufrischen, ging er zum Bahnhof
zurück.
Beim Anblick der Polizisten, die Strafmandate unter die Scheibenwischer
vorschriftswidrig geparkter Autos steckten, fiel ihm ein Erlebnis aus seiner
Schulzeit ein. Er hatte auf eine Prüfungsfrage, obwohl er die Antwort wußte,
geschwiegen. Eine Schnittwunde am Kinn des Lehrers hatte ihn abgelenkt. In
diesem Moment war ihm klargeworden, daß er sich zwischen Sprechen und Schweigen
entscheiden konnte. Nun wollte er sprechen. Sätze zu seiner Rechtfertigung
schossen ihm durch den Kopf. Er habe gestohlen, ja, aber er habe es nur getan,
um einen Schlußpunkt zu setzen hinter eine Reihe von Handlungen, die er sich,
obwohl von ihm ausgeführt, nicht erklären könne. Ziel und Zweck seines
Diebstahls sei es gewesen, gefaßt zu werden. Indem er sein Schicksal in fremde
Hände lege, hoffe er, wieder zu sich zu kommen.
So wollte er seine Rede beginnen. Um die Aufmerksamkeit der Polizisten auf sich
zu lenken, näherte er sich einem Auto, das im Parkverbot stand. Dann zog er die
Jacke an. Einer der Polizisten trat auf ihn zu und fragte:
"Ist das Ihr Auto?"
Vom Bahnhof kamen Menschen aus einem Zug. Berger fand es plötzlich ganz
unverständlich, daß er sich hatte stellen wollen.
"Nein", sagte er und lief los, um den Zug zu erreichen. Als er später
beschreiben sollte, was er in dem Augenblick, da er begriff, daß nach ihm nicht
gefahndet wurde, empfunden habe, gab er an, es sei Scham gewesen. Er habe sich,
ohne sich dessen bewußt zu sein, vor sich selbst geschämt. Rückblickend sei er
der Überzeugung, daß jenes Schamgefühl die Triebfeder für sein weiteres Handeln
gewesen sei.
Den Zug erreichte er nicht. Reisende, die noch auf dem Bahnsteig standen, zogen
bedauernd die Schultern hoch. Aus Höflichkeit machte er eine ähnliche Geste.
Die Bahnhofsgaststätte war gut besucht. Er setzte sich an den einzigen freien
Tisch. Die Kellnerin erkannte ihn wieder. Er merkte es an der Art, wie sie
sprach, als er bestellte.
"Haben Sie einen Apfelkuchen?"
"Mit oder ohne Sahne?"
"Ohne, und eine Tasse Kaffee."
"Wir haben nur Kännchen." Sie sah ihn nicht an.
"Okay", sagte er und wunderte sich, wie beschwingt er war.
Während seine Augen den Horizont absuchten, ließ er die Personen Revue
passieren, die in einem Prozeß gegen ihn als Zeugen in Frage kämen. Es freute
ihn, daß es so viele waren. Ihre Aussagen würden sich wie die Teile eines
Puzzles zusammenfügen. Doch das Bild war noch unvollständig. Er tastete nach
dem Geld in der Hosentasche. Es ermöglichte ihm, das Experiment seiner Reise,
ohne darauf zu achten, wieviel er ausgab, noch eine Zeitlang fortzusetzen.
Bestimmt hatte er nicht gestohlen, um sein Studium am nächsten Tag
wiederaufzunehmen. Er schmunzelte bei dem Gedanken. Am Nebentisch unterhielt
man sich laut über zwei Morde an Frauen aus der Umgebung. Er mußte sich
zwingen, nicht hinüberzusehen. Einerseits interessierte es ihn, zu welchen
Gesichtern die Stimmen gehörten, andererseits wollte er nicht riskieren, daß
man sie, sich belauscht fühlend, senkte.
Erst als einer der an dem Gespräch Beteiligten für die Wiedereinführung der
Todesstrafe plädierte, wandte Berger den Kopf und war überrascht, in das
verträumte Gesicht eines Jünglings zu sehen, der ihm, hätte er geschwiegen, auf
Anhieb sympathisch gewesen wäre. Die Kellnerin brachte auf einem Tablett den
Kaffee und den Apfelkuchen. Die Gäste vom Nebentisch bezahlten und gingen.
Berger goß sich ein, schüttete Milch dazu und ließ ein Zuckerstück in die Tasse
gleiten. Warum hatte er Kaffee und Kuchen bestellt, obwohl ihm noch das
Schaschlik im Magen lag? Warum hatte er sich überhaupt hingesetzt? Die
Erkenntnis, daß es nicht seine Aufgabe war, auf Fragen dieser Art eine Antwort
zu finden, befreite ihn von dem Druck, der auf ihm lastete, seit er grundlos
und ohne Ziel seine Wohnung verlassen hatte.
Das Restaurant leerte sich. Eine Lautsprecherstimme kündigte die Einfahrt eines
Eilzugs nach Salzburg an. Um rasches Zusteigen wurde gebeten. Der Zug habe
wegen einer Verspätung nur kurzen Aufenthalt. Berger konnte nun den Zerstreuten
spielen, der, in Gedanken versunken, auf die Zeit nicht geachtet hatte. Heftig
gestikulierend gab er der Kellnerin zu verstehen, daß er zahlen wolle.
"Tut mir leid", sagte er, als sie kam. "Ich muß noch eine
Fahrkarte kaufen."
"Und was ist mit dem Feuerzeug?" fragte sie.
"Welchem Feuerzeug?"
"Ach, tun Sie nicht so! Es ist auf dem Tisch gelegen. Sie haben es
eingesteckt."
Über sein Gesicht ging ein Lächeln.
"Ganz so war es nicht", sagte er, wobei seine Stimme einen
belehrenden Ton annahm. "Sie fragten mich, ob es mir gehöre. Ich bejahte
die Frage. Dann erst habe ich es in die Tasche gesteckt."
Nun stand er auf.
"Hätten Sie nicht gefragt, hätte ich es liegen gelassen."
Die Kellnerin sah ihn entgeistert an. Er schob einen Geldschein unter ihr Schürzenband
und ging zum Fahrkartenschalter. Es traf sich gut, daß er Salzburg, wo ein
Cousin von ihm wohnte, ohnehin hatte besuchen wollen. Im Zug setzte er sich in
das erstbeste Abteil zu einem Ehepaar mit zwei Kindern. Das kleinere hatte die
Frau, die am Fenster saß, auf den Schoß genommen, damit es hinaus sehen konnte.
"Fahren wir jetzt?" fragte es aufgeregt.
"Ja, wir fahren", sagte sie und strich ihm das Haar aus der Stirn.
"Fährt der Mann auch?"
"Ja, der Mann fährt auch."
"Nein", mischte Berger sich ein, "ich fahre nicht. Der Zug
fährt. Ich werde gefahren."
Die Frau tauschte einen ratlosen Blick mit dem Ehemann. Das ältere Kind, das
Kaugummi kaute, ließ eine Blase platzen.
"Wenn der Zug langsam fährt", fuhr Berger fort, "nützt es
nichts, wenn du dir wünschst, er soll schneller fahren. Wenn der Zugführer ein
Signal übersieht, macht es bumm, und Mami und Papi fallen vom Sitz
herunter."
"Warum?" fragte das Kind auf dem Schoß der Mutter.
"Weil wir mit einem anderen Zug zusammenstoßen."
Das ältere Kind unterbrach seine Kaubewegung.
"Wenn man aussteigen will", sagte es, "muß man die Notbremse
ziehen."
Da erhob sich der Vater, schlug sich auf beide Schenkel und befahl: "Komm,
Wir gehen."
Die Frau nahm das Kind vom Schoß auf den Arm. Das andere ließ noch einmal den
Kaugummi knallen. Berger schüttelte verwundert den Kopf, als sie gegangen
waren. Eine graue Schirmmütze war im Abteil zurückgeblieben. Er setzte sie auf
und machte sich auf den Weg zum Speisewagen, den er schon vom Bahnsteig gesehen
hatte. Dabei dachte er, daß der Zug, in dem er ging, fuhr, und er war stolz,
dem Kind das erklärt zu haben. Vor dem Abteil, in dem die Familie nun saß,
blieb er kurz stehen und verbeugte sich. Im Speisewagen setzte er sich in
Fahrtrichtung auf einen Fensterplatz. Die Mütze legte er auf den Stuhl neben
sich. Auf dem Tisch standen zwei Teller mit Speiseresten, zwei
Mineralwasserflaschen sowie ein leeres und ein halbvolles Glas. Letzteres stieß
er um, damit der Kellner auf ihn aufmerksam würde. Da er in der
Bahnhofsgaststätte sowohl den Kuchen als auch den Kaffee hatte stehenlassen,
überlegte er nicht lang, als er bestellte.
"Ich
hätte gern ein Stück Apfelkuchen und eine Tasse Kaffee. Wenn es Kaffee nur in
Kännchen gibt, werde ich mich damit abfinden müssen. Den Kuchen mit
Sahne."
Ein Herr in dunklem Anzug setzte sich mit einem Lächeln, das er erwiderte, ihm
gegenüber. Der Tisch war so schmal, daß Berger den Atem des anderen spüren und
die Poren auf seiner Nase erkennen konnte. Das Gesicht zerfiel in physiognomische
Einzelheiten, die, für sich genommen, nichts Menschliches hatten. Am rechten
Nasenflügel entdeckte er einen Pickel. Die Versuchung, ihn auszudrücken, wurde
so übermächtig, daß er sich abwenden mußte. Mit starrem Blick sah er zum
Fenster hinaus. Schließlich setzte er sich an das andere Ende des Tisches. Der
Mann im Anzug hatte zu rauchen begonnen.
"Wenn man am Fenster sitzt", sagte er, "wird einem das Phänomen
der passiven Fortbewegung besonders bewußt. Man raucht, ißt oder trinkt, und
zugleich wird man zu einem bestimmten Ziel transportiert. In gewissem Sinne
gibt es uns, wenn wir mit der Bahn fahren, doppelt. Dies verschafft uns ein
Wohlgefühl. Selbst das Nichtstun verliert seinen Schrecken, solange wir in
Bewegung sind. Die Verzweiflung, die uns befällt, wenn Gedanken uns lähmen,
bleibt uns erspart. Andererseits sehnen wir uns nach der Verzweiflung. Aber was
rede ich... "
Er drückte die Zigarette aus und steckte sich eine neue an. Berger sah nun, da
er den Mann aus einigem Abstand betrachten konnte, daß sein Anzug abgetragen
und voller Flecken war. Die Hand, mit der er die Zigarette hielt, zitterte. Auf
seinen Lippen hatte sich Schaum gebildet.
"Einerseits", hob er von neuem an, "empfinden wir das Sprechen
als eine Erleichterung, andererseits macht es uns abhängig von der Beachtung,
die uns ein Zuhörer schenkt. Wir bilden uns ein, daß das, was wir sagen, einen
anderen interessiert. Um diese Illusion nicht zu zerstören, vermeiden wir es,
ihm ins Gesicht zu sehen."
Nun blickte er auf.
"Stellen Sie sich vor, Sie stehen auf einer Bühne. Sie sprechen den
Rollentext. Ihre Sätze werden begierig aufgenommen. Aber Sie denken an etwas
anderes. Mit Ihren Gedanken sind Sie allein. Sie wagen es nicht, sie
auszusprechen. Ihre Bühnenkarriere ist Ihnen wichtiger als das Gefühl, einmal
vor aller Augen Sie selbst zu sein..."
Der Kellner brachte das von Berger Bestellte. "Und für Sie?"
"Einen Scotch", sagte der Mann lauter als nötig. Dann wandte er sich
wieder seinem Gesprächspartner zu.
"Haben Sie schon einmal versucht, zu sich selbst zu sprechen?"
Zigarettenasche fiel auf die Anzugjacke.
"Haben Sie versucht, Ihre Gedanken in dem Augenblick, da sie entstehen, zu
Papier zu bringen? Sie werden sehen, es gelingt Ihnen nicht, weil Sie zu Ihrem
eigenen Zuschauer werden. Sie verwandeln sich in das Publikum, das Ihnen fehlt.
Sie können an nichts anderes denken als daran, daß Sie Ihre Gedanken
aufschreiben wollen. Der Assoziationsfluß ist unterbrochen. Erst wenn Sie sich
selbst vergessen, setzt er sich unbewußt wieder fort."
Berger überlegte, unter welchem Vorwand er sich entfernen konnte, ohne den
Mann, dessen Rededrang unerschöpflich schien, vor den Kopf zu stoßen.
"Das Denken", fuhr dieser fort, "bestimmt unser Handeln, aber
wir beherrschen es nicht. Wir haben keinen Einfluß auf die Gedanken, die uns
zum Wohltäter oder zum Mörder machen. Das Gute, das wir tun, ist nicht unser
Verdienst. Frei von Schuld töten wir. Unsere einzige Rettung wäre das
unaufhörliche Sprechen, eine endlose Gedankenbeichte. Aber seien Sie unbesorgt,
ich werde Ihre Aufmerksamkeit nicht länger in Anspruch nehmen."
Er legte Geld auf den Tisch.
"Ich befreie Sie von meiner Gegenwart."
Mit dem gleichen Lächeln, mit dem er sich hingesetzt hatte, verließ er den
Speisewagen.
Erst jetzt bemerkte Berger, daß er den Apfelkuchen mit Sahne bestrichen und
Milch und Zucker in die leere Tasse geschüttet hatte. Rasch goß er Kaffee dazu
und nahm einen Bissen vom Kuchen. Später setzte er sich zurück auf den
Fensterplatz und trank den Whisky, den der Kellner, als der Mann schon gegangen
war, hingestellt hatte. In Salzburg rief er gleich seinen Vetter an.
"Hallo, hier Gustav. Ich bin in Salzburg."
Die Reaktion des Verwandten erstaunte ihn: "Wie war die Fahrt? Bist du mit
dem Auto gekommen? "
"Nein, mit dem Zug. Ich rufe aus einer Telefonzelle vom Bahnhof an."
"Das beste, du nimmst ein Taxi", sagte der Vetter. "Wir erwarten
dich schon."
Da wußte Berger, daß er verwechselt wurde. Seine Erinnerungen an den um fünf
Jahre Älteren, den er seit früher Kindheit nicht mehr gesehen hatte,
beschränkten sich auf gemeinsame Erlebnisse, von denen es Fotos gab, eine Reise
mit der Familie nach Südtirol, Geburtstage, Weihnachtsfeste. Nach einem Umzug
war die Verbindung abgebrochen. Doch war der Cousin durch Erzählungen stets
präsent geblieben. Man nannte ihn ein Musikgenie, das eine glänzende Karriere
als Pianist vor sich habe. In Berger, der sich für nichts besonders geeignet
hielt, hatte sich ein mit Wehmut gemischter Neid entwickelt. Es hätte ihm viel
bedeutet, von dem Bewunderten mit Freude empfangen zu werden. Nun mußte er
damit rechnen, eine Enttäuschung hervorzurufen. Man war auf den Besuch eines
anderen eingestellt. Womöglich würde sein Erscheinen als störend empfunden
werden. Obwohl er sich dies vor Augen führte, bestieg er ein Taxi und sagte:
"In die Steingasse bitte."
Die Adresse hatte er dem Telefonbuch entnommen. Während der Fahrt war er nahe
daran, seinen Plan aufzugeben und sich zu irgendeiner Sehenswürdigkeit, dem Dom
oder Mozarts Geburtshaus, bringen zu lassen. Ein Gefühl aus Neugier,
Abenteuerlust und Sehnsucht nach Schmerz hielt ihn zurück. Er fürchtete, wieder
in jene Passivität zu verfallen, in der er wie ferngesteuert einem fremden
Willen gehorchte.
"Welche Hausnummer?" fragte der Taxifahrer.
"Siebenunddreißig. "
Es war die falsche. Berger wollte nicht, daß seine Ankunft beobachtet wurde.
"Du bist das also", sagte der Vetter, als sie sich an der Wohnungstür
gegenüberstanden. "Deine Schwester hat dich ganz anders beschrieben.
"
Dann umarmte er den vermeintlichen Bruder seiner Verlobten.
"Komm herein. Hast du denn kein Gepäck?"
Bergers Blick fiel auf ein gerahmtes Bild an der Wand, das einen Frauenkopf
zeigte.
"Ich habe es auf dem Bahnhof gelassen."
"Aber du wohnst doch bei uns."
"Nein, sei mir nicht böse, ich würde mir lieber ein Zimmer nehmen."
Sein Entschluß, den Irrtum vorerst nicht aufzuklären, machte es nötig, die
Worte genau zu wählen. Vor allem mußte er darauf achten, im Gespräch das
Persönliche auszuklammern.
"Wie du meinst", sagte der Vetter. "Es war nur ein
Angebot."
Sie traten in einen großen Raum, in dessen Mitte ein Flügel stand. Durch ein
breites, zur Aussicht einladendes Fenster konnte man den Mönchsberg und die
darunter liegende Altstadt sehen. Es dämmerte. Die Straßenlampen waren schon
eingeschaltet, die Burg und die Kirchen von Scheinwerfern angestrahlt.
"Ein Traum", sagte Berger. "Besteht in solcher Umgebung nicht
die Gefahr, daß man den Sinn für die Realität verliert?"
Der Cousin lachte auf.
"Nein, man gewöhnt sich. Mit der Zeit kommt einem selbst die schönste
Stadt häßlich vor. Die Wirklichkeit ist im Kopf. Das Auge sucht die Beruhigung.
Die ideale Umgebung für einen Künstler ist die Natur. Hat Agnes dir nicht
erzählt, daß wir aufs Land ziehen wollen, sobald sie mit ihrer Ausbildung
fertig ist?"
Die Türglocke schrillte.
"Das wird sie sein."
Er lief hinaus, um zu öffnen. Nun war es für Berger zu spät, das Spiel zu
beenden. Am Fenster stehend, lauschte er den Geräuschen im Flur.
"Entschuldige", sagte die Frau, die ihn sogleich entlarven würde,
"ich konnte den Schlüssel nicht finden."
"Rate, wer da ist."
"Gustav?"
Sie stürzte ins Zimmer. Berger drehte sich um. Ihr Gesicht drückte nacheinander
Erschrecken, Verwirrung, Staunen und zuletzt eine Art Komplizenschaft aus, die
sich mit einem Lächeln tarnte.
"Willst du mich nicht begrüßen, Bruder?"
Er ging auf sie zu. Sie küßte ihn auf die Wangen. Der Cousin drehte den
Lichtschalter an.
"Der junge Herr zieht es vor, im Hotel zu schlafen."
"Ach ja?"
In ihrer Stimme schwang ein spöttischer Unterton. Berger mußte an gewisse
Boulevardstücke denken, in denen sich eine bestimmte Person nicht zu erkennen
gibt, damit eine andere, etwa die Geliebte, deren Ehemann früher als erwartet
nach Hause kommt, nicht in Bedrängnis gerät. Als er versuchte, sich seine Rolle
in einem solchen Stück vorzustellen, merkte er, daß er, indem er sich
verleugnete, nur sich selbst in Bedrängnis brachte.
"Ich glaube, ich möchte jetzt gehen", sagte er.
Die Frau, die sich in einen Fauteuil gesetzt hatte, stand ruckartig auf.
"Das verstehe ich, Bruderherz. Ich fahre dich mit dem Wagen."
Im Aufzug begann er sofort zu sprechen.
"Ich muß Ihnen... "
"Nein", unterbrach sie ihn. "Erkläre mir nichts."
"Aber das ist doch... "
"Sei still!"
Sie preßte ihm die Hand auf den Mund. Die Gewalt, mit der sie dies tat, weckte
in ihm ein bis dahin nie gespürtes Verlangen. Er wollte sie niederringen. Im
Auto rückte er so nahe an sie heran, daß sein Knie ihren Schenkel berührte. Sie
ließ es geschehen. Doch als er den Rock hochschob, schlug sie ihm auf die
Finger. Die Art, wie sie ihm zu verstehen gab, daß sie zwar willig, aber
zugleich die Bestimmende war, erregte ihn so, daß er sich kaum noch beherrschen
konnte. Wohin sie fuhren, nahm er nicht wahr. Am Stadtrand bog die Frau in ein
Waldstück ein. Das Auto hielt. Wie im Rausch fiel er über sie her. Da sagte
sie:
"Komm!" Und dann: "Bruder."
Er hatte die Hände um ihren Hals gelegt. Als ihre Lippen sich wieder öffneten,
drückte er zu. Sie wehrte sich. Mit ihrem Widerstand wuchs seine Kraft. Erst
als sie sich nicht mehr bewegte, ließ er sie los. Ihr Kopf rutschte zur Seite.
Ihre Arme hingen schlaff neben dem Fahrersitz. Berger stieg aus. Es hatte zu
regnen begonnen. Er lief bis zur Straße vor. Die entgegenkommenden Autos
blendeten ihn. Manche fuhren so nahe an ihm vorbei, daß er den Luftstrom
spürte. Von den Reifen spritzte das Wasser auf. Er griff in die Hosentasche, um
festzustellen, ob er das Geld noch hatte. An einer Kreuzung hielt er ein Taxi
an. Der Fahrer öffnete ihm die Vordertür. Er stieg aber hinten ein. Aus zwei
Lautprecherboxen über der Rückenlehne kam laute Musik.
"Zum Bahnhof", sagte er, "oder nein, warten Sie! Was würde es
kosten, wenn Sie mich gleich nach München fahren?"
"Nach München?"
"Ich frage nur."
Er nahm über den Rückspiegel Blickkontakt mit dem Fahrer auf.
"Zweitausend Schilling werden Sie dafür schon rechnen müssen."
"Ich zahle Ihnen das Doppelte, aber nur, wenn Sie nicht rauchen und die
Musik abstellen."
"Kein Problem", sage der Mann und drehte das Radio aus.
Dann schlug er, indem er wendete, die Richtung zur Grenze ein. Berger fühlte
nun, da er saß, die Erschöpfung. Obwohl ihn fröstelte, schwitzte er. Das Hemd
klebte am Körper. Er zog die Jacke und die durchnäßten Schuhe aus. Die Jacke
hängte er an einen der Kleiderhaken zwischen den Seitenfenstern. In die Schuhe
schlüpfte er halb wieder hinein, denn noch zögerte er, die Beine hochzulegen.
Damit der Fahrer mit ihm kein Gespräch beginne, schloß er die Augen. Sie
erreichten die Auffahrt zur Autobahn. Er hörte das Klicken des Blinkers, das
Leerlaufgeräusch beim Warten auf eine Gelegenheit, um sich einzuordnen, das
Wechseln der Gänge, dann das monotone Brummen des Motors bei rascher Fahrt.
Entsprechend der Geschwindigkeit, mit der er sich von Salzburg entfernte,
schien auch der zeitliche Abstand zu dem, was geschehen war, gleichsam rasend
zu wachsen. Die Erinnerung verflüchtigte sich.
Seine einzige Chance wäre das Reden gewesen. Aber er fand keinen ersten Satz. Hätte
er dem Fahrer erzählt, er habe die Verlobte seines Cousins auf Grund einer
Verwechslung im Liebesrausch umgebracht, wäre er sich vorgekommen wie jemand,
der sich mit einer erfundenen Geschichte interessant machen will. Dieb, dachte
er, und jetzt? Mörder? Er stellte sich das Wort auf dem Titelblatt einer
Zeitung vor. Es auf sich anzuwenden, erschien ihm lächerlich. An der
Zollstation tat er, als wäre er eingeschlafen. Der Fahrer ließ das Fenster
herunter. Der Zollbeamte sah in den Fond und winkte zum Zeichen, daß er
passieren dürfe. Berger erinnerte sich, daß er als Kind an belebten Orten die
Augen geschlossen hatte, um zu prüfen, wie lange er seine Neugier bezähmen
könne. Durch Übung war es ihm schließlich gelungen, sein Desinteresse an dem,
was um ihn geschah, so sehr zu steigern, daß nicht einmal Geräusche in nächster
Nähe ihn dazu brachten, die Augen zu öffnen.
Es war ein Spiel, dachte er, eine kindische Hoffnung. Dabei nickte er ein. Sein
Kopf neigte sich langsam, bis das Kinn fast die Brust berührte, schnellte hoch,
neigte sich wieder. Im Traum begann er sofort zu sprechen. Ohrenbetäubenden
Lärm überschreiend, gestand er dem Fahrer, er habe, so wörtlich, eine Bluttat
begangen. Zum Beweis zeigte er seine Hände vor. Doch es klebte kein Blut an
ihnen. Als er den Tathergang schildern wollte, schwoll der Lärm zu solcher
Lautstärke an, daß er erwachte. Der Regen trommelte auf das Wagendach. Die
Scheibenwischer rissen den Wasservorhang nur für Sekundenbruchteile auf. Die
Rücklichter der in Kolonne fahrenden Autos verschwammen zu einer Prozession
roter Punkte. Berger hielt das nicht für Wirklichkeit.
Er glaubte, sein Erwachen geträumt zu haben. Als er dem Fahrer vorschlagen
wollte, an der nächsten Raststätte haltzumachen und das Unwetter abzuwarten,
merkte er, daß er die Stimme verloren hatte. Der Mund formte Wörter, aber es
kam kein Ton heraus. Egal, dachte er, es ist ein Traum. Er kannte die Träume,
in denen der Schlafende weiß, daß er träumt. Doch wann war er eingeschlafen? Er
verfolgte die Ereignisse in Gedanken zurück. War es möglich, daß er immer noch
vor dem Fernseher saß, in der Hand wie eine zum Feuern bereite Waffe die
Fernbedienung? Hatte die Angst vor dem Ertrinken ihn nicht geweckt? Er legte
die Füße hoch. Der Regen ließ nach. Die Kolonne löste sich auf. Das Taxi
schlitterte auf dem nassen Asphalt, überschlug sich und prallte gegen ein
Ausfahrtschild. Der Fahrer wurde hinausgeschleudert. Berger mußte, bevor er ins
Freie kroch, seine Schuhe suchen. Die Tür klemmte ein wenig. In Todesgefahr,
dachte er, wäre er aufgewacht.
Schon als Knabe hatte ihn das Phänomen, daß der Mensch seinen Tod nicht träumt,
fasziniert. In Diskussionen mit seinem besten Freund, Haller, hatte er es als
Argument gegen den Selbstmord verwendet. Während er wartete, daß jemand zu
Hilfe kam, fiel ihm ein, daß der Freund nur erwidert hatte, der Mensch sei,
wenn er träume, nicht bei Verstand. Autos rauschten vorbei. Keines hielt an.
Einige hundert Meter entfernt erblickte Berger vor dem Hintergrund des
verhangenen Himmels, in gleißendes Licht getaucht, eine Shell-Tankstelle. Dort
ging er hin, um den Tankwart durch Zeichen und Gesten dazu zu bringen, die
Polizei zu holen. Es kam jedoch anders. An einer Zapfsäule stand ein Mercedes
mit offenen Türen, von dessen Besitzer weit und breit nichts zu sehen war. Der
Zündschlüssel steckte. Hemmungslos wie nur im Traum, stieg Berger ein und
setzte die Fahrt Richtung München fort. Seinen Paß warf er an der an der
Ausfahrt nach Rosenheim aus dem Fenster.
Einen Führerschein besaß er nicht, aber genügend Fahrpraxis, da ihn Haller
gelegentlich ans Steuer seines Opel gelassen hatte. Es regnete nicht mehr. Er
konnte mit hohem Tempo fahren. Die Autos vor ihm scheuchte er mit dem Fernlicht
zur Seite. Im Rausch der Geschwindigkeit spürte er seine Verletzungen nicht. Um
sich die Zeit zu vertreiben, dachte er sich Schlagzeilen aus: Mörder nach der
Tat schwer verunglückt, Flucht in gestohlenem Auto endete tödlich. Die Einfahrt
ins Stadtgebiet überraschte ihn so, daß er scharf bremsen mußte. In der Einsteinstraße
ließ er den Wagen stehen und fuhr mit der U-Bahn weiter. Die Menschen starrten
ihn an. Er hatte das im Traum oft erlebt. Erst als er sich im Aufzug im Spiegel
sah, wußte er, daß er nicht träumte. Sein Haar war von Blut verklebt, die
Kleidung zerrissen. Humpelnd schleppte er sich zur Wohnungstür, an der das
Namensschild fehlte.
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Erschienen im Rospo-Verlag, Hamburg, 1998