Simering I



Dem zum Export bestimmten Rind wird ein elektrisch geladener Stab in die Hoden gestoßen, damit es über eine Planke das Schiff erklimmt, auf dem es das Land, in dem es geschlachtet wird, lebend erreichen soll. Wenn es vor Erschöpfung zusammenbricht, wird es an den Vorderbeinen mit einem Kran in die Höhe gezogen und auf das Schiff geworfen. Dort liegt es dann mit gebrochenen Knochen. Das Gesicht kann es im Schmerz nicht verzerren. In den Augenblicken der größten Pein stößt es ein dumpfes Brüllen aus. Hört man auf, es zu quälen, ist es sofort wieder still. Bewegt es sich nicht, ist es, so erklärte der Fernsehsprecher, gelähmt vor Angst. Berger drückte auf der Fernbedienung die Ausschalttaste. Er lag, durch zwei übereinander geschobene Kissen gestützt, auf einer mit einem Leintuch bezogenen Schaumstoffmatratze. Das mittelgroße Fernsehgerät stand in Augenhöhe auf einem Stuhl. Sonst gab es in dem frisch gestrichenen Zimmer noch keine Möbel.

Die Wohnung war ihm am Morgen ordnungsgemäß übergeben worden. Für den gebrauchten Kühlschrank hatte er eine geringe Ablöse gezahlt. Den Teppichboden des Vormieters hatte er nicht übernommen. Er liebte das knarrende Geräusch von Schritten auf blankem Parkett. Es war seine erste eigene Wohnung. Für seinen Lebensunterhalt kamen, solang er studierte, die Eltern auf. Er schaltete den Fernsehapparat wieder ein. Doch hinter den Fernsehbildern sah er in Gedanken sich selbst, und es erschien ihm absurd, ohne Wissen eines anderen dazuliegen und fernzusehen. Um sich abzulenken, tastete er, als täte es die Hand eines Fremden, nach seinem Glied und versuchte zu onanieren. Den Fernseher hatte er ausgeschaltet. Es fiel ihm schwer, sich etwas auszudenken, das ihn erregte. Einerseits durfte es nicht der bloße Abklatsch eines der wenigen sexuellen Erlebnisse sein, die er hinter sich hatte, andererseits konnte sich seine Phantasie nur an ihnen entzünden.

Aus der Nachbarwohnung drang das Geräusch der Toilettenspülung. Da gab er den Versuch, sich zu befriedigen, auf. Abendrot färbte die Wände. Ihm fiel die Szene aus dem Film "Cabaret" ein, in der Liza Minelli in einem U-Bahn-Tunnel auf die Vorbeifahrt des Zuges wartet. Sie greift nach der Hand ihres Partners. Dann kommt der Zug, und sie schreit. Durch das Fenster sah er über dem gegenüberliegenden Haus ein Stück Himmel. Es wurde dunkel. Um Licht zu machen, hätte er aufstehen und zur Tür gehen müssen. Von der Decke hing eine nackte Birne. Er hatte in der Stadt, in die er übergesiedelt war, um zu studieren, noch keine Freunde. Sein Telefon war noch nicht angeschlossen. Die wenigen Habseligkeiten, die er mitgebracht hatte, Kleidung, Schallplatten, Bücher, lagen auf dem Boden verstreut. Die Eltern hatten es nicht verstanden, daß er so schnell allein sein wollte. Sie hatten ihm ihre Hilfe beim Umziehen angeboten. Aber er hatte sie nur um Geld gebeten.

Das Schrillen der Klingel schreckte ihn auf. Er sprang hoch, lief zur Tür und öffnete durch Knopfdruck das Haustor. Dann zog er sich rasch eine Hose an. Es kam aber niemand. Wer hätte ihn auch besuchen sollen? Er drehte das Licht an. Nun konnte man ihn von gegenüber, wenn er nahe am Fenster stand, sehen. Als nächstes, dachte er, würde er Vorhänge kaufen. Hätte er Besuch gehabt, hätte es ihm nichts ausgemacht, gesehen zu werden. Er hätte es nicht bemerkt. Außer Vorhängen brauchte er noch einen Kleiderschrank, einen Tisch und ein Regal für die Bücher. Keinesfalls sollte der Eindruck entstehen, er wolle es in der Wohnung gemütlich haben. Die meiste Zeit würde er an der Universität, in den Instituten und Lesesälen verbringen. Als Studienfächer hatte er Geschichte und Philosophie gewählt, denn er hoffte, durch Vermehrung des Wissens auf diesen Gebieten die Welt zu begreifen.

Als er ans Fenster trat, um zu lüften, sah er in einer Wohnung auf der anderen Seite ein koitierendes Paar. Die Frau hatte die Beine um die Hüften des Mannes geschlungen. Im matten Licht verschwammen die Leiber. Berger zog den Reißverschluß seiner Hose auf. Da warf der Mann überraschend den Kopf zurück, so daß er ihm ins Gesicht sehen konnte. Im Einverständnis miteinander ejakulierten sie. An der Zentralheizung unter dem Fenster rann das Sperma herab. Berger legte sich auf die Matratze und sah einer Fliege zu, die um die Lampe kreiste. Sein Hirn leerte sich. Die Augen fielen ihm zu. Er schlief bis zum Morgen. Als er erwachte, wußte er nicht, wo er war. Ein Gedankenstrom riß ihn fort. Er starrte die im taghellen Zimmer sinnlos brennende Lampe an. Sein schräg aufragendes Glied hatte Träume gespeichert, an die er sich nicht erinnern wollte. Als er es umfaßte, brach er in Tränen aus.

So hatte er sich den Anfang der Freiheit nicht vorgestellt. Hastig zog er sich an, wusch das Gesicht, putzte die Zähne. Um zur Universität zu gelangen, konnte er den Bus oder die U-Bahn nehmen. Er ging zur Bushaltestelle. Es war ungewöhnlich warm für September. Obwohl er wußte, daß er den Fahrschein, den er beim Busfahrer kaufte, in einem der Stempelautomaten, die sich im Fahrzeug befanden, entwerten mußte, tat er es nicht, sondern setzte sich neben eine sommerlich gekleidete Frau, damit sie ihn auf das Versäumnis aufmerksam mache. Als sie ihn ansah, konnte er das Lächeln, mit dem er ihr danken wollte, nicht unterdrücken. Sofort war ihm klar, daß sie das nur für einen plumpen Versuch halten konnte, mit ihr ins Gespräch zu kommen. Ein zu Haß gesteigerter Widerwille erfaßte ihn. Am liebsten hätte er die Frau ins Gesicht geschlagen.

Zum Frühstücken ging er in ein Café, das den Studenten als Treffpunkt diente. Während er aß und trank, sah er immer wieder zur Tür, als ob er auf jemanden wartete. So unsinnig er es gefunden hatte, allein im Bett fernzusehen, so lächerlich erschien es ihm nun, inmitten sich fröhlich unterhaltender Menschen ein Ei zu löffeln. Er schaute auf die Uhr und verzog das Gesicht, wie man es tut, wenn eine Person, mit der man verabredet ist, sich verspätet. Dann rief er den Kellner, zahlte und ging. Als er ins Freie trat, wurde er Zeuge eines Verkehrsunfalls. Eine Radfahrerin stürzte am Straßenrand und wurde von einem Lkw überfahren. Schaulustige bildeten einen Kreis um die Unglücksstelle. Der Verkehr wurde angehalten. Man gab dem Lastwagenfahrer die Schuld. Er habe die Radlerin umgestoßen. Berger schwieg, obwohl er wußte, daß es anders gewesen war.

Die Verunglückte lag wie tot auf dem Boden. Ihr Gesicht strahlte Frieden aus. Nur das schrottreife Fahrrad zeigte die Wucht der Zerstörung. Eine beim Sturz vom Gepäckträger geschleuderte Tasche gab ihren Inhalt preis. Auf dem Trottoir lag ein Schuh. Die Menschen bestaunten ihn wie etwas Heiliges. Die Ambulanz traf ein. Weiß gekleidete Sanitäter führten die für den Notfall eingeübten Bewegungen aus. Berger wandte seine Aufmerksamkeit dem beschuldigten Fahrer zu, der von zwei Polizisten vernommen wurde. Ein Streifenwagen bildete die Grenze zwischen der Sphäre des Opfers und jener des vermeintlichen Übeltäters. In beiden Bereichen fanden rituelle Handlungen statt. Die Umstehenden gaben mehr oder weniger vehement ihre Meinung kund. Es sah so aus, als empfänden sie nichts dabei. Nur in den Zügen des Fahrers entdeckte Berger die Widerspiegelung eines Gefühls.

Der Mann hatte Angst, obwohl ihn niemand bedrohte. Das schmutzige Hemd, das er trug, die Tätowierungen an den Unterarmen ließen ihn roh erscheinen. Er paßte nicht in das vornehme Viertel der Stadt. Es war ihm peinlich, hier auszusteigen. Sein Milieu waren die an den Fernstraßen gelegenen Rastplätze und Imbißbuden, wo er mit seinesgleichen zusammentraf, zotige Witze erzählte und sich auf der stinkenden Toilette entleerte. Hin und wieder nahm er sich eine Nutte ins Führerhaus. Die Radfahrerin wurde auf eine Bahre gelegt und in das Rettungsauto geschoben. Nach dem Abtransport verlief sich die Menge. Berger, in den Anblick des Fahrers versunken, bemerkte nicht, daß er als einziger übrigblieb. Eine alte Frau trat auf ihn zu und fragte:

"Haben Sie es gesehen?"

Er entfernte sich wortlos. Die erste Vorlesung, die er besuchte, gab einen Überblick über die Philosophie der Antike. Er hatte sich ein kariertes Heft gekauft. Doch anstatt mitzuschreiben, malte er schwarze Quadrate. In der Schule, dachte er, hätte er dabei nicht ertappt werden dürfen. Er hätte seine Geistesabwesenheit hinter einer Maske verbergen müssen. Die ständige Furcht, durch eine Frage des Lehrers entlarvt zu werden, hätte ihn am Denken gehindert. Er legte den Schreibstift beiseite. Auf dem karierten Blatt war ein Schachbrettmuster entstanden. Er riß es heraus und zerknüllte es. Eine Studentin, die vor ihm saß, drehte sich um. Da sie lächelte, nahm er sich vor, sie nach der Vorlesung anzusprechen. Ihr Gesicht hatte er schon nach wenigen Sekunden vergessen. Sie hatte es ihm nur einen Augenblick zugewandt. Nun saß sie wieder mit gesenktem Kopf und stenographierte.

Ihr langes Haar teilte sich über dem Nacken. Ein dunkler Flaum kam zum Vorschein. Sie trug eine hinten geknöpfte Bluse mit Spitzenkragen. Der oberste Knopf war aufgesprungen. Berger sah in Gedanken den nackten Rücken. Er hatte die Mädchen, mit denen er bisher geschlafen hatte, nie wirklich begehrt. Er hatte nur geglaubt, sie zu lieben. Zum erstenmal packte ihn eine auf das Geschlechtliche gerichtete Lust. Er steckte das zerknüllte Blatt in die Hosentasche. Schon die leichte Berührung durch den Stoff hindurch machte den Penis steif. Der Professor sprach über Sokrates. Der Hörsaal war voll. Als sich Berger zur Seite drehte und auf das, was sein Nachbar schrieb, schaute, wunderte ihn, daß er es zugleich lesen und hören konnte. Er notierte sich einzelne Wörter. Da es den Nebenmann nicht zu stören schien, wurde er mutiger. Schließlich schrieb er Wort für Wort von ihm ab, wobei ihn das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, stimulierte.

Immer schneller flog die Hand über die Seiten. Um nicht absetzen zu müssen, ergänzte Berger die bruchstückhaften Notizen des Mitstudenten, ohne zu merken, daß er sich dabei auf die Ausführungen des Professors stützte. Er schrieb nach Diktat, aber er wußte es nicht. Lesbar war sein Geschriebenes längst nicht mehr. Eine wahre Schreibwut erfaßte ihn. Je länger er schrieb, desto seltener blickte er in das Heft seines Nebenmannes. Zuletzt unterließ er es ganz, so daß er annehmen mußte, das zu Papier Gebrachte komme aus ihm. Erst als der Professor seinen Vortrag beendet hatte und die Studenten auf die Schreibpulte klopften, stellte sich für Berger der Zusammenhang zwischen Bild und Ton wieder her. Das Mädchen vor ihm war aufgestanden. Es lächelte wieder. Das Gesicht war ihm fremd. Da er nicht reagierte, ging es mit den anderen aus dem Saal.

Sein Blick fiel auf das aufgeschlagene Heft. Er versuchte zu lesen, was er geschrieben hatte. Es wurde still. Die Studenten hatten den Hörsaal verlassen. Die Türen waren von den letzten geschlossen worden. Er nahm aus der Hosentasche die herausgerissene Seite, legte sie auf das Pult und glättete sie, so gut er konnte. Beim Betrachten des Schachbrettmusters fiel ihm der Unfall ein. Er fragte sich, warum er, als der Lastwagenfahrer beschuldigt worden war, geschwiegen hatte. Hatte er sich zum Schweigen entschlossen oder aus Furcht nicht gesprochen? Furcht wovor? Was wäre geschehen, wenn er den Fahrer verteidigt hätte? Eine Tür wurde von außen geöffnet. Jemand steckte den Kopf herein und fragte:

"Fällt Philosophie heute aus?"

"Ja", sagte Berger.

Die Tür schloß sich wieder. Er sah in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Vielleicht, dachte er, hat der Fahrer gehupt, als er die Frau überholen wollte. Vor Schreck ist sie gegen den Randstein gefahren und hat die Kontrolle über das Rad verloren. Das Hupen, das sie zur Vorsicht ermahnen sollte, hat ihren Sturz verursacht. In bester Absicht hat der Lastwagenfahrer den Tod eines Menschen verschuldet. Berger zweifelte nicht, daß die Frau an den Unfallfolgen gestorben war. Er zerriß das Blatt mit dem Schachbrettmuster und warf die Schnitzel über die Bänke. Der zweite Versuch, seine Schrift zu entziffern, löste in ihm einen Gedankenfluß aus. Er sah im Geiste den offenen Knopf an der Bluse des Mädchens, die durch das Neigen des Kopfes deutliche Wölbung des obersten Rückenwirbels, den flaumigen Haaransatz, dann das Gesicht des Mannes, den er am Abend davor beim Geschlechtsakt beobachtet hatte, dann das geschundene Rind in der Fernsehsendung über die Mißstände bei Tiertransporten.

Die Zusammenhänge begriff er nicht. Was hatte das Rind mit dem Mädchen zu tun? Warum versetzte ihn die Erinnerung an das gequälte Tier in solche Erregung, daß er dem Drang, seine Hose zu öffnen, kaum widerstehen konnte? Er beschloß, einen Spaziergang zu machen. Das Erforschen der Gesetze, nach denen sein Gehirn funktionierte, erschien ihm wichtiger als das Studieren philosophischer Denkgebäude. Das Heft ließ er im Hörsaal zurück. Es war Mittag. Aus den Büros strömten die Angestellten in einen nahen Park. Er folgte ihnen. Schon beim Betreten der Grünanlage sah er sich nach einer Sitzgelegenheit um. Im Schatten waren noch Plätze frei. Er setzte sich auf eine leere Bank, schlug die Beine übereinander und legte die Arme über die Rückenlehne. Ihm gegenüber, jenseits einer von Rabatten gesäumten Rasenfläche, saß in gleicher Haltung ein junger Mann, den er zuvor nicht gesehen hatte. Als er, um sich zu unterscheiden, die Arme verschränkte, tat es der andere auch.

Er mußte sich zwingen, nicht aufzuspringen und wegzulaufen. Als Fliehender, dachte er, wäre er aufgefallen. Daß sich der junge Mann so verhielt, als ob er ihn imitieren wollte, konnte nur Zufall sein. Der Park füllte sich. Berger vermied mit aller Kraft, sich zu bewegen. Ein Dackel beschnupperte seine Hosenbeine. Ein Kind trat vor seinen Augen in ein Begonienbeet. Als die Mutter es rief, schloß er die Augen. So unsinnig er es gefunden hatte, allein im Bett fernzusehen, so lächerlich, inmitten sich fröhlich unterhaltender Menschen ein Ei zu löffeln, so grotesk erschien es ihm nun, mit geschlossenen Augen in einem Park zu sitzen. Er konzentrierte sich auf das Akustische. Das Kind brach in Weinen aus. Er fühlte die Wut und die Scham der Mutter. Sie schämte sich vor den Menschen, die ihr die Schuld am Weinen des Kindes gaben, und sie haßte das Kind, weil es sie in eine so peinliche Lage brachte.

Das Sirenengeheul eines Rettungsautos mischte sich mit den nahen Geräuschen. Der Dackel bellte. Ein Lachen ertönte. Durch die Gleichzeitigkeit entstand der Eindruck eines Zusammenhangs. Ein Blinder, dachte Berger, könnte das Bellen für die Ursache des Lachens halten, ein blinder Idiot das Sirenengeheul für ein Mittel zur Beruhigung des Kindes. Er schlug die Augen auf. Neben dem jungen Mann saß nun die Studentin, die er versäumt hatte anzusprechen. Sie schaute zu ihm herüber. Er fuhr sich mit der Hand durch das Haar. Das Kind hörte zu weinen auf. Der junge Mann streckte die Beine aus, beugte den Kopf zurück und legte den Arm um den Hals der Studentin. Berger stand auf und verließ den Park. Unschlüssig, was nun das beste wäre, schlenderte er durch die Straßen, blieb vor dem einen oder anderen Schaufenster stehen und lauschte einem Gitarrenspieler. Dann ging er zur nächsten U-Bahn-Station und fuhr nach Hause.

------------------

Erschienen im Rospo-Verlag, Hamburg, 1998