Die Schauspielerin Rosa Albach-Retty* hat ihre Memoiren geschrieben. Die Nachfrage
ist groß. Schon kurz nach dem Erscheinen ist eine zweite Auflage nötig geworden.
Grund des Erfolges: Frau Albach-Retty ist hundertdrei Jahre und acht Monate
alt. Das ist Weltrekord. Eine ältere Schauspielerin gibt es nicht, geschweige
denn eine, die noch in so hohem Alter ein Buch schreibt.
Rosa Albach-Retty, der breiten Öffentlichkeit bisher lediglich als Romy Schneiders
Großmutter bekannt, steht ihrer Langlebigkeit fassungslos gegenüber. Jeden
Tag vor dem Einschlafen bereitet sie sich darauf vor, nicht mehr aufzuwachen.
Aber am nächsten Morgen ist sie immer noch da. Eine schwere Magenoperation
vor einem Jahr und eine Schädelfraktur im April hat sie heil überstanden.
Mit hundertzwei Jahren begann sie zu rauchen. Jetzt will sie sich das Weintrinken
angewöhnen, um ihren Appetit anzuregen. Ich besuchte die Schauspielerin in
Baden bei Wien, wo sie in einem Heim für pensionierte Künstler ihr Ende erwartet.
Als die Donaumonarchie zusammenbrach, war sie schon über vierzig. Die Kaiser
Franz Joseph und Wilhelm II. hat sie persönlich gekannt, ebenso die Dichter
Ibsen, Schnitzler und Gerhart Hauptmann. Während einer Rußland-Tournee spielte
sie vor dem Zaren, dreißig Jahre später vor Hitler in Wien. Man kann sich
vorstellen, welcher Anekdotenschatz sich in einem so langen Leben angehäuft
hat. Im Buch der Albach-Retty "So kurz sind hundert Jahre" ist einiges
davon nachzulesen. Zum Beispiel war sie zufällig dabei, als Kaiserin Elisabeth
von Österreich zwei Monate vor ihrer Ermordung in einer Dorfschänke das Gebiß
aus dem Mund nahm. In einer lauen Mondnacht flüsterte ihr Josef Kainz, Idol
einer ganzen Schauspielergeneration, "lockend, gebändigt und doch voll
Glut" Verse von Heinrich Heine ins Ohr. Offen bleibt, ob zwischen den
beiden mehr war als nur Geflüster.
Natürlich fragt jeder, der eine fast Hundertvierjährige vor sich hat, die
geht, redet und lächelt wie eine gut erhaltene Achtzigerin: Wie ist so etwas
möglich? Die Albach-Retty hat sich, seit der Publicity-Rummel um sie eingesetzt
hat, dazu etwas einfallen lassen. "Alter durch Disziplin", heißt
ihre Lösung. Von Kindheit an war ihre Lebensart maßvoll. Vom Brot aß sie am
liebsten die Rinde. Ihr größter Schmerz war der Tod ihres Kanarienvogels,
übertroffen nur noch vom frühen Hinscheiden ihres Sohnes Wolf Albach-Retty.**
Das Chaos der Weltgeschichte hat sie nicht an sich herankommen lassen. Bis
zum Kaisersturz war die k. u. k. Hocharistokratie ihr täglicher Umgang. Danach
sank ihr politisches Interesse auf Null. An Wahlen hat sie sich niemals beteiligt.
Auf der Bühne reichte ihre Spannweite von kecker Soubrette bis Salondame mit
Herz. Von Ibsens Nora war sie bereits so überfordert, daß sie hinter der Bühne
einen Heulkrampf bekam. 1958 ist sie zum letztenmal aufgetreten.
"Ich habe es halt genommen, wie es gekommen ist", sagt sie. "Wenn
es schlecht ging, habe ich gedacht, es wird schon wieder besser werden."
Eiserner Fatalismus, Schicksalsergebenheit bis zur Ignoranz: Das ist das Geheimnis
ihres ausdauernden Daseins. Für das Böse in der Welt hat sie keine Erklärung,
höchstens die, daß vielleicht "der liebe Gott es extra gemacht hat, damit
ein Gegensatz da ist, und die Menschen das Gute mehr schätzen".
Und doch: Kurios ist es schon, diesem schwindenden Etwas im blauen Crêpe-Kleid
mit Perlen am Hals und einer kaum noch wirklichen Mädchenstimme gegenüberzusitzen.
Vierundvierzig Kilo wiegt sie nur noch. Morgens um sechs steht sie auf, reibt
sich ihr Gesicht mit Baby-Creme ein, trinkt Kaffee und geht eine halbe Stunde
am Wasser spazieren. Seit ihrem Schwindelanfall vorige Ostern muß sie dazu
einen silbernen Krückstock zu Hilfe nehmen. "Enten und Gänse interessieren
mich sehr", sagt sie. "Menschen weniger". Manchmal klagt sie,
daß ihr Enkelin Romy*** nicht schreibt und sich im Film vor allen Leuten nackt
auszieht. An Tagen, an denen der Stuhlgang ausbleibt oder die Beine schmerzen,
fragt sie sich, wofür sie noch auf der Welt ist. Gelegentlich läßt sie sich
Philosophisches von Schopenhauer und Kant vorlesen. Das Fernsehen hat sie
ganz aufgegeben. "Da ist ja nur noch von Bomben und Verbrechern die Rede."
Nachmittags empfängt sie Besuche, nimmt Blumen entgegen und schreibt Autogramme.
Ab neun Uhr abends denkt sie ans Sterben, denn im Jenseits wird sie, dessen
ist sie gewiß, "die geliebte Mama, ihren Sohn und den Kainz wiedertreffen".
Auf die Frage nach ihrer Lieblingsspeise antwortet sie: "Schlaftabletten."
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*) Rosa Albach-Retty (1874 - 1980) spielte von 1895 bis 1903 am „Deutschen
Volkstheater“ in Wien, danach war sie Mitglied des Wiener Burgtheaters, seit
1905 mit dem Titel „Hofschauspielerin“.
**) Wolf Albach-Retty (1906 - 1967), Film- und Theaterschauspieler, heiratete 1936 die Filmschauspielerin Magda Schneider, Vater Romy Schneiders
***) Romy Schneider starb 43-jährig am 28. Mai 1982.
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Erschienen am
2. September 1978 in der Münchner "Abendzeitung"