Rausch

(ein Fragment, 1997)



Es ist sieben Uhr früh. Ich habe mich an den Schreibtisch gesetzt. Erst das Schreiben ermöglicht es mir, die Liebe jener Frau zu erwidern, um die seit einem Jahr meine Gedanken kreisen. Bestimmt schläft sie noch. Vor neun wacht sie nie auf. Als sie noch bei mir wohnte, hat sie mir nach dem Aufwachen ihre Träume erzählt. Es waren druckreife Geschichten. Seit wir die Nächte getrennt verbringen, ruft sie nach dem Aufwachen an. Aus dem Anrufbeantworter höre ich dann ihre Stimme und hebe ab. Die Zeit zwischen meinem Aufwachen und ihrem Anruf fülle ich mit dem Schreiben aus. Wenn ich ein, zwei Sätze geschrieben habe, lege ich mich wieder ins Bett und warte, ob mich ein neuer Satz dazu zwingt, aufzustehen und ihn aufzuschreiben. Es ist tatsächlich ein Zwang, denn lieber würde ich liegenbleiben. Es kommt nicht darauf an, wie viele Sätze ich schreibe. Manchmal genügt schon ein einziger gelungener Satz, damit ich, wenn sie anruft, den Hörer abnehmen kann. Nach mehr als zehn Sätzen, spätestens nach einer Seite, wird der Drang, sie zu sehen, so groß, daß ich der Versuchung, sie anzurufen und sie dadurch zu wecken, nur widerstehen kann, indem ich fluchtartig, auf die Morgentoilette verzichtend, die Wohnung verlasse.

Gestern bin ich um acht Uhr aus dem Haus gegangen. Kaum war das Haustor hinter mir zugefallen, dachte ich, daß sie ausnahmsweise schon vor neun Uhr aufwachen und mich anrufen könnte. Unverzüglich bin ich die vier Stockwerke wieder hinaufgelaufen. Außer Atem habe ich aufgeschlossen und bin in das Zimmer, in dem das Telefon steht, gestürzt. Das gelbe Licht auf dem Anrufbeantworter leuchtete nicht. Ich las die Sätze, die ich zuvor in den Computer eingetippt hatte und löschte sie. Jetzt ist es fünf Minuten nach sieben. Diesmal habe ich mich nach den ersten Sätzen nicht hingelegt. Ich habe mich mit dem Wenigen, das mir bisher genügte, nicht zufriedengegeben. Ich werde, obwohl eine Seite geschrieben ist, dem Drang, Brigitte zu sehen, widerstehen. Ich werde nicht aus der Wohnung flüchten. Ich werde mir den Wunsch, mein Gefangener zu sein, endlich erfüllen. Ich werde der Richter und der Verurteilte sein, der Sträfling und der Gefängniswärter, der Herr und sein Untertan.

Die Wohnung ist meine Gefängniszelle. Die Klingel ist ausgeschaltet. Jeder Gedanke, der mir durch den Kopf schießt, wird sofort eingetippt. Würde ich mich an meine Träume erinnern, würde ich sie als Gedanken niederschreiben. In der ersten Zeit unserer Liebe habe ich Brigittes Träume, die sie mir nach dem Aufwachen oder noch, bevor sie richtig aufgewacht war, mit geschlossenen Augen erzählte, auf einem neben dem Bett bereitgelegten Block mitgeschrieben. Der Wortschatz, über den sie in jenem halbbewußten Zustand verfügte, die Präzision ihrer Ausdrucksweise, die Bildkraft ihrer sonst nüchternen Sprache verblüfften mich. Sie ist eine Dichterin. Aber davon will sie nichts wissen.

Als ich sie kennenlernte, war sie die Geliebte meines über lange Zeit besten Freundes. Ich faßte sofort Vertrauen zu ihr. Aber vielleicht ist das nur der Anfang einer Geschichte, durch die mein Schreiben, würde ich versuchen, sie fortzusetzen, ins Stocken geriete. Ein zweites Mal schaue ich nicht auf die Uhr. Zu meiner Überraschung habe ich den Text in Absätze gegliedert. Daß ich gestern den Lift nicht benutzte, lag daran, daß ich den Gedanken an das Stillstehen während der Hinaufbeförderung nicht ertrug. In Fahrzeugen, deren Geschwindigkeit ich nicht beeinflussen kann, werde ich ungeduldig. Wenn meine Erinnerung mich nicht täuscht, trug Brigitte, als ich sie zum erstenmal sah, das Haar nach oben gebunden. Das machte sie älter. Ich darf mich nicht dazu hinreißen lassen, nach den Ursachen für das Gefühl, das uns verbindet, zu forschen.

Natürlich ist meine Situation mit der eines Strafgefangenen nur bedingt zu vergleichen. Zwar muß auch ein Häftling ständig gewärtig sein, daß er beobachtet wird. Aber tatsächlich wirft der Gefängniswärter nur hin und wieder einen Blick in die Zelle, während ich mich ununterbrochen bei allem, was ich tue, beobachte. Wäre ich in einem richtigen Gefängnis, müßte ich zur Verrichtung der Notdurft den Raum nicht verlassen. Ich könnte den Schreibtisch vom Klosett aus im Auge behalten und liefe nicht Gefahr, durch einen Gedanken abgelenkt, den Kontakt zu der Beschäftigung, die jetzt meine einzige Kraftquelle ist, zu verlieren. Den Blick auf den mit Schrift gefüllten Computerbildschirm gerichtet, könnte ich die Sätze, die mir während der Entleerung einfallen würden, in meinem Gedächtnis speichern. Ich fürchte die Momente der Selbstvergessenheit, obwohl ich weiß, daß sie das Glück bedeuten. In der Denkpause, die sich zwischen zwei Absätzen zwangsläufig einstellt, ist die Gefahr des Stockens am größten. Ich beobachte mich, aber ich muß verhindern, daß mich die Selbstbeobachtung lähmt.

Wenn Brigitte anruft, hebe ich nicht ab. Mein Schreibtisch ist zu einem Altar geworden, an dem ich mein Schicksal beschwöre. Vielleicht sollte ich, um mich gegen die Störung durch einen Anruf zu schützen, das Telefonkabel aus der Steckdose ziehen. Doch erstens müßte ich dazu in ein anderes Zimmer gehen, zweitens wäre ich durch den Gedanken, daß mich Brigitte zu erreichen versucht, noch mehr gestört. Letzte Nacht habe ich erst, nachdem ich mich befriedigt hatte, einschlafen können. Die Versuchung, das eben erst angefangene Experiment abzubrechen, indem ich das bisher Geschriebene auf dem Computer lösche, wird übermächtig. Ich hebe das Rauchverbot auf. Die Zigarettenschachtel liegt in der rechten Schreibtischlade, das Feuerzeug neben dem Aschenbecher. Wenn Brigitte anruft, während ich nicht am Computer sitze, bin ich verloren. Einerseits wächst durch das Schreiben mein Verlangen nach ihr, andererseits kann ich es nur durch das Schreiben bezähmen. Als sie noch bei mir wohnte, habe ich keine Zeile geschrieben. Sie hat mich um den Verstand gebracht.

Es geschah an einem ungewöhnlich heißen Tag im September. Als wir auf dem Weg nach Linz, wo wir ihre Schwester vom Zug abholten, an einem See haltmachten, um uns zu erfrischen, schlüpfte sie, während Kurt noch damit beschäftigt war, im Kofferraum seines Autos eine Badehose zu suchen, so schnell aus den Kleidern, daß ich sie plötzlich, wenn auch aus einiger Entfernung und nur von hinten, nackt vor mir sah. Sie stand, das rechte Bein angewinkelt, mit über dem Nacken verschränkten Händen. Ich saß im Gras. Da ich den See mit einem einzigen Blick ganz überschauen konnte, sah es so aus, als wäre er nur eine seitliche Ausbuchtung ihres das andere Ufer von den Achseln aufwärts überragenden Körpers. Eine Weile verharrte sie regungslos. Dann lief sie los. Als sie bis zum Hals im Wasser verschwunden war, drehte sie sich um und rief: "Warum kommst du nicht?" 

Kurt hatte das Suchen aufgegeben und beschlossen, auf das Bad zu verzichten. Er sagte, ihm genüge die frische Luft. Ich zog mich aus, nahm Anlauf und warf mich mit einem Hechtsprung ins Wasser. Brigitte war schon bis zur Mitte des Sees geschwommen. Ihr durch die spiegelglatte Oberfläche vom restlichen Körper getrennter Kopf rief in mir die Vorstellung einer Hinrichtung hervor. Mit wenigen Zügen hatte ich sie fast eingeholt. Sie bespritzte mich, wie um mich von sich fernzuhalten. Ich schwamm so nahe an sie heran, daß ich ihre bläulichen Brüste sah. Als wollte ich ihren Körper wieder zusammenfügen, drückte ich, scheinbar zum Spaß, den Kopf mit aller Gewalt unter das Wasser. Sie strampelte und schlug um sich. Ich spürte, wie sie um ihr Leben kämpfte. Als ich sie auftauchen ließ, stand ihr die Angst im Gesicht geschrieben.

Nachdem ich gestern in die Wohnung zurückgekehrt war, habe ich mich auf das Bett gelegt und in aller Ruhe auf Brigittes Anruf gewartet. Wir haben uns verabredet und sind mit dem Auto an den Starnberger See gefahren. In Tutzing haben wir uns ein Boot gemietet. Sie bestand darauf, mich zur Roseninsel zu rudern.

Eine Fliege hat sich auf den Bildschirm gesetzt. Würde ich das Fenster öffnen, damit sie ins Freie kann, wäre mein Schreibfluß solang unterbrochen, bis sie die Öffnung gefunden hat. Das Licht der Morgensonne fällt auf den Schreibtisch und läßt das Geschriebene blaß erscheinen. Eines Tages wird etwas erfunden werden, das die Gedanken automatisch in Schrift verwandelt.

Ohne es zu merken, habe ich mir eine Zigarette genommen, sie angezündet und auf den Aschenbecher gelegt. Während ich den aufsteigenden Rauch betrachtete, wiederholte ich im Geiste die zuletzt geschriebenen Sätze. Unwillkürlich fielen mir mögliche Korrekturen ein. Es kommt mir nicht darauf an, daß ich die Wahrheit schreibe. Wenn ich mit Brigitte schlafe, stelle ich mir vor, ich wäre ein heimlicher Beobachter, der im Gebüsch onaniert. Als ich vom Boot aus ins Wasser sprang, lachte sie auf und rief, wenn sie wollte, könnte sie mich ertrinken lassen. Bevor ich sie kannte, wirkte das Denken an den Tod auf mich wie eine Beruhigungspille.

Sicher ist die Fliege nicht das einzige Lebewesen, mit dem ich die Wohnung teile. Als ich mich vor zwei Jahren an dem Entlüftungsrohr meines Durchlauferhitzers erhängen wollte, mußte ich bei dem Gedanken, der Strick könnte reißen, lachen, was zur Folge hatte, daß ich den Kopf aus der Schlinge zog und mich auf den Stuhl, den ich unter das Rohr gestellt hatte, setzte. Um mich als Gefängnisinsasse fühlen zu können, müßte ich den Schlüssel aus der von innen abgesperrten Wohnungstür ziehen und aus dem Fenster werfen. Warum fällt mir in diesem Augenblick Kains Mord an Abel ein? Wahrscheinlich habe ich das Schlagen der Kirchturmuhr überhört. Der Verbrecher wird nicht schuldig durch das Verbrechen. Er begeht es, damit er begreift, warum er sich schuldig fühlt. Aus dem Nebenzimmer höre ich meine Stimme: "Grüß Gott, ich bin leider im Moment nicht zu Hause ... "

Weiterschreiben, befehle ich mir. Die Ansage auf dem Anrufbeantworter ist eine Lüge. Brigitte ist eingeweiht. Sie weiß, daß ich zu Hause bin. Jetzt kommt der Pfeifton. Ich halte den Atem an. Sie ist es nicht. Ich atme aus. Ich liebe sie. Ich kann ohne sie nicht mehr leben. Ich sage laut ihren Namen: "Brigitte, Brigitte." Wie ein Schauspieler auf seine Rolle, so bereite ich mich auf das Lügen vor. Meine Tante in Wien ist gestorben. Mein bester Freund hat sich umgebracht. Mein Doppelgänger hat sich in Luft aufgelöst. Ich möchte allein sein. Ich kann heute nicht sprechen. Vater unser, der du bist im Himmel, gegrüßet seist du, Maria ... Wieviel Zeit habe ich noch? Meine Armbanduhr liegt auf dem Tisch. Die wievielte Zigarette habe ich schon geraucht? Welches Gefühl schnürt mir plötzlich die Kehle zu? Als Kind habe ich den Fliegen an den Fenstern im Treppenhaus sowohl die Flügel als auch die Gliedmaßen ausgerissen. Meinen Kanarienvogel habe ich solange durch das Zimmer gescheucht, bis er mir vor Erschöpfung nicht mehr entkommen konnte. Meinen Geständnissen werden die Taten folgen.

Als Brigittes Kopf aus dem Wasser tauchte, stammelte ich etwas zu meiner Entschuldigung. Aber da hatte sie sich schon abgewendet. Ich staunte, wie rasch sie zum Ufer kraulte. Ohne sich abzutrocknen, schlüpfte sie in ihr Kleid, so daß es am Körper klebte. Auf der Weiterfahrt nach Linz sprach sie kein Wort. Kurt, der am Steuer saß, legte die rechte Hand, während er mit der linken lässig das Lenkrad hielt, auf ihr Knie. Im Rückspiegel sah ich seine Augen auf mich gerichtet. 

Im Hof bellt ein Hund. Kinder schreien. Ich ertappe mich dabei, auf Brigittes Anruf zu warten. Wenn ich jetzt aufhöre zu schreiben, kann es geschehen, daß ich mir Schmerz zufüge. Aber sprich nur ein Wort, schon wird meine Seele gesund... Mich dreimal bekreuzigend, habe ich mich vor dem Bildschirm verneigt. Es ist Viertel nach acht. Im Versteck der Sprache ereilt mich das Schicksal nicht. Obwohl ich mich der Festigkeit des Strickes, bevor ich den Kopf durch die Schlinge schob, vergewissert hatte, rettete mir der Gedanke, er könnte reißen, das Leben. Enttäuscht darüber, daß die ihrer Flügel und Beine beraubten Fliegen nicht sofort krepierten, habe ich sie mit einem leichten Schlag betäubt und dann auf dem Boden zertreten. Zur Vertreibung des Vogels von der Vorhangstange über dem Wohnzimmerfenster nahm ich den Besen zu Hilfe.

Vernünftiger als die Selbstbefriedigung wäre das Studium der Nachschlagewerke in dem Bücherregal hinter mir. Wer stellte in Rom die rhetorischen Fragen? Erst die Ankündigung macht die Absage möglich. Stolz rückt der Bauer dem König zu Leibe, weil der Springer ihn deckt. Um halb neun hat Brigitte noch nie angerufen. Welcher Satz beendet die Atemnot? Wenn der Kopfschmerz nicht nachläßt, werde ich eine Tablette nehmen. Die Sprache ist die Form, in die ich mein Denken zwinge, nicht meine Verzweiflung, nicht meine Angst, nicht meine Liebe. Andere begehen die Taten, deren ich mich bezichtige. Ungeschützt kann der König dem Bauern trotzen.

Schlägst du den Läufer an meiner Seite, töte ich dich. Statt eine Tablette zu nehmen, werde ich die Anrufe auf dem Anrufbeantworter löschen. Mein Steuerberater braucht eine Auskunft. Ich bin verreist. Ich melde mich, sobald wie möglich. Mit Nahrungsmitteln bin ich versorgt. Wäre Krieg, so wäre dies der Moment, in dem ich die Waffen strecke. Meine Befehle mißachtend, würde ich, resignierend vor dem besiegten Feind, die Gefallenen adeln durch Unvernunft.

Als Brigitte beim Frühstück Camus zitierte, merkte ich, daß meine Hand, die das Messer hielt, mit dem ich das Brot bestrich, zitterte. Einerseits wünschte ich, daß sie es sah, andererseits versuchte ich, es zu verbergen. Träume bei vollem Bewußtsein nennt man Erinnerung. Um mich in die schlicht eingerichtete Wohnküche zurückzuversetzen, in der wir einander, von Enttäuschung gezeichnet, gegenübersaßen, müßte ich für eine Weile die Augen schließen. Drei Tage brennt das ewige Licht. Oh Schmerz im Geschlecht! Verschont mich mit eurem Mitgefühl bis zum Abendrot, aber vergeßt mich nicht, wenn ich nachts lautlos schreie!

Während ich mit Brigittes Schwester schlief, habe ich die Sekunden gezählt. Der Kopfschmerz hat nachgelassen. Ich zähle die Seiten nicht mehr. Sie würden reichen für zehn Tage Liebe. Einzig mein Steuerberater hat mir zum Geburtstag noch gratuliert. Als sich Brigitte das Mitschreiben ihrer Träume verbat, wußte ich, daß sie bald ausziehen würde. Vielleicht sollte ich das Wort "Liebe" nicht mehr benutzen. Es hat sich herumgesprochen, daß ich den Tag meiner Zeugung verfluche. In letzter Zeit gehe ich wieder häufiger ins Theater. Von einer Nutte würde ich verlangen, daß sie mich durch fortwährendes Sprechen in Atem hält. Die Zahl der nur gedachten übersteigt inzwischen die der geschriebenen Sätze.

Mein Gott, wenn ich daran denke, wie wichtig ich früher die Fähigkeit, sich zu entscheiden, nahm! Der Farbe der Entschließung wird des Gedankens Blässe angekränkelt. Wenn ich mich recht erinnere, habe ich nur zweimal ein Buch in einem Zug durchgelesen. Die nur gedachten Sätze genügen den grammatikalischen Regeln nicht. Auch das Wort "Hoffnung" will ich aus meinem Wortschatz streichen. Sire, geben Sie Gedankenfreiheit! Ich schließe die Augen. Natürlich war es Absicht, als mir Brigitte verschwieg, daß sie und Ruth Zwillinge sind. Bereit, von Frauen zu lernen, gebe ich mich meinem Schicksal hin. Liebe kennt der allein, der ohne Hoffnung liebt. Ungern verzichte ich auf den tröstlichen Klang einer falschen Benennung. Das Tier muß sich nicht entscheiden. Mit dem Mut der Verzweiflung übergehe ich die Gedanken, die nicht als fertige Sätze auf dem Bildschirm erscheinen.

Mein Erfindungsgeist hat die Stubenfliege in eine Aasfliege verwandelt. Auf der Rückfahrt von Linz nach Gmünd habe ich meine Hand auf Ruths Schenkel gelegt. Brigitte hatte darauf bestanden, daß wir im Auto nebeneinandersitzen. Jetzt ist es Viertel vor neun. Wenn sie aufwacht, schlägt sie für einen Sekundenbruchteil die Augen auf und schließt sie wieder. Die kleine Spinne in der Ecke über dem Bett kann sie noch für ein Traumgesicht halten. Ich küsse ihr den kalten Schweiß von der Stirn. Ich presse mein Geschlecht gegen die Schreibtischlade. Von nun an ist jeder Satz, den ich schreibe, ein blutiger Sieg. Ich bin allein. Der Schlüssel steckt im Schloß. Die Klingel ist ausgeschaltet. Der Selbstmordgedanke ist in die Tat umzusetzen, nicht aber der Todesgedanke.

Stück für Stück fällt das Fleisch von den Knochen. Aus dem Spiegel blickt mich ein Fremder an. Auf dem Stuhl unter der Schlinge sitzend, wußte ich schon, daß ich mich kurz hinlegen, dann aufstehen und die Wohnung verlassen würde. Im Treppenhaus begegnete ich meiner Nachbarin. Es gelang mir, sie freundlich zu grüßen. Sterben, schlafen, vielleicht auch träumen ... Ich habe mich auf den Boden gelegt und auf das Schlagen der Turmuhr gewartet. Wie von selbst öffneten sich meine Lippen. Das Schreien in geschlossenen Räumen ist auch bei Tage verboten. In Wohnungen mit niedriger Decke ist das Erhängen nicht möglich. Die Mumifizierung bei lebendigem Leibe ist durch die Erfindung der Narkose in den Bereich des Vorstellbaren gerückt. Die Weibchen der Schmeißfliege legen ihre Eier vorwiegend auf Exkrementen ab. Die Stubenfliege hat ihren Freiheitskampf aufgegeben. Im Rausch der Gleichgültigkeit habe ich mich in mich selbst verwandelt.

Es kann aber auch sein, daß ich mich mit mir verwechsle. Jedes Wort ist ein Strohhalm, an den ich mich klammere. Ich lese laut das Geschriebene. "Ich riskiere den Wahnsinn", sagte der Dichter, dessen Namen mir entfallen ist, und schrieb keine Zeile mehr. Ich bin mein einziger Leser. Ich nenne mich "du". Ich und du, Müllers Kuh ... Riefe Brigitte jetzt an, würde ich ihr mein Herz ausschütten. Als ich vor Cézannes Äpfeln in Tränen ausbrach, bin ich auf die Toilette geflüchtet. Als ich nach meinem abgebrochenen Selbstmordversuch ins Freie trat, blieb ich, geblendet vom Tageslicht, wie erstarrt vor der Haustür stehen.

Es klopft an der Wohnungstür. Auf meiner alten Schreibmaschine hätte ich das Tippen jetzt unterbrechen müssen. Ein Toter spielt nicht Klavier. Ich bin eine denkende Leiche. Die Krähen, die früher im Sommer die Stadt verließen, bleiben jetzt über das ganze Jahr. Ich habe das Recht, mich zu verleugnen.

Die Bäume auf dem Spielplatz vor meinem Haus schienen sich in der Helligkeit aufzulösen. Die unter Aufsicht stehenden Kinder verschwanden vor den Augen ihrer Bewacher im Licht. Wenn man mir droht, die Tür aufzubrechen, schreibe ich weiter, bis man mich mit Gewalt vom Computer zerrt. Glühende Eisen werden mich nicht zum Schweigen bringen. Die Folter wird mir die Lippen öffnen. Wenn man mir Handschellen anlegt, werde ich mich um eine Schreibkraft bemühen. Der Kopfschmerz schaltet das Denken aus... Ich habe eine Tablette genommen. Ich habe die Fliege getötet. Das Papiertaschentuch, in dem sie zerplatzte, habe ich in den Papierkorb neben dem Schreibtisch geworfen. Danach habe ich mich auf  die Couch vor dem Fernseher gelegt und vergeblich darauf gewartet, daß die Tablette wirkt. Lust! Ich habe das Wort "Lust" eingetippt. Oh Mensch, gib acht!

Das erste Mädchen, mit dem ich geschlafen habe, bekam, während ich es entjungferte, Nasenbluten. Bewundernswert zielgenau ließ der blonde Matrose eine Ladung Speichel auf meinen Anus fallen. Worüber man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen. Er war kein Matrose. Sein Haar war schwarz. Jetzt ist es zwanzig vor zehn.

Letzte Nacht träumte mir, daß Brigitte mir nach dem Leben trachtet. Doch obwohl ich mein Hemd aufknöpfte, stach sie nicht zu. Ich kann nicht länger auf ihren Anruf warten. In der ersten Zeit des getrennten Wohnens habe ich sie morgens manchmal mit einem Blumenstrauß überrascht. Als ich ihr zu erklären versuchte, warum ich sie in dem kleinen See so geängstigt hatte, brach sie in Lachen aus. "Du wolltest mich umbringen", sagte sie. "Du wolltest mich tot aus dem Wasser ziehen."

"Der helle Wahnsinn", sagte Kurt, als er merkte, daß er in Wahrheit die Schwester liebte. Wir kommen jetzt gut miteinander aus. Als ich mich im Petersdom nach meinem Taschentuch bückte, nützte ich die Gelegenheit, den Boden zu küssen. Früher hat mir die Mutter selbstgebackene Kekse zum Geburtstag geschickt. Daß ich singe, wenn ich fröhlich bin, läßt mich vergessen, daß ich mit den meisten meiner Gewohnheiten allein dastehe. Es ist immer das gleiche Lied. Weh spricht: Vergeh! Der von gestern übrige Rotwein reicht für eine Besäufnis nicht aus. Ich brauche Aufschub. Ich bitte um Gnade. Mir fehlt noch der letzte Beweis.

Oft genug habe ich die Bedeutung des Nutzens hervorgehoben. "Liebste", fragte ich sorgenvoll, "trage ich bei zu deinem Wohlbefinden? Ist es dir recht, wenn ich den Arm um deine Hüfte lege? Möchtest du, daß ich dich unter den Achseln lecke? Hast du, bevor wir uns liebten, nicht öfter gelacht? Hast du nicht leichten Herzens so manche Dummheit begangen? Stört es dich, wenn ich Fragen stelle?" Brigitte antwortete nicht. An ihrem Gesicht war nicht abzulesen, daß ich gesprochen hatte. Sie nahm meine Hand und führte sie zwischen die Schenkel. Ich sehe auf meine Armbanduhr. Die Schläge der Kirchturmuhr müssen Einbildung sein. Aber wer kann bezeugen, daß das Pochen von nebenan nicht mein Herzschlag ist?

Wenn der Wasserhahn aufhört zu tropfen, bricht die Sintflut herein. Man kann nicht sein Leben lang durch die Blume sprechen. Aber Vorsichtsmaßnahmen sind angebracht ... Ich habe den Anrufbeantworter ausgeschaltet. Im Reich der Gedanken herrscht Totenstille. Es gibt kein gedachtes Geräusch. Ich muß mich zur Ruhe zwingen. Ich bleue mir ein: Ich habe Zeit. Denn alle Lust will Ewigkeit. Schön ist es, auf der Welt zu sein. Aber Dankbarkeit? Nein! Ich bereite mich auf das Ende vor. Ich glaube nicht an eine gütliche Einigung. Den Armen im Geiste gehört das Himmelreich. Das tödliche Gift sank wie rieselnder Schnee langsam zu Boden. Entblößt unter der Dusche, übte der schlanke Körper eine betörende Wirkung aus. Ich habe kein Haus gebaut und kein Kind gezeugt. Da ich von Brigitte kein Foto besitze, werde ich mir nach einigen Wochen ihr Gesicht nicht mehr vorstellen können.

Durch den Fußboden dringt das Geräusch einer Bohrmaschine. Vielleicht habe ich das Klingeln des Telefons überhört. Noch nie habe ich den Anrufbeantworter untertags ausgeschaltet. Für so verrückt, daß ich das Gezwitscher der Spatzen vor meinem Fenster von dem Schlaflied der Mutter, die mit mir Tränen tauschte, nicht unterscheiden kann, hält mich Brigitte nicht. Seit ich sie im Waldviertel beinahe ertränkte, habe ich ihr nie wieder Anlaß gegeben, an meinem Verstand zu zweifeln. Ich wähle die Worte genau. Ich lasse mich vom Geheul der Sirenen nicht in die Irre führen. Es herrscht Frieden im Land. Oh, du Fröhliche! Hast du deine Wünsche dem Christkind aufgeschrieben? Der Vater bekommt den Pfeifenstopfer. Oh Haupt voll Blut und Wunden, ich scheue die Interjektionen nicht! Mit heißen Wangen warte ich auf den Schießbefehl.

Jetzt ist es geschehen. Frohgemut bin ich aufgesprungen. Ohne zu zaudern, habe ich den Telefonhörer abgehoben. "Ich will allein sein", habe ich mit fester Stimme gesagt. "Ich schreibe. Ich melde mich, sobald ich fertig bin." Danach habe ich sofort aufgelegt.

Kein Wort zu viel, kein Wort zu wenig! Wir blicken nach vorn. Wir stehen in der Pflicht.  Wir wollen den Tau von den Wiesen trinken. Wir lassen uns gerne die Haare scheren. Wir streifen die Ringe ab. Führer, befiehl! Zeig uns die Opferstätte! Wir schenken dir unsere Haut. Du löst uns die Zunge. So ist es gut! Ich schreibe weiter, bis mir die Hand von den Tasten fällt. Denn Versöhnung ist mitten im Streit. Aber habe ich je mit Brigitte gestritten? Werde ich es ertragen, nicht zu wissen, was sie ohne mich tut?

Vielleicht hat sie sich wieder ins Bett gelegt. Vielleicht schreibt sie mir einen Abschiedsbrief. Vielleicht gibt es in ihrem Leben einen anderen Mann. Oft habe ich mich gefragt, was sie denkt, als sie unter mir lag. "Was denkst du gerade?" habe ich ihr ins Ohr geflüstert. "Denkst du an den schwarzlockigen Knaben, der dich, als wir uns nach dem Nacktbaden sonnten, mit Muschelschalen bedeckte? Denkst du an den Schafhirten, der ungeniert zusah, als du dich mit geschürztem Rock in das Bachbett hocktest? Denkst du an den Lastwagenfahrer, der am Straßenrand, mir nichts, dir nichts, sein Wasser abschlug?" Statt zu antworten, schlang sie die Beine um meine Hüften. So war es vereinbart. Die Muttergottes eignet sich nicht als Wichsvorlage.

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes will ich bei der Suche nach der Vermißten behilflich sein. Unverwechselbar ist ihr Lachen. Aber will ich sie finden, wenn ein anderer sie zum Lachen bringt? Er wartet am Bahnsteig mit einem Rosenstrauß. Schon von weitem erkenne ich sie an der Art, wie sie geht. Sie kann, als sie ihn sieht, die Freude nicht unterdrücken. Unwillkürlich beschleunigt sie ihre Schritte. Fast kommt sie durch einen abgestellten Koffer zu Fall. Er streckt ihr die Rosen hin. Sie wollte ihm gefaßt gegenübertreten, und nun weint sie vor Glück. Was gäbe ich darum, könnte ich ihr das Salz von den Wangen küssen!

Doch nun herrscht Krieg. In der Brusttasche führt der Krieger das Bild seiner Angetrauten mit sich. Im Fronturlaub pflanzt er sich kopflos fort. Hoffentlich liegt nicht die Frau seiner Träume im Ehebett. Er hat sich einen Stammhalter gewünscht. Der soll seine Sünden büßen. Die Spitzenbluse wird abgelegt. Die Nachttischlampe wird ausgeknipst. Wenn erst der Kühlschrank die für ihn vorgesehene Nische füllt, muß man die Milch nicht mehr ins Fenster stellen. Das Motorrad gestattet eine Spritzfahrt in die nahe Umgebung. Der Bub bekommt einen Himbeerlutscher, wenn er vorher die Suppe löffelt. Wie durch Geisterhand hebt sich der Tonarm vom Plattenteller und bewegt sich in die Ausgangslage zurück. Stolzgeschwellt wohnt der angehende Bankkaufmann seiner Gemahlin bei.

Nebenan macht sich der Sohn steif wie ein Brett und starrt die geblümte Tapete an. Noch weiß er nicht, daß er nur so seine Mordgelüste bezähmen kann. Später gesteht ihm die Mutter: "Ich habe abgetrieben." Kühl fragt er: "Warum nicht mich?" Da schlägt sie sich mit der Faust auf den Mund. Doch keine Sorge, ich bin es nicht, von dem hier berichtet wird! Ich fülle nur die Zeit, bis ich die Angebetete wiedersehe, mit Wortgeklingel. Ich überwinde die Chimäre auf meinem geflügelten Roß.

Ach, meine Base, weißt du noch, wie wir auf dem kleinen Schotterplatz vor der Garageneinfahrt Himmel und Hölle spielten? Ich zog mir dein Röckchen an und erlaubte dir nachzuschauen, was darunter war. Siegessicher stellte sich mein Erzeuger ans Urinal. Mir aber gelang es nicht, mich als Nachkomme zu fühlen. Ich behauptete, gegen die Gesetze der Logik verstoßend, ich sei meine Ursache und meine Wirkung. Zum Beweis steckte ich meine Nase in das besamte Taschentuch. Weißt du noch, wie wir blutschänderisch unsere aufgeschürften Knie aneinanderpreßten? Andere ließen sich schon Koteletten wachsen, als kaum ein Flaum meine Lippen umschattete. Wen wundert es da, daß ich beim Wettlauf um das erste Schamhaar der Klassenletzte war?

Du bekamst deine erste Regel. Der Schatten wurde elektrisch entfernt. Was man nicht ändern kann, muß man begrüßen. Aber ich will dich nicht langweilen. Vielleicht leiht mir der als musikalisches Wunderkind gepriesene Vetter aus Salzburg sein Ohr. Ich bin zu Kompromissen bereit. Wenn ich mich jetzt auf den Boden neben den Schreibtisch lege, riskiere ich, daß mich der Schlaf übermannt. Danach könnte ich mich erneut an die Arbeit machen. Im Schweiße meines Angesichts will ich die Stunden zählen und die Leere in meinem Kopf für Erschöpfung halten. Statt nachzusehen, was die Post mir beschert, will ich mich mit einem erlogenen Nickerchen selbst betrügen.

Als eine Schar Kinder in Zweierreihen an meiner Haustür vorüberging, schloß ich mich ihnen an. So überwand ich die Lähmung. Da ich mich nicht getötet hatte, blieb mir die Auferstehung versagt. Mir ist nicht nach Scherzen zumute. Es nährt das Leben vom Leide sich. Die nächste Depression kommt bestimmt. Was wird für die Sanduhr mit meinen Überresten geboten? Wenn es stimmt, daß der Glaube Berge versetzt, will ich mich niederwerfen vor dem nächstbesten Kreuz. Vieles ist möglich. Aber das Telefonkabel ist keine Nabelschnur... Nun habe ich den Stecker aus der Dose gezogen.

Meine früheste Kindheitserinnerung ist ein schrilles Geräusch, dessen Ursprung ich nie erfahren habe. Die Mutter verweigerte, als ich sie fragte, die Auskunft. Taub möchte ich sein, damit ich nicht hören muß, was ich nicht sehen will. Wenn das Klingeln in meinem Kopf nicht verstummt, muß ich mir ernstlich Sorgen machen. Ich weiß, daß es nicht wirklich klingelt. Obwohl ich weiß, daß ich nichts weiß, halte ich an meinen Überzeugungen fest. Das Unbewußte stelle ich als das Ewige hin. Das Ewige nenne ich Gott. Gott ist das Unbewußte. Das Klingeln ist ein Alarmsignal... Nun hat es aufgehört. Ich habe den Fernseher eingeschaltet und das Fenster geöffnet. Draußen ist Frühling. In meiner Wohnung finden die Jahreszeiten nicht statt. Die Luft, die ich atme, ist keine Frühlingsluft. Der Fernseher läuft ohne Ton. Wenn ich ans Fenster trete, muß ich damit rechnen, daß ich gesehen werde.

Der Schauspieler aber sieht den Zuschauer nicht. Seinem Blick standzuhalten, kann nur gelingen, wenn der Zuschauer das Zuschauen spielt, so wie der Schauspieler den König spielt oder den Liebhaber oder den eingebildeten Kranken. Zwar werde ich der, der ich bin, nicht dadurch, daß ich ihn spiele, aber spiele ich nicht, weiß ich nicht, wer ich bin. Ich weiß zum Beispiel nicht, ob ich Brigitte liebe, aber ich kann mir gut vorstellen, daß jemand, der mich jetzt sähe, daran keinen Zweifel hätte. Er würde sehen, wie ich sitze und tippe, von Zeit zu Zeit innehalte, den Kopf in die Hände stütze, mir eine Zigarette anzünde oder mich plötzlich erhebe, um mich kurz darauf wieder hinzusetzen. Es wäre nicht nötig, daß er mir über die Schulter sieht, um zu lesen, was ich gerade schreibe. Das Geschriebene ist ohne Bedeutung. Der Kopf ruft zum Diktat. Der Duden liegt bereit. Wiederholungen sind zu vermeiden. Hinter meinem Rücken wechseln die Fernsehbilder.

Meine Großmutter hatte die Angewohnheit, sich beim Fernsehen mit den Menschen auf dem Bildschirm zu unterhalten. Als sie gestorben war, drückte ihr der Vater die Augen zu. Ist die Erde ein Sandkorn im Auge des Alls? Ist der Tod nur ein Kurzschluß? Ich finde die richtigen Worte nicht. Ein sanfter Hauch streift meine Wangen. Im Geiste sehe ich eine sich neigende Fläche, von der leere Gläser zu Boden fallen, wo sie im Sonnenlicht funkelnd zersplittern. Woher nahm ich die Tränen, als mir die Mutter ihr Taschentuch reichte? Wem spiele ich mein Alleinsein vor? Ich bin nicht einsam zu zweit. Aus meinem Fenster kann ich in die Wohnungen auf der anderen Hofseite sehen. Als Adam von Eva den Apfel nahm, verwandelte sie sich in ein Bild, das sein Verlangen weckte. Aus den funkelnden Scherben flammt ein verzehrendes Feuer auf. Ich muß die Balance finden zwischen meinem Denken und Tun.

Wie oft habe ich in den letzten vier Stunden nicht an Brigitte gedacht? Habe ich sie, als ich nicht an sie dachte, vergessen? Erst die Ermattung wird mir die Augen öffnen. Ich will nicht mit dem Kopf durch die Wand. Aber für eine Gehirntransplantation würde ich mich sofort zur Verfügung stellen. Vorsichtig wird der Hinterhauptslappen aus dem Großhirn geschält. Unversehrt bleibt die Pupille inmitten der Iris. Ungerührt lausche ich vor den tonlosen Bildern dem Echo der dumpfen Schläge, die ein Teppichklopfer erzeugt. Blind für das nuancierte Lächeln des Nachrichtensprechers, kann ich mich endlich am Gekreisch der Kinder, die im Hof Fangen spielen, erfreuen. Aber noch wichtiger, Liebste, ist dies: Nie wieder wird mich der kleine Pigmentfleck unter deiner linken Brustwarze stören. Du mußt nicht mehr die hochhackigen Schuhe tragen, von denen du Hühneraugen bekommst, nicht mehr die knappen Höschen, in denen du frierst, auch nicht das gepunktete Kleid, in dem du dich nackt fühlst unter den Blicken der Männer.

Unendlich zart werde ich dir über den Rücken streichen, mich von Wirbel zu Wirbel vortastend bis zu jener Stelle, an der du am empfindlichsten bist. Du weißt, ich meine die leichte Vertiefung über dem Kreuz, wo die Arschspalte beginnt. Langsam wird meine Zunge über die Hügel der Hinterbacken bis zu dem schmalen Steg zwischen den beiden Öffnungen wandern, deren nahes Beieinanderliegen mich immer noch überrascht. Während die Hände ihren Weg zu den Kniekehlen und weiter über die Waden zu den weichen Mulden der Fußsohlen suchen, an denen du, wenn die Erregung einen gewissen Grad erreicht, nicht mehr kitzlig bist, wird mich der leichte Modergeruch, der zwischen den Schenkeln an Schärfe gewinnt, in jenen betäubungsähnlichen Zustand versetzen, in dem die Begierde, vom Denken befreit, ihre Ziele findet. In dir werde ich mich in die Auserwählte verwandeln, die meinen Samen empfängt.

Verzeih, wenn ich schwärme! Ich bin ja nur in die Wörter verliebt. Ich bade im Meer der Vokale und Konsonanten. Jedoch ich ertrinke nicht. Mich zur Ordnung rufend, verzichte ich auf die Liebkosung deines sich sanft wölbenden Kinns, das ich erst, wenn ich das Fehlen des Adamsapfels bemerke, von einem Knabenkinn unterscheiden kann. Auch das Berühren der Brüste verbiete ich mir, ganz zu schweigen vom Eintauchen in deinen geöffneten Schoß, in dem ich verschwinden möchte, um als jener andere, dem du dich hingibst, wieder hervorzukommen. Heilig die Brüste. Heilig der Schoß. Du hast mich gelehrt, dies außer acht zu lassen. Ich will dein Schüler sein.

Doch nun zu den Fragen, die ich dir stellen werde, wenn wir uns wiedersehen! Warum hat Ruth es geduldet, daß ich meine Hand auf ihren Schenkel legte? Was hast du ihr von mir erzählt? War sie von dir instruiert, mich nicht zurückzuweisen? War es ein abgekartetes Spiel? Schone mich nicht! Ich will meine Wunden lecken. Dreimal verleugnete Petrus den Gottessohn. Hörst du den Hahnenschrei? Schon zucken die ersten Blitze. Ich schließe das Fenster und schalte den Fernseher aus ... Jetzt ist mir wohler. In einer Millionenstadt sind Hähne, die krähen, eine Seltenheit. In der Stoßzeit fahren die U-Bahnen im Fünf-Minuten-Takt. Die Aufforderung, von der Bahnsteigkante zurückzutreten, gilt nicht für Lebensmüde.

Als ich vor kurzem meinem achtzehnjährigen Neffen zum bestandenen Abitur gratulieren wollte, meldete sich am Telefon eine Frau. "Er hat sich umgebracht", sagte sie. Ich fragte: "Ihretwegen?" Sie antwortete: "Ja." Warum werfe ich mich nicht vor den Zug? Antwort: weil ich meinen Regenschirm bei Brigitte vergessen habe. Führe ich, statt weiterzuschreiben, zu ihr, würde sie mir öffnen und fragen: "Warum bist du gekommen, obwohl du allein sein willst?" "Weil es regnet", würde ich sagen. Aber ich habe, soweit ich weiß, keinen Neffen. Das Gewitter hat sich als ein nicht eingelöstes Versprechen erwiesen. Schon bricht die Sonne wieder hervor. Warst du es, die mich, als ich um Mitternacht in Ruths Zimmer schlich, mit solcher Gewalt an sich drückte, daß ich fast die Besinnung verlor über dem warmen, schweißnassen Leib, der sich im einfallenden Mondlicht nicht unterschied von den Körpern der anderen Frauen, mit denen ich schon geschlafen hatte? Warst du es, die mich mit ihrer Gier so erschreckte, daß ich, als könnte ich mich damit vor dem Absturz bewahren, die Sekunden zählte? Hast du dich mir untergeschoben als deine Zwillingsschwester?

Die Beschuldigte macht von ihrem Recht, die Aussage zu verweigern, Gebrauch. Ihr Schweigen spricht eine deutliche Sprache. Ich ziehe die glaubhaft vorgetragene Lüge vor. Es gibt aber auch Fragen, die keine Antwort verdienen. Zu welcher philosophischen Einsicht kommt der Mensch kurz vor dem Hungertod? Ist der Wille zum Untergang ein verbotener Vorgriff? Vielleicht sollte ich die Wohnungstür einen Spaltbreit öffnen. Über das Problem der Willensfreiheit will ich mir nicht den Kopf zerbrechen. Nur dem Zwang gehorchend, werde ich mich am Leben erhalten. Wenn ich Hunger verspüre, werde ich ihn, solange ich kann, unterdrücken. Mit aller Kraft werde ich das Zufallen der Augen verhindern.

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