Rainer Werner Fassbinder 1976



Mein drittes Interview mit Fassbinder ist insofern eine Parallele zum ersten, als es wieder ein Vorhaben zum Anlaß hatte, das dann gar nicht ausgeführt wurde. Den geplanten Roman, dessen Titel »Die Reise ins Innere der Trauer« schon feststand und der im Münchner Hanser-Verlag erscheinen sollte, hat der Filmemacher nie abgeliefert.

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Was hat dich* auf die Idee gebracht, einen Roman zu schreiben?

RAINER WERNER FASSBINDER: Erstens die Tatsache, daß ich einen Stoff und ein Thema habe, das sich weder für einen Film noch ein Theaterstück eignet, sondern was ich nur als Roman bewältigen kann, zweitens, daß ich halt mal etwas machen will, wo ich nicht die Möglichkeit habe, andauernd auszuweichen. Wenn man einen Film macht, hat man mit vielen Menschen zu tun, Schauspielern, Technikern, Kameraleuten, und man kann sich die Motivation aus vielem anderen holen als aus der Arbeit. Wenn man schlechte Laune hat, kann man auf dem Umweg über die Schauspieler wieder Vergnügen kriegen. Man kann andere Leute benutzen. Es gibt unheimlich viele Möglichkeiten, sich abzulenken. Man kann in Spiele ausweichen, das kann man mit sich selber halt nicht. Beim Filmen kann ja auch aus Spielen immer noch was Lustvolles entstehen, und ich finde das auch grundsätzlich okay, ich will nicht sagen, daß das schlecht ist, ich find' das schon toll, ich finde für mich das Filmemachen noch immer die tollste Arbeit, aber ich möchte halt jetzt mal versuchen, ob ich auch mit mir allein was anfangen kann... Ich könnte, anstatt den Roman zu schreiben, genausogut ein halbes Jahr Urlaub oder 'ne Analyse machen.

Bist du krank?

FASSBINDER: Ich hab' so psychosomatische Krankheiten, die immer stärker werden im Laufe der Jahre, und die mich halt lähmen werden, wenn ich nichts unternehme. Zweieinhalb Jahre lang hatte ich unheimliche Herzbeschwerden, die so schlimm waren, daß ich dachte, ich sterbe jede Sekunde. Ich bin zum Arzt gegangen, aber der hat gesagt: Sie haben ja gar nichts. Es ist aber schlimmer geworden. Zu den Herzschmerzen ist noch die Angst gekommen, eine Todesangst, und da nimmt man dann diese Mittel, Alkohol, Drogen und so was, und da hab' ich halt gedacht, wenn das so weitergeht, ersticke ich eines Tages.

Hast du mit dem Gedanken gespielt, dich umzubringen?

FASSBINDER: Ja, oft. Den Lebensüberdruß werde ich nie überwinden, ich weiß nur nicht, ob das einmal so stark wird, daß ich daraus Konsequenzen ziehe. Ich sage mir, eigentlich ist alles ganz sinnlos, aber wenn man schon da ist... Im Grunde ist es ja doof: Du kommst auf die Welt, hast Glücksmomente und Traurigkeiten, aber alles unter dem Aspekt, daß du eines Tages sowieso stirbst. Irgendwie ist das ärgerlich. Für mich wäre es das beste, ich wär' gar nicht geboren.

Vor fünf Jahren habe ich dich gefragt, ob du dir deine ungewöhnliche Produktivität erklären kannst. Eine befriedigende Antwort habe ich nicht bekommen. 

FASSBINDER: Sicher hat das mit Verdrängung zu tun. Ich hab' halt versucht, über die Arbeit Kontakt zu Leuten zu kriegen, zu denen ich sonst keinen bekommen hätte. Diese Gruppenexperimente habe ich ja zum Teil wider besseres Wissen gemacht. Letztendlich bin ich dann immer enttäuscht gewesen.

Was hast du erwartet?

FASSBINDER: Daß sie mich weiser machen und reifer und so... 

Ist dir der Erfolg wichtig gewesen?

FASSBINDER: Ja, als Bestätigung, sicher, und damit ich halt genug Geld bekomme, um das, was ich will, machen zu können. Ich hab' jetzt gerade so viel, daß ich mir keine Gedanken zu machen brauche. Hätte ich mehr, wäre es vielleicht schon eine Belastung.

Willst du mit deinen Filmen die Menschen verändern?

FASSBINDER: Das ist die Gretchenfrage. Natürlich frage ich mich, was das alles für einen Sinn hat, was ich da mache, und da komme ich zu dem Schluß, daß es zumindest nicht schadet, wenn man den Leuten Geschichten erzählt, die sie einerseits unterhalten und andererseits nicht verdummen. Wenn es gut ist, werden sie immerhin dadurch nicht dümmer, und wenn es richtig gut ist, schafft man es vielleicht sogar, bestimmte Möglichkeiten von Phantasie aufzureißen.

Was ist der Inhalt deines Romans?

FASSBINDER: Der handelt von einem Menschen, der gelähmt irgendwo sitzt, sich nicht mehr bewegen kann, ein Hypochonder, dem es noch viel schlechter als mir geht, und der sich sagt: Entweder höre ich auf zu atmen oder ich fange an, über mich nachzudenken.

Ist das ein Künstler?

FASSBINDER: Nein, ein Geschäftsmann aus der Textilbranche, unverheiratet, wohlhabend. Der hat genug Geld, um Spaß zu haben, aber er schafft's nicht. Er sitzt da und kann seinen Arm nicht mehr heben. Da fängt er an, über die Vergangenheit nachzudenken, über seine Familie, darüber, was ihn so weit gebracht hat. Der Roman beginnt da, wo er sich nicht mehr bewegen kann, und hört auf, wo er wenigstens wieder seinen Arm heben kann. Dazwischen reflektiert er seine Geschichte und die Phantasien, die er dazu entwickelt.

So wie du.

FASSBINDER: Ja, ich hab' immer so Bilder aus meiner Vergangenheit, die kommen beim Filmen, und dann überleg' ich: Wie war das wirklich? Ich kann mir schon vorstellen, daß diese Lähmungserscheinungen aus der Beziehung kommen, die ich zu meinen Eltern hatte. Die haben sich scheiden lassen, da war ich erst fünf, und danach bin ich die meiste Zeit von anderen Leuten erzogen worden. Meine Mutter war krank, und mein Vater hatte sein eigenes Leben. Ich hab' meine Eltern als Kind wenig getroffen, aber wenn ich sie traf, dann war es halt immer unheimlich toll. Da war immer was los. Die hatten ja ganz tolle Vorstellungen, bevor sie mich machten, die dachten, ganz wunderbare Eltern zu werden, die ihrem Kind unheimlich helfen, mit dem Leben fertig zu werden, weil sie ja beide keine blöden Leute sind, sondern was auf dem Kasten haben, und dann haben sie in der kurzen Zeit, wo sie mich trafen, unheimlich was aufgeholt und versucht, was hineinzubringen. Aber dazwischen gab es halt Monate, wo ich sie überhaupt nicht gesehen habe. Wir hatten zwei Wohnungen, in der einen war die Arztpraxis meines Vaters, die andere war vermietet an merkwürdige Leute, die haben mich aufgezogen, fremde Leute, die dachten, wie wunderbar, auf ein kleines Kind aufzupassen, aber für mich war dieser ständige Wechsel sehr sonderlich, von einer Mutter zur andern. Bis auf die euphorischen Zwischenspiele mit den Eltern hat mir als Kind die echte Zuneigung gefehlt.

Gibt es heute für dich einen wichtigsten Menschen?

FASSBINDER: Nein, das sind mehrere.

Wirst du, solange du an dem Roman schreibst, alleine leben?

FASSBINDER: Eventuell mit meinem Freund Armin**, aber das ist noch nicht sicher.

Traust du dir zu, es allein auszuhalten?

FASSBINDER: Ich hab' das ja schon öfter für kurze Zeit ausprobiert. Es ist ja so, daß man auch mit vielen Leuten ganz einsam sein kann, man ist doch, ganz egal wo, sowieso nur mit sich selber beschäftigt. Um diese Einsamkeit, wo man ständig mit Leuten zu tun hat und doch mit niemandem, nur mit sich selbst, geht es ja in all meinen Filmen.

Wo wirst du wohnen?

FASSBINDER: Entweder in New York oder in irgendeinem Dorf in der Schweiz. Für die Schweiz würde sprechen, daß ich dort noch mehr gezwungen wäre. An New York wäre das Gute, daß man da noch nachts um vier auf die Straße gehen kann, um was zu erleben, und weil man es kann, muß man es halt nicht machen.

Wann fängst du an?

FASSBINDER: Im August. Vorher mache ich noch zwei Filme. Für nächstes Frühjahr habe ich mich verpflichtet, den Roman beim Verlag abzuliefern. Es sollen drei- bis vierhundert Seiten werden, so daß man das Buch um die dreißig Mark herum wird verkaufen können. 25 000 Stück sind als garantierte Auflage vereinbart. Der Gerhard Zwerenz hat mir gesagt, man muß gucken, daß die Auflage hoch ist, weil sich der Verlag dann mehr um das Produkt bemüht.

Hast du dir ein bestimmtes Arbeitspensum pro Tag vorgenommen?

FASSBINDER: Ja, das wird so sein, daß ich ziemlich früh aufsteh', dann vier bis acht Stunden schreibe und dann irgendwohin geh'. In Paris war es so, daß ich mich nach der Arbeit immer durch irgendein Erlebnis belohnt hab'. Besser wär' es natürlich, diese Belohnung nicht mehr zu brauchen.

Wird man dich telefonisch erreichen können?

FASSBINDER: Das wird ein begrenzter Kreis sein, dem ich meine Telefonnummer gebe. Dazu gehört meine Mutter, meine geschiedene Frau, meine Filmfirma und der Hanser Verlag. Die werden aber gebeten werden, möglichst wenigen Leuten Gelegenheit zu geben, zu mir durchzukommen.

Hast schon früher Prosa geschrieben?

FASSBINDER: Ja, als ich jung war, da hab' ich ungefähr fünfzehn Romane begonnen, aber schon nach dreißig, vierzig Seiten wieder weggelegt, weil mir die Ausdauer fehlte.

Und wenn das jetzt wieder passiert?

FASSBINDER: Dann rufe ich den Verlag an und sage, tut mir leid, es gibt keinen Roman.

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*) Meine Bekanntschaft mit Fassbinder hatte inzwischen dazu geführt, daß wir uns duzten. Für die Veröffentlichung des Gesprächs (u.a. im "Kölner Stadtanzeiger") bin ich jedoch zur förmlichen Anrede zurückgekehrt.

**) Armin Meier, geboren 1943, Kellner in der Münchner Gaststätte "Deutsche Eiche", seit 1974 Fassbinders Geliebter, spielte in mehreren seiner Filme, nahm sich am 31. Mai 1978, nachdem Fassbinder die Beziehung beendet hatte, mit einer Überdosis Schlaftabletten das Leben.

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Aus: André Müller, "Entblößungen", Goldmann, 1979