Rainer Werner Fassbinder 1971



Als ich Rainer Werner Fassbinder zum erstenmal begegnete, benutzte ich noch kein Tonband. Er war damals, Anfang 1971, Leiter des Münchner Theaterkollektivs »antiteater«. Ich besuchte ihn in seinem Büro in der Reitmorstraße. Durch eine offene Tür sah ich die Schauspielerin Ingrid Caven, die der Filmemacher im August 1970 geheiratet hatte, auf einem Sofa liegen. Peer Raben*, einer der Gründer des Kollektivs, telefonierte. Überall waren Briefe verstreut, Manuskripte, Ordner mit Rechnungen. Fassbinder saß am Schreibtisch. Er sagte, er habe Grippe.

Die Offenheit, mit der er mir antwortete, kam für mich unerwartet. Gleich war vom "Leiden unter der Liebe" die Rede. Geheiratet habe er, um gegen die Angst anzugehen. Das Rocker-Image, durch das er öffentlich auffiel, sei ein Schutz gegen die Brutalität, die ihn umgebe. Große Autos fände er »unheimlich sexy«. Das Saufen habe er sich abgewöhnt, denn davon bekäme er Herzbeschwerden. Am liebsten würde er sich psychiatrisch behandeln lassen, um zu sehen, was in ihm drin sei...

Ich erinnere mich an das zwiespältige Gefühl, einerseits als Journalist das alles aufschreiben zu müssen, andererseits gerade dieses Aufschreiben als Taktlosigkeit zu empfinden.

Fassbinder war nur auf der Durchreise in München. Er kam aus Paris und mußte schon am nächsten Tag weiter nach Bremen, weil er dort Marieluise Fleißers »Pioniere in Ingolstadt« inszenierte. Der Anlaß des Interviews aber war seine Ankündigung, er werde in Mannheim Verdis Oper »Die sizilianische Vesper« in Szene setzen, und zwar mit sieben Schwarzen als Hauptdarsteller. "Neger bewegen sich anders",  sagte er, "nicht so steif an der Rampe. Mit Weißen würde ich lieber 'Fidelio' machen." Es ist zu dieser Regie, weil man keine geeigneten Sänger fand, aber dann nicht gekommen. Eine Oper hat Fassbinder nie inszeniert.

Das Geheimnis seines frühen Ruhms erklärte er so: "Ich habe Glück gehabt. Man brauchte gerade ein Naturtalent. Ich bin in eine Marktlücke gefallen." Meine drängendste Frage, auf die er mir immer neue Antworten gab, war, welche Ursachen sein in der Tat ungeheuerlicher Schaffensdrang habe. Er war ja erst fünfundzwanzig und hatte bereits zehn Filme gedreht, daneben mehrere Theaterstücke geschrieben und inszeniert, in denen er teilweise selbst als Darsteller auftrat. Zunächst nannte er seine hohe Verschuldung als Grund, dann sagte er, er hätte halt einfach Spaß daran, so viel zu machen. Ich wollte schon gehen, da hatte er noch diese Erklärung:

»Ich gehöre halt nicht zu den dreitausend Typen, die in Schwabing herumhängen und jammern: Ja, hätte ich nur eine schöne Wohnung, würde ich einen ganz tollen Roman schreiben können, hätte ich nur eine Million, würde ich tolle Filme drehen. Ich tue es einfach. Ich würde ohne Arbeit total versacken.«

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*) Peer Raben (1940 - 2007) schrieb die Musik zu fast allen Fassbinder-Filmen.

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Erschienen (Erstfassung) am 7. Januar 1971 in der Münchner "Abendzeitung"