Interview mit Peter Handke 1988



Zum viertenmal traf ich Handke am 15. Oktober 1988 in Salzburg, wo er auf dem Mönchsberg eine gemietete Villa bewohnte. Schon im August hatten wir das Treffen telefonisch vereinbart. Handke war einverstanden, mit mir ein Gespräch für die ZEIT zu führen. Doch am 17. September bekam ich einen mit Bleistift geschriebenen Brief, in dem er bat: "Lieber Andre Müller, lassen wir das Gespräch lieber bleiben. Es gibt viele Gründe dagegen, aber kaum einen dafür. ,Die Zeit' ist in ihrem Feuilleton fast nur noch ein Szeneblättchen, aus dem alle Diskussion des Poetischen, worum es dort doch in der Mitte gehen sollte, verschwunden ist. Wörter wie ,Dichter' und ,Künstler' dürfen schon für sich als etwas Lächerliches dastehen. Macht ja nichts, so ist der Lauf der Welt. Nur, was soll ich an einer Stelle des Flapsens? Der Hauptgrund aber: mein Bedürfnis, Stille um mich und in mir zu spüren ... Also vergessen Sie mich ... "

Ich hatte bereits begonnen, mich mühsam in die zuletzt erschienenen Werke des Dichters hineinzulesen. Wie immer, wenn mich ein Mensch seinen Wankelmut spüren läßt, fühlte ich mich erniedrigt. Der Schlußsatz des Briefes, der sich auf Selbstmordgedanken bezieht, von denen Handke erfahren hatte, mußte mir zynisch erscheinen: "Alles Gute Ihnen, und meiden Sie die Dachböden ... " Ich rief umgehend in Salzburg an und schlug vor, das Gespräch für den" Griffener Lokalanzeiger " zu führen. Handke sagte, er habe meinen Anruf erwartet. Zu meiner Überraschung war er leicht umzustimmen. Nur fotografieren wollte er sich nicht lassen. Der 15. Oktober war ein für die Jahreszeit unüblich warmer Tag. Wir saßen auf der Dachterasse im prallen Sonnenlicht. Handke fragte, als ich gegen das Licht blinzelte: "Warum schauen Sie so gekränkt?" Ich setzte meine Sonnenbrille auf.

Das Interview dauerte über fünf Stunden. Der zweite Teil fand im Restaurant" Winkler" statt, wo Handke Gäste, die sich zu uns setzen wollten, mit bösen Blicken vertrieb. Wir tranken Bier. Er erzählte mir, warum er seine Abneigung gegen öffentliche Auftritte gelegentlich unterdrückt: "Wir wollen halt ins Gespräch kommen. Wenn niemand über uns spricht, werden wir traurig und können nur noch Katzen füttern. Der Fleischhauer gibt uns die schlechtere Wurst, der Bäcker das schlechtere Brot. Deswegen wollen wir auch ins Fernsehen. Wir wollen das bessere Brot bekommen. Ich habe das als junger Mensch oft gemacht. Ich bin ins Fernsehen gegangen, weil ich dachte, wenn die Leute mich kennen, bekomme ich gutes Fleisch. Es wäre doch scheinheilig, mit dieser Tradition plötzlich aufzuhören. Vorher ist es mir immer ein Horror, wenn Journalisten kommen. Aber dann sind sie da, und ich gewinne sie lieb aus dem einzigen Grund, weil ich vorher den Horror hatte."

Die mir schon vertrauten Beleidigungen, die der Dichter gegen mich ausstieß, verletzten mich nicht. Zwar rief er, als ich ihn bat, etwas lauter zu sprechen: "Lecken Sie mich am Arsch!" Auch die Behauptung, ich würde "nur Blödsinn" reden, mußte ich wieder hören. Doch waren die Beschimpfungen diesmal durchdrungen von einer Milde und Heiterkeit, die mich fröhlich stimmte. Wir lachten viel. Am 3. März 1989 erschien das Gespräch, um einige Passagen verkürzt, in der ZEIT. Der Tenor der mir zugesandten Leserbriefe war wenig freundlich. Oliver Friedrich aus Hannover zeigte sich "überrascht über so viel Arroganz und künstlerische Selbstverliebtheit". Eine Frau Müller aus Würzburg fragte: "Wozu die seitenlange Publizierung von Dummheit?" Frau Wilde aus Berlin konstatierte ein "schrilles, mißtönendes Kläffen". Aus Tübingen kam anonym ein Paket. Der Inhalt: ein Haufen säuberlich in Zeitungspa­pier gewickelte Scheiße.

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Sie waren bis Mitte der siebziger Jahre ein Autor, der mit jedem Buch auf der Bestsellerliste erschien. Warum, glauben Sie, ist das anders geworden?

PETER HANDKE: Ich hab' halt nicht mehr den richtigen Drive. Ich bin nicht mehr schön genug. Der Hüftschwung hat nachgelassen. Aber es stimmt ja nicht ganz. Die Kindergeschichte war noch ein Bestseller. Nur hab' ich da nicht mehr wie früher mit Neugier in den "Spiegel" geschaut, an welcher Stelle das steht. Mir kommt vor, meine Sachen werden heute intensiver gelesen als damals, aber sie sind halt nicht mehr in Mode. Also werden sie nicht mehr so viel gekauft.

In einem Gespräch, das wir vor fünfzehn Jahren führten, antworteten Sie auf die Frage nach dem Grund Ihres Erfolges, was Sie schrieben, sei eben Weltliteratur.

HANDKE: Das würde ich nicht mehr sagen. Zur sogenannten Weltliteratur möchte ich nicht gehören. Wenn ein Thomas Mann als der größte deutsche Schriftsteller dieses Jahrhunderts gilt, dann hat doch das Schreiben überhaupt keinen Sinn. Wer dem nachfolgt, ist für mich schon verloren. Gerade vor ein paar Tagen habe ich wieder "Herr und Hund" von ihm gelesen. Da ist gleich der erste Satz so, daß man spürt, der das schreibt, ist sich dessen gewiß, eine Gemeinde zu haben, die auf seinen bestimmten Tonfall hört. Also er fängt nie wirklich an, sondern schreibt in dem Bewußtsein, daß er der Thomas Mann ist. Das ist doch verwerflich. Ein Schriftsteller darf nie so denken, weil er im Leben immer wieder neu anfangen muß. Ich wollte auch den "Zauberberg" wieder lesen, der mich, als ich zwanzig war, tief berührt hat. Aber diese sich dauernd selbst bespiegelnde Sprache hat mir das Weiterlesen verwehrt. Die Sätze haben mir die Räume verstachelt. Diese Prosa ist völlig verdorben. Ein schrecklich schlechter Schriftsteller ist das.

Auch über Kafka haben Sie sich ablehnend geäußert. In Ihren Aufzeichnungen "Phantasien der Wiederholung" steht: "Ich hasse Franz Kafka."

HANDKE: Ja, aber das war nur so ein kurzer Impuls. Zu Kafka kommt man immer wieder als zu einer Instanz des Schreibens und des Handwerks zurück, keineswegs aber zu Thomas Mann.

Robert Musil mögen Sie auch nicht.

HANDKE: Ich habe einige kleinere Prosastücke von Musil sehr gern, auch seine Tagebücher. Aber der "Mann ohne Eigenschaften" ist für mich ein bis in die einzelnen Sätze größenwahnsinniges und unerträglich meinungsverliebtes Werk. Ich empfinde es manchmal als lästig, daß mir diese Bücher die schöne, freie Welt, als die mir die Literatur immer vorschwebt, versperren. Wenn einer nur eine gute Seite geschrieben hat, oder zwei gute Seiten, muß man schon damit rechnen, daß er unsterblich wird und jeder andere Scheiß von ihm mitgezogen wird wie ein Kadaver. Das heißt dann Weltliteratur. Ich habe in meinem Leben sehr oft den "Ulysses" gelesen, nicht nur gelesen, sondern studiert, Satz für Satz, aber das kann mir beim besten Willen nichts geben. Außer einer formalen Fingerfertigkeit und einer Assoziationsgabe, die mit Literatur nichts zu tun hat, finde ich bei Joyce überhaupt nichts. Gute Literatur kommt aus dem Erleben der Dinge und der Gerechtigkeit diesem Erlebnis gegenüber, aus nichts anderem. Sonst ist es nur Spielerei, Sprachbegabung, und das ist für mich etwas ganz Grausliges. Ich bin an all diese Werke sehr gläubig herangegangen. Aber ich glaube den Leuten, die das weiterverbreiten, kein Wort mehr. Ich habe das Vertrauen in diese Leute verloren.

Welche Leute?

HANDKE: Die Tüftler, die Germanisten, die damit bis an ihr Lebensende ihre Beschäftigung haben.

Nicht auch die Kritiker?

HANDKE: Kritiker sind ja im Bestfall genaue Leser. Zumindest ist das mein Ideal.

Nun müßte man Namen nennen.

HANDKE: Ja, welche?

Marcel Reich-Ranicki zum Beispiel.

HANDKE: Diesen Namen werden Sie aus meinem Mund niemals hören. Sie können ihn mir ruhig zehnmal sagen. Das geht zum einen Ohr hinein, zum anderen wieder hinaus. Es gab eine Zeit, in der ich von konvulsivischem Widerwillen befallen wurde, sobald dieser Mann nur in Erscheinung trat. Er hat über Jahre versucht, mich zu vernichten. Er hatte die Illusion, das zu können.

Empfinden Sie es als Triumph, daß es ihm nicht gelang?

HANDKE: Ach nein, oder ja, vielleicht doch.

Über Ihre Feinde haben Sie einmal geschrieben, Sie hätten keine Lust mehr, sie zu bekämpfen, nur die Befürchtung, sie, die Feinde, könnten Sie überleben.

HANDKE: Habe ich das wirklich von mir gegeben?

Ja, in Ihrem Tagebuch "Das Gewicht der Welt".

HANDKE: Das ist lange her. Feindschaft ist ja ein sehr perverses Vergnügen und oft auch lebenshemmend. Sie macht einen so trocken. Man trocknet aus. Das ist nicht die Freude, die ich mir wünsche. Ich habe mir ab einem gewissen Moment vorgenommen, nur noch das zu tun, was mich freut.

Wenn man das immer schon vorher wüßte!

HANDKE: Ich weiß das inzwischen.

Trotzdem schreiben Sie über sich: "Mein Haß ist eine Realität."

HANDKE: Ich bin eben leicht aufbrausend und unduldsam. Ich lebe nach bestimmten Prinzipien, aber jedes Prinzip fällt irgendwann um. Ich habe zwei, drei Mal am Tag so epileptische Haßmomente, die sich gegen Phantome richten. Wenn die, denen das gilt, dann fleischlich vor mir stehen, ist es vorbei, wie wenn jemand eine Peitsche hat, die plötzlich verschwunden ist, sobald er denjenigen, dem er damit übers Gesicht schlagen möchte, vor sich hat, seltsam.

In Ihrer Vorstellung sind Sie der Gute, Friedfertige, in Wirklichkeit ...

HANDKE: ... bin ich ein Ekel. Ekel-Peter. Aber es stimmt ja nicht. In meinen Träumen kommt überhaupt kein Haß vor, nur Liebe und Sehnsucht. Träume sind doch eine Art Pegelzeichen für den Zustand des Menschen.

Oder es sind Wunschträume.

HANDKE: Möglich. Die Deutung überlasse ich Ihnen. Ich kann nur sagen, mich langweilt das Negative. Mir wird buchstäblich schwarz vor Augen, wenn ich darüber lese. So habe ich es in "Die Lehre der Sainte-Victoire" beschrieben. Ich empfinde keine erotische Nähe zum Bösen. Sicher verachte ich täglich ganz viele Menschen. Aber ich habe keine Sprache dafür. Das bringt mich nicht zum Schreiben, und auch nicht zum Reden.

In der "Kindergeschichte" schreiben Sie, aus den Früchten der Nußbäume sollten spitze Messer auf die Menschen herabfallen und sie vertilgen.

HANDKE: Ja, da ist man erlöst, wenn einem so ein Bild plötzlich gelingt, das den Haß auf ein gewisses, nicht allgemeines, sondern österreichisches Menschtum zum Ausdruck bringt, das man abschaffen möchte. Aber diese Bilder sind selten. Einen Haß auf die Menschheit als Ganzes, auf den Sie mich bringen wollen, habe ich eigentlich nicht, zumindest jetzt nicht. Würden Sie mich in zwei Stunden in der Menge irgendwo eingeklemmt finden, würde ich vielleicht sagen, ja, ich hasse die alle.

Weil sie Ihnen zu nahe kommen.

HANDKE: Genau, das ist es. Es ist eine Frage des Abstands. All mein Denken und Fühlen wird in Abständen gemessen. Sobald ich den Abstand finde zur Masse oder Gruppe oder zum Einzelnen, kann ich die Umrisse sehen und habe auch ein Gefühl der Weite, ohne das Schreiben nicht möglich ist. Vielleicht ist das, was Sie meinen, mehr eine Klaustrophobie, die sich verwandelt in Ekel. Ich glaube, das hängt mit meiner Internatszeit zusammen, in der ich unbrauchbar geworden bin für diese Art von Gemeinschaft. Bis zu meinem zwölften Jahr lebte ich auf dem Dorf. Dort gab es das schöne Durcheinanderkugeln der Kinder beim Zusammenschlichten des Strohs. Abends ist man eingehängt beieinander gesessen und wollte nicht heim, wenn einen die Mütter riefen. Dann kam ich in die Fremde des Internats und mußte mit fünfzig Kindern in einem stinkenden Schlafsaal liegen.

Kann es sein, daß Sie den Erfolg, der auch mit Geld verbunden ist, angestrebt haben, um sich den gewünschten Abstand zu schaffen?

HANDKE: Ich hatte Erfolg, und ich konnte mir dadurch den Abstand leisten, ja, aber ich hab' mich nicht auf den Weg zum Schreiben gemacht, um das zu erreichen.

Dennoch war es eine wichtige Voraussetzung dafür, so zu leben, wie Sie es wollten.

HANDKE: Das weiß ich, und vielleicht habe ich manchmal, wenn eine gewisse Schwermut sich nähert, kurz ein Gefühl von Dankbarkeit, daß ich immerhin Geld hab' . Aber es ist etwas anderes, reich zu sein oder Geld zu haben. Wirklich reich war ich nie, und ich hätte das auch nicht bewältigt. Reichtum bewirkt nichts Gutes. Reiche Leute sind im Grunde ihres Wesens gar nicht vorhanden. Sie sind zerstreut, unernst. Reichtum ist abstoßend. Mein Ideal ist das Denken und Schauen in der Stille. Mir genügt eine Hütte mit Garten. Ich wollte mir nichts mit dem Schreiben erkämpfen. Das Schreiben selbst war mein Ziel, nicht sein Ergebnis. Es war der Ort, wo ich hinwollte, schon als Kind, in der Pubertät. Ich sage es Ihnen jetzt ganz genau, wie es war und immer noch ist. Es hat mich hingezogen zum Schreiben, als ob ich es an Ort und Stelle nicht könnte. Es hat mich hingezogen aus einem Bedürfnis zu lieben.

Wem galt diese Liebe?

HANDKE: Niemand. Aus unbestimmter Liebe wollte ich etwas tun, verstehen Sie?

Ja, aber ...

HANDKE: Kein "aber"! Was mich zum Schreiben gezogen hat, war ein Gefühl von überwältigender Liebe, wobei ich nicht wußte, was ich damit anfangen sollte. Ich bin schreiben gegangen, ein seltsamer Ausdruck, aber ich wußte nicht, worüber ich schreiben wollte. Aus unbestimmter Liebesfülle hat es mich hingezogen zur Schrift. Das war eine ganz kindliche Liebeswallung. Man möchte jemand umarmen, und dieses Umarmen ist dann das Schreiben.

Was aber geschieht, wenn Sie sich zusätzlich in eine Frau verlieben?

HANDKE: Darüber habe ich gerade bei Siegfried Kracauer gelesen. Der spricht vom Typus des Werkmenschen, zu dem ich mich mit der Zeit leider zählen muß. Dieser Werkmensch hat zwar immer wieder Sehnsucht nach einer bestimmten Liebe und ist auch offen dafür, nur geht das nicht auf die Dauer, weil er sich dem verpflichtet fühlt, was er vorhat. Alles andere kommt ihm dann als Verrat vor. Die anderen Menschen, so schreibt Kracauer, begegnen diesem Werkmenschen immer mit einer gewissen Reserve, weil sie spüren, daß er ihnen nie ganz gehören kann. Deshalb geben sie ihm kein Heimatrecht, sondern nur Gastrecht. Aber mehr brauche ich gar nicht. Mir genügt, Gast zu sein, ganz gleich, ob der andere nun eine Frau oder ein Mann ist.

Ihr letztes öffentlich bekanntes Verhältnis hatten Sie mit der Schauspielerin Marie Colbin.

HANDKE: Darüber zu sprechen, interessiert mich nicht.

Sie haben es aber früher getan.

HANDKE: Ja, das war unter den dummen Sachen meines Lebens eine der dümmsten. Ich habe gehofft, daß man das bald vergessen würde.

Sie haben mit Marie Colbin auch einen Film gedreht. Vorlage war das von Ihnen ins Deutsche übersetzte Buch "Die Krankheit Tod" von Marguerite Duras über die Liebesunfähigkeit eines Mannes.

HANDKE: Davon hätte ich die Finger gelassen, wenn ich gewußt hätte, was Marguerite Duras darüber gesagt hat. Sie sagte, diese Brandrede gegen einen Mann, der versucht, das Lieben zu lernen, sei gegen einen Homosexuellen gerichtet. Ich hatte das nicht so verstanden. Ich dachte, das beschriebe eine allgemeine Situation des Mannes der Frau gegenüber. Ich habe mich da auch selbst umrissen gefühlt. Es ist ja die Beschreibung der Unmöglichkeit, einen Menschen ganz zu besitzen. Je mehr man besitzt, desto irrealer wird alles, so ähnlich wie in der Geschichte des Tantalus, der nach dem Apfel greift, aber der Apfel zieht sich zurück.

Heißt das, dem Mann bleibt, trotz Sexualität, die Erfüllung verwehrt?

HANDKE: Ja.

Und Frauen erleben das anders?

HANDKE: Möglicherweise. Die traue ich mich nicht, so zu fragen, oder möchte es vielleicht gar nicht wissen. Wenn man fragt, kommt gleich so ein Schwall von Empfindungen, der es einem schwer macht, die Linie zu finden. Ich möchte lieber ahnen statt wissen. Sprache ist ja in aller Regel zerstörerisch. Wenn sie nicht den richtigen Augenblick findet, zerstört sie das Ungesagte.

Wer aber bestimmt, wann dieser Augenblick da ist?

HANDKE: Das kann man nicht selbst bestimmen. Der günstige Augenblick ist ein Weltaugenblick, entweder zwischen zwei Menschen oder einem Erscheinungsbild und dem Ausdrücken dieses Erscheinungsbildes. So wird das in der Philosophie seit dreitausend Jahren beschrieben.

Ja, von bestimmten Personen, meist Männern.

HANDKE: Sie suchen jetzt Streit.

Nein, um Gottes willen!

HANDKE: Wieso? Streit ist ja was Schönes. Streit ist der Vater aller Dinge, hat mein Vater gesagt.*

Ich meine nur, man riskiert, wenn man diesen Gemeinschaftsaugenblick nie hinterfragt, daß er auf einer Einbildung beruht.

HANDKE: Mag sein. Hauptsache, die Einbildung bewirkt etwas. Das ganze Leben besteht doch aus verschleierten Bildern. Wenn der Schleier weg ist, stirbt der Mensch vor Entsetzen. Es kommt nur auf die Fruchtbarkeit der Einbildungen an. Die Illusion ist für mich inzwischen zu einem Wort geworden, mit dem ich mich weiterfrette, wie man so sagt. Wenn sich einer als desillusionierten Menschen bezeichnet, denke ich mir, der lebt gar nicht mehr, weil er durch und durch vernünftig geworden ist. Den kann man eigentlich schon zum Abfall werfen. Das ist genauso, wie wenn einer angeberisch erklärt, er sei Atheist. Den finde ich fast noch blöder als einen, der sagt, daß er an Gott glaubt. Beides ist ungefähr gleich blöd. Es gilt wirklich der oft benutzte Ausspruch von Wittgenstein, worüber man nicht sprechen kann, darüber müsse man schweigen. Da ist eine Grenzlinie gezogen, die von so vielen sich rationalistisch Gebenden überschritten wird. Unter den Pythagoreern war oberstes Prinzip, das Wort zu verhalten, verstehen Sie, so wie man den Harn verhält. Aber das überschreiten wir alle, ich auch. Ich könnte mir täglich zweimal auf den Mund hauen.

Sie sind zu streng mit sich selbst.

HANDKE: Nein, nachsichtig. Ich schau' dann in eine Ecke, wo ein unsichtbarer Beobachter steht, und denke, mein Gott, jetzt habe ich wieder etwas gesagt, was ich nicht hätte sagen dürfen. Das ist eher lustig. Früher hat es mich sofort eingeholt und sozusagen gefesselt für einige Zeit. Heute macht es mir nicht mehr so viel. Wenn du unter Leute kommst, sag' ich mir, wirst du zwangsläufig dumm.

Woher wissen Sie denn, was dumm und was klug ist?

HANDKE: Werden Sie nicht spitzfindig.

Mit Ihnen zu streiten ist schwierig.

HANDKE: Ich weiß, ich mach' alle nieder. Es gibt keinen, den ich nicht in zehn Minuten bis an sein Lebensende gedemütigt hätte. Aber es nützt ja nichts. Die Gedemütigten erholen sich und werden dann zu perfekten Feinden.

Halten Sie sich für einen offenen Menschen?

HANDKE: Zu selbst offenen, edlen, vornehmen Menschen bin ich schon offen. Ich komm' sehr gut aus mit sehr vielen Menschen, die sich mir unbefangen und mit einer gewissen Freundlichkeit nähern. Da geht mir das Herz auf. Ich möcht' nicht gewappnet auftreten und mich sozusagen als Schriftsteller gebärden. Das ist ja was Schreckliches. Die heutige Zeit ist bestimmt von Schriftstellern, die dauernd in dieser Rolle auftreten. Sie reißen auf Kongressen ihre Meinungsmäuler auf, fahren überall hin, kreuz und quer durch Europa, haben ihre Gewährsleute, die ihnen alles erzählen über die Länder, damit sie Stellung nehmen können zum Eurokommunismus, zur Perestroika und allen möglichen Dingen. Uniformierte Menschen sind das, vor allem die Frauen, die sich, kaum sind sie, in der Regel zu Recht, arriviert, als Botschafterinnen der Literatur aufspielen. Gespornt und gestiefelt staken sie durch diese schöne, unschuldige Landschaft. Also ich bin überhaupt kein gewappneter, uniformierter Mensch wie die meisten Schriftsteller heute, die als wandelnde Büros oder Conférenciers ihrer selbst durch die Gegend laufen. Da gehöre ich nicht dazu. You can count me out, wie John Lennon sagte.

Gehen Sie nie auf Kongresse?

HANDKE: Auf keinen Fall. Auf der Buchmesse war ich 1976 zum letzten Mal. Schriftstellerversammlungen sind mir ein Greuel. Ich hab' beim Verlag der Autoren, wo wir selbst die Gesellschafter waren, gesehen, wie gerade so machtlose Menschen, wie es Autoren meist sind, wenn sie ein bißchen Macht haben, diese dermaßen kaltschnäuzig benutzen, daß man sich wie im Zentralkomitee einer stalinistischen Partei fühlt. Je weniger Macht einer hat, desto kaltherziger übt er sie aus. Gerade an so armen Hanseln wie den Schriftstellern habe ich das beobachten können. Da wurde eine Angestellte mit den fadenscheinigsten Begründungen einfach hinausgejagt. Das hat mich so geschockt, daß ich mir geschworen habe, nie wieder bei so etwas mitzumachen.

Stört es Sie nicht, daß Schriftsteller so wenig Einfluß haben?

HANDKE: Nein, ich empfinde es als sehr angenehm und befreiend, daß die Literatur aus der Diskussion um die Wirksamkeit endlich heraus ist und daß die Schriftsteller nicht mehr so repräsentantenhaft herumhängen wie zur Zeit eines Thomas Mann mit seinen fuchtelnden Prosasätzen. Ich bin auch froh, daß die Zeit vorbei ist, als sich Grass wichtig hat machen dürfen und geglaubt hat, er sei der Sprecher für diese oder jene politische Gruppe. Es ist doch eine unerträgliche Anmaßung von Schriftstellern, sich so aufbudeln zu wollen.

In Frankreich und Südamerika sieht man das anders.

HANDKE: Auch in Frankreich sind es nicht die Schriftsteller, die sich so aufführen, sondern die schriftstellernden Philosophen. Was man dort als neue Literatur bezeichnet, ist eine Mißgeburt. Erfreulich in anderen Ländern finde ich manchmal, wie selbstverständlich die Schriftsteller dastehen, ohne sich in einer Rolle zu fühlen. Das können wir nicht. Entweder wir übertreiben, wenn wir uns gesellschaftlich äußern, oder wir sind ganz Dichter, die nur zu gewissen heiligen Zeiten ihre Stimme erheben. In Italien ist ein Schriftsteller jemand, der das und jenes geschrieben hat. Er steht da, schaut herum. Die Leute freuen sich, ihn zu sehen. Wenn ich in Salzburg in eine Buchhandlung gehe, wird man sofort verlegen und ist froh, wenn ich wieder verschwunden bin. Niemand freut sich. Ich würd' mich freuen, wenn ich mich sehen könnte.

In Ihrer Erzählung "Nachmittag eines Schriftstellers" nennen Sie Leute, von denen Sie erkannt werden, ein "Feindheer" , begierig, über Sie herzufallen.

HANDKE: Ja, und ich bin auch sicher, daß das so stimmt, obwohl ich überlegt hatte, ob es vielleicht paranoisch ist. Kaum war ich so weit, es für Wahn zu halten, kam schon der Gegenbeweis.

In welcher Form?

HANDKE: Ich will Ihnen keine Anekdoten erzählen.

Haben Sie jemanden angesprochen?

HANDKE: Nein, angeschaut. Zwei Möbelpacker sind hinter einem Lastwagen gestanden, und als ich vorbeikam, haben sie mich als Turrini** beschimpft. Also die haben mich für den Turrini gehalten, und dann haben sie ihre Schwänze herausgezogen und gegen ihre Lastwagen geschifft. Es ist erstaunlich, wie oft ich verwechselt werde. Vor zwei Tagen hat sich eine Frau auf der Festspieltreppe im Gegenlicht vor mir aufgepflanzt und gesagt, Sie sind doch der Jandl! Da hab' ich gesagt, ja, sicher bin ich der Jandl***. Nur mit dem Thomas Bernhard hat mich noch niemand verwechselt.

Auf den ist man, weil er die Österreicher dauernd als Nazis beschimpft, unlängst mit einem Schirm losgegangen.

HANDKE: Wirklich?

Es stand in der Zeitung.

HANDKE: Erschreckend! Ich hab' mir oft gedacht, was würde geschehen, wenn ich einmal herausließe, was an Wut in mir ist gegen den österreichischen Antisemitismus und Fremdenhaß. Ich glaube, nichts würde sich ändern, und man selbst wird es auch nicht los durch das Herausschreien.

Der Bernhard hört gar nicht mehr auf, es herauszuschreien.

HANDKE: Nein, der schreit nicht, der macht das sehr routiniert und lacht sich dabei wahrscheinlich ununterbrochen ins Fäustchen. Leidenschaft ist da null.

Sie glauben ihm nicht, daß er leidet?

HANDKE: Warum soll er leiden? Ich halte dieses Wort für eine mißbrauchte Formel dem Schriftsteller gegenüber. Wie mir das auf die Nerven geht, wenn jemand mit seiner Leidenskraft auftrumpft!

In Ihren Aufzeichnungen notieren Sie mit Befriedigung, daß niemand Mitleid mit Ihnen haben kann.

HANDKE: Das würde ich immer noch unterstreichen.

Ein anderes Mal, so schreiben Sie, waren Sie kurz davor, den verachtetsten aller Menschen um Hilfe zu bitten.

HANDKE: Ja, das gibt's auch. Es gibt Zustände von Verlassenheit, da denkt man, mein Gott, wenn mir jetzt wenigstens das größte Scheusal entgegenkäme, damit ich irgendein Gegenüber hätte.

Darf ich fragen, wo sich Ihre Tochter im Augenblick aufhält?

HANDKE: Meine Tochter ist zwanzig Jahre alt und wohnt jetzt in Wien.

Daraus ergibt sich für Sie eine ganz neue Art von Alleinsein.

HANDKE: Ja.

Ist das schlimm?

HANDKE: Nein, seltsam, ich denke, es sollte mich beschäftigen, aber es beschäftigt mich nicht, und so bin ich in einem Schwebezustand von Unwirklichkeit, weil ich mir sage, es müßte ein Problem sein, aber es ist keins. Natürlich befällt mich immer wieder die übliche Sorge, die mir verhaßt ist und die dazu führt, daß ich mich alle vier, fünf Tage erkundige, wie es ihr geht. Aber mehr ist es nicht. Ein Gefühl von Einsamkeit stellt sich nicht ein. Das vermisse ich. Hinzu kommt, daß ich mit sechsundvierzig Jahren in der seltsamen Lage eines Menschen bin, der neu anfangen könnte. Man hört immer von Leuten, sie seien Zigaretten kaufen gegangen und nicht wiedergekommen. Das könnte ich jetzt verwirklichen, ohne daß ich mich davonstehlen müßte. Ich könnte in der sogenannten Blüte meiner Jahre Land, Ort und Lebensform ändern. Aber ich tue es nicht.

Ihr Freund Wim Wenders erzählt, Sie seien sehr wohl in Schwierigkeiten durch den Verlust Ihrer Tochter.

HANDKE: Das schmeichelt mir, aber, lieber Andre Müller, es stimmt nicht. Ich war mit dem Kind achtzehn Jahre zusammen. Sie können mir glauben, daß ich mich manchmal nach dem Tag gesehnt hab', wo ich auch wieder für mich sein kann. Das Dumme ist nur, ich langweile mich. Zum erstenmal seit meiner Jugend, in der ich mich wahnsinnig gelangweilt habe, erlebe ich wieder die Langeweile.

Wie sieht denn das aus?

HANDKE: Na, die Zeit vergeht nicht. Das Leben ist kurz, wie Goethe sagt, aber der Tag ist lang. Nur immer lesen oder entziffern, wenn es ein fremdsprachiges Buch ist, mag ich nicht. Länger als drei, vier Stunden zu arbeiten übersteigt meine Kräfte. Dann geh' ich spazieren, zwei Stunden, wunderbar, aber dann ist erst Nachmittag. Früher bin ich ins Kino gegangen. Nur ist das hier schwierig. Mir ist schon öfter passiert, daß ich mich überwunden hab', in irgendeinen Scheißfilm zu gehen, weil etwas anderes in Salzburg nicht läuft, aber dann war ich der Einzige, und die Vorstellung ist ausgefallen.

Vielleicht sollten Sie sich doch wieder verlieben.

HANDKE: Dann sagen Sie mir mal, wie das geht. Man kann sich nur bereithalten, mehr nicht.

Ja, aber von selbst kommt keine.

HANDKE: Gott sei Dank! Das wäre ja schrecklich. Dann könnte ich nicht mehr spazieren gehen oder am Morgen alleine lesen. Alles, was mir das Gefühl gibt, auf der Welt zu sein, wäre dann nicht mehr möglich. Es ist schon so, wie Kracauer sagt. Wenn ich etwas mit einer Frau anfange, kommt es mir jedesmal wie Verrat vor an der unbestimmten Liebe, die mich zum Schreiben treibt.

Ist das nicht lebensfeindlich?

HANDKE: Nein. Es gibt nichts Lebendigeres als ein Buch. Was für eine Herrlichkeit war bei uns zu Hause ein Buch! Meine Eltern hatten kaum Bücher. Wenn ich einen Glauben hab', dann glaube ich an das Buch. Mein Dilemma ist nur, daß ich aus der Alltagswelt, aus der allein die stichhaltigen Sätze für meine Bücher kommen, oft nicht zum Schreiben finde. Ich bin kein besessener Schreiber. Manchmal habe ich schon gedacht, wäre ich nur erlöst vom Schreiben, denn das ist ein Prozeß, wo man sehr lang im Dunkeln sitzt und sich als das lächerlichste aller Wesen vorkommt. Aber die Sehnsucht ist dann doch stärker. Schreiben ist ja ein Tiefseetauchen, so als holte man aus der Tiefsee das Licht.

Klingt sehr pathetisch.

HANDKE: Aber genau so ist es.

Als Motto Ihres dramatischen Gedichts "Über die Dörfer" haben Sie ein Zitat von Nietzsche gewählt.

HANDKE: Eine zärtliche Langsamkeit ist das Tempo dieser Reden.

Bei Nietzsche heißt es weiter: "Dergleichen gelangt nur zu den Auserwähltesten. Es ist ein Vorrecht ohnegleichen, hier Hörer zu sein.

HANDKE: Das hat er geschrieben, als er schon am Durchdrehen war. Manchmal gelangen ihm noch Passagen, die sehr durchgeistigt und fein sind, andererseits trat er schon als Verkünder und Retter der Menschheit auf.

Ist das nicht auch zum Teil Ihre Absicht?

HANDKE: Um Himmels willen, nein!

Aber in Ihrem "Gedicht an die Dauer" steht es doch, dreimal wiederholt.

HANDKE: Retten, retten, retten, ja, einen Anblick, ein Ding, eine Farbe. Das noch vorhandene Fühlbare und Sichtbare durch Sprache zu überliefern ist schon ein Impuls für mein Schreiben.

Und es genügt Ihnen, daß es beschrieben ist?

HANDKE: Ja, was kann ich mehr tun? Vieles, was es vor zehn Jahren noch gab, ist nicht mehr da. Da kann man nichts machen. In diesem Sinne bin ich ein Fatalist. Manchmal denke ich, vielleicht ist das, was ich schreibe, wie eine Bauzeichnung, nach der man ein zerstörtes Bauwerk wieder herstellen kann, verstehen Sie? Dadurch, daß ich über die Dinge schreibe, könnten sie neu gesehen werden.

Falls Ihre Bücher bleiben .

HANDKE: Richtig.

Und falls man sie lesen kann.

HANDKE: Ja, wir haben heute überhaupt keine Sicherheit mehr. Das ist der Unterschied zu allen früheren Epochen der Menschheit. Früher gab es eine Weltuntergangshysterie. Heute ist das keine Hysterie, sondern ein Gedanke, der sehr vernünftig ist. Trotzdem verachte ich seltsamerweise Schriftsteller, die versuchen, daraus Literatur zu machen. Einem Günter Kunert möchte ich die Gedichte, die er schreibt, am liebsten zurück in den ... in die Gesäßtasche stecken. Ich denke nicht an den Untergang, wenn ich schreibe. Ich vergesse das. Da sind wir wieder bei den schon besprochenen Illusionen. Ich falle immer wieder auf den Augenblick herein. Nur der Augenblick gibt mir Sprache.

Bedenken Sie nicht Ihren Nachruhm?

HANDKE: Nein, ich rechne nicht im mindesten mit einer Unsterblichkeit. Also das ist mir ein ekelhafter Gedanke, daß man einmal, wenn ich tot bin, jeden Tag meines Lebens durchstöbern könnte.

Aber das wird passieren.

HANDKE: Das wird nicht passieren.

Ihre Briefe an Marie Colbin werden herausgekramt.

HANDKE: Da habe ich extra nichts Verfängliches reingeschrieben, da bin ich schon schlau genug. Ich hab' auch die Jeanne Moreau wieder getroffen ...

... die auch Ihre Geliebte war.

HANDKE: Was heißt Geliebte! Ich kann mich nicht mehr erinnern. Jedenfalls hab' ich ihr Briefe geschrieben, die sie in einem kostbaren hölzernen Kästchen aufbewahrt hatte. Das zeigte sie mir. Da habe ich den Moment genützt, das Kästchen geöffnet und die Briefe herausgenommen. Also die gibt es nicht mehr. Etwas wirklich Persönliches von mir wird man nicht finden, und was ich veröffentlicht habe, ist die totale Verkleidung, abgesehen vielleicht von einem Buch, "Das Gewicht der Welt". Das ist noch am ehesten unverkleidet, also das nackte Ich. Aber auch darin findet man keine Sätze wie "Ich bin müde" oder "Ich bin verzweifelt".

Auch von einem Selbstmordversuch, über den Claus Peymann berichtet, haben Sie nichts geschrieben.

HANDKE: Den gab es nicht. Ich hab' in meinem Leben nie Schlaftabletten genommen und ausgekotzt. Ich hab' ab und zu Aspirin genommen, und ich hab' auch gekotzt, als ich jung war, aber eher vom Alkohol.

Als Alkoholiker hat man Sie auch schon bezeichnet.

HANDKE: Ist doch schön! Ich muß doch irgendwie interessanter werden. In meinem Leben passiert ja nichts. Ich überlege gerade, ob ich Ihnen noch etwas unterjuble, damit zum Selbstmörder und Alkoholiker etwas Drittes dazukommt, Bankräuber vielleicht, Rauschgiftsüchtiger, Zuhälter. Es ist ja lustig, wenn man so Lügen erzählt. Ich mache das gern. Ich hab' schon so viel gelogen, und ich freu' mich immer, wenn solche Lügen dann in Biographien als Tatsachen stehen. Mein Übersetzer in Frankreich, Georges-Arthur Goldschmidt, hat jetzt ein Buch über mich auf französisch geschrieben, da stehen noch und noch falsche Sachen drin. Ich hab' mir auch überlegt, ob mein Leben durch diesen angedeuteten Selbstmordversuch interessanter würde.

Haben Sie eine Erklärung, wie das Gerücht, daß Sie sterben wollten, entstehen konnte?

HANDKE: Wahrscheinlich hängt es damit zusammen, daß ich 1976 längere Zeit im Krankenhaus lag. Ich hatte furchtbare Angstzustände und bin trotz meiner Scheu vor Ärzten zur Untersuchung gegangen. Prompt wurde nach dem Motto, je mehr man sich auf die Ärzte einläßt, desto dümmer werden sie, eine falsche Diagnose gestellt. Man sagte, ein Herzinfarkt stünde bevor. Ich wurde ans Bett gefesselt und durfte nicht aufstehen. Darüber habe ich auch geschrieben.

Sich einer Psychoanalyse zu unterziehen ist Ihnen nicht in den Sinn gekommen?

HANDKE: Warum soll ich wegen einer Herzrhythmusstörung zur Analyse gehen? Ich hab' seit der Geburt einen Herzfehler. Man müßte die Brust aufschneiden, um zu sehen, was es ist. Dazu habe ich mich bis jetzt nicht entschließen können.

Haben Sie Todesangst?

HANDKE: Ich hatte damals schon ordentlich Todesangst in einem ganz animalischen Sinne. Was ich mir neben der Aufhebung meiner Kurzsichtigkeit am meisten wünsche, wäre ein ruhiges Herz. Ich beneide Leute, die sagen, sie haben ihr eigenes Herz noch nie schlagen hören.

Drittens würden Sie sich manchmal gern das Denken verbieten.

HANDKE: Das will doch jeder. Das könnte auch Uwe Seeler sagen.

Sie haben es aufgeschrieben.

HANDKE: Ein seltsames Phänomen sind die Sprüche im Kopf, das Gerede, das tagaus, tagein im Menschen abläuft, die vielen Stimmen aus Schlagern, großen Gedichten, aus der Liturgie der katholischen Kirche. Die machen mich leblos, weil ich sie nicht anhalten kann.

Ein Psychologe würde das womöglich als schizophren bezeichnen.

HANDKE: Nur zu!

Wie gehen Sie damit um?

HANDKE: Das beste ist, man läßt es geschehen, oder es gelingt, was die Griechen mit dem Wort "theoria" beschreiben, das schauende Denken, das heißt, man denkt nur an das, was man sieht. Das ist ein seltener Idealzustand, die Übereinkunft von Außen und Innen. Manchmal erreiche ich es durch das Lesen.

Zu Beginn Ihrer Erzählung "Langsame Heimkehr" schreiben Sie von einem "Bedürfnis nach Heil". Hatten Sie je den Wunsch, im engeren Sinne des Wortes geheilt zu werden?

HANDKE: Früher vielleicht, vor zehn, fünfzehn Jahren, jetzt nicht mehr.

Warum nicht?

HANDKE: Ich könnte einen Witz machen und sagen, weil ich inzwischen unheilbar bin. Ich empfinde mich nicht als gesund. Aber das ändert nichts an meiner Abneigung gegen die psychoanalytische Wissenschaft. Ich kann die Entdeckungen Freuds nicht als ein welthistorisches Datum begreifen. Ich habe sie einmal mit dem Turmbau zu Babel verglichen. Der Turm von Babel ging in den Himmel. Freud baute ihn in den Menschen hinein. Aber auch diesen Bau wird man abbrechen müssen.

Der Psychotherapeut Tilman Moser hat trotzdem über Sie, genauer über zwei Ihrer Bücher, eine Krankengeschichte geschrieben.**** Haben Sie sich darüber geärgert?

HANDKE: Ach nein, das hat mich nur amüsiert.

Hindert es Sie nicht am Schreiben, daß man Ihre Werke auf psychische Defekte zurückführt?

HANDKE: Manchmal ja. Aber mehr hindert mich, wenn ich merke, daß ich über ein Problem, das ich behandle, schon einmal geschrieben habe. Das Wort "Problem" habe ich gern, denn es heißt im Griechischen "Vorgebirge". Manchmal habe ich das Gefühl der Wiederholung, so als wäre ich um ein Gebirge schon einmal herumgefahren. Aber auch das macht mir jetzt nichts mehr aus. Ich habe die Einstellung gewonnen, daß es schön ist, wenn ich mich wiederhole. Ich kann ja keine Revolution in der Sprache machen. Ich kann keine andere Sprache hervorbringen als die klassische, die mir entspricht. Ich experimentiere nicht mit der Sprache. Dabei werde ich bleiben, oder ich werde aufhören zu schreiben und werde auch das ertragen.

Sind Sie sicher?

HANDKE: Ja, ich habe mir das früher sogar gewünscht, weil das Schreiben doch eine große Last ist. Ich wollte nur Übersetzer sein. Das wäre eigentlich mein idealer Beruf. Ich glaube, daß ich zum Übersetzer geboren bin.

Sie könnten sich ja darauf beschränken.

HANDKE: Sicher. Aber in mir ist ein Dämon, oder wie sagt man? Ich habe ja viele Jahre nur übersetzt, aus dem Französischen, Slowenischen, Englischen. Aber ich hatte während des Übersetzens oft eine gewaltige Sehnsucht zu schreiben. Ich hab' fast weinen müssen vor Sehnsucht. Manchmal denke ich, am liebsten wäre mir, so eine Art Tagebuch oder Nachtbuch zu führen, nichts zu veröffentlichen, nur noch für mich zu schreiben. Davon habe ich oft geträumt. Aber man möchte die Leute doch ärgern, Freude machen und ärgern. Man möchte die Leute vernichten. Was in der Literatur herumkrabbelt, das möchte man alles vernichten.

Wovon sprechen Sie jetzt?

HANDKE: In jedem Buch von mir gibt es so eine kleine Bosheit. In der "Lehre der Sainte-Victoire" ist ein langes Kapitel über den Kerl aus Frankfurt, wo er als Hund auftritt.

Meinen Sie Reich-Ranicki?

HANDKE: Ja, das hat mir unglaubliches Vergnügen bereitet.

Glauben Sie, daß er es weiß?

HANDKE: Sicher, das wissen alle.

So sehen also Ihre geheimen Triumphe aus.

HANDKE: Ja, so eiert man sich durch die Zeit. Man kann doch nicht immer so edel schreiben. Die linken Sachen mache ich im Vorübergehen, wie Stars das machen. Im Vorbeigehen geben sie dir einen kleinen Tritt. Niemand sieht es, aber der, der den Tritt bekommt, spürt es schon.

Sollten Sie sich als Dichter ...

HANDKE: Ich bin kein Dichter, ich bin Schriftsteller.

... nicht zu gut sein für solche Attacken?

HANDKE: Das klingt ja rührend. Jetzt sprechen Sie ganz aus dem Herzen.

Nietzsche meinte, das Genie kämpft nur mit Gott.

HANDKE: Nietzsche hat auch ganz schön gewettert gegen David Strauß oder Wagner. Mir hat dieser Mann ... "

... Reich Ranicki!

HANDKE: Ja, mich hat, was der schreibt, vor zehn Jahren, das gebe ich zu, sehr beschäftigt, weil er dachte, nun hätte er mich endgültig zur Strecke gebracht. Da habe ich mir gesagt, na, jetzt werden wir mal schauen. Ich glaube, daß ihm der Geifer noch immer von den Fangzähnen tropft. Ein besonderes Phänomen ist auch, wie oft diese Groteskgestalt parodiert wird. Ich kenne viele, die finden ihn amüsant. Die haben gar keinen Stolz. Die sagen, wenn der einmal stirbt, wird man das sehr bedauern. Dem kann ich nun nicht beipflichten.

Einmal hat er Sie sogar mit Brigitte Bardot verglichen.

HANDKE: Mit Brigitte Bardot?

Ja, weil Sie schmollen und zugleich provozieren.

HANDKE: Ich kenne nur die schöne Geschichte von Gottfried Keller "Pankraz, der Schmoller". Mir ist das heute auch nicht mehr wichtig. Etwas erstaunt hat mich nur, daß jemand gegen mich ein ganzes Buch verfaßt hat.

Der Germanist Manfred Durzak.*****

HANDKE: Ja, einer von diesen Winkelschreibern, die schwerhörig sind vom Echo der anderen. Also das hat mich schon leise gewundert, denn es gehört doch eine gewisse kriminelle Energie dazu, das zu können.

Für jemanden, der an sich zweifelt, wären solche Angriffe kaum auszuhalten.

HANDKE: Ich zweifle immer an mir. Aber das Seltsame ist, daß ich gerade, wenn man mich niedermacht, am ehesten weiß, wer ich bin. Sonst weiß ich das nicht. Ich habe oft das Bedürfnis, zu jemandem hinzugehen und zu fragen, du, sag' mal, wer bin ich denn eigentlich? Mir sind Leute verdächtig, die sich zu kennen glauben, die sagen, sie seien so gutmütig oder so weichherzig. Ich habe überhaupt nicht den Wunsch, als gut dazustehen. Manchmal erschrecke ich Freunde, weil ich so vieles bin. Sie halten mich für so und so. Im nächsten Moment denken sie, ich sei ein Umspringbild. Von mir könnte jemand, wenn ich spazieren gehe, alle zehn Meter ein anderes Bild bekommen. Zuerst bin ich ein ruhiger, in sich gekehrter Mensch, zehn Meter weiter kommt mir irgendwas in den Sinn, und ich werde voll Haß und Wut, so daß man denkt, ich sei ein Wahnsinniger, wieder zehn Meter weiter gefällt mir etwas, und ein leichter Schimmer verklärt mein Antlitz.

In Ihren zuletzt publizierten Aufzeichnungen "Die Geschichte des Bleistifts" schreiben Sie über das "heroisch Böse", das Ihnen, weil Sie Schriftsteller seien, niemals gelinge.

HANDKE: Ja, in meinem nächsten Leben will ich ein Schurke sein.

Glauben Sie nicht, daß Sie es noch in diesem schaffen?

HANDKE: Dazu bin ich zu schwach inzwischen, auch zu vernarrt in die Ruhe, von der Stille wirklich drogenabhängig.

Was meinen Sie mit dem Wort "heroisch"?

HANDKE: Es gibt im Leben Momente, wo der Mensch fast unwillkürlich eine böse Tat setzt und in dieser Schufterei dann gefangen ist, so daß er nur heraus kann, indem er entschlossen und bei klarem Verstand seinen Weg weitergeht, um doch noch zu einer Art von Kraft und Herrlichkeit zu gelangen. Aber vielleicht war der Satz, den ich da geschrieben habe, auch nur ein Witz, um mich ins Gleichgewicht zu bringen in meinem Streben, das Schöne und Reine zu finden. Ich bin auf eine durch die Sprache gereinigte Welt aus.

Gerade deshalb sollten Sie das Böse beschreiben, um es zu bannen, nicht dauernd Ihre Hymnen an das Gute und Schöne.

HANDKE: Sie sind ein Depp!

Schon möglich.

HANDKE: Daß ich Hymnen an die Schönheit schreibe, laß ich mir gerne sagen, denn die sind alle konkret und philosophisch und auch supergeil formuliert. Jeder Mensch versteht das. Ich hab' keine Lust, über Leute zu schreiben, die mir widerlich sind. Die erwische ich, wenn ich sie vor mir habe. In zwei Sekunden sind die tot. Aber sie kommen ja nicht, weil sie Angst haben, weil sie ein schlechtes Gewissen haben, weil sie ihre Kindheit verraten haben. Mir hat mal ein Maler gesagt, der meine Sachen gelesen hatte, er habe zu malen begonnen, um etwas Schönes zu tun, aber er habe das im Laufe der Zeit vergessen.

Und durch Sie ist es ihm wieder eingefallen?

HANDKE: Ja, denn je länger Sie in diesem Kunstbetrieb und Literaturbetrieb leben, desto gründlicher vergessen Sie alles, was Sie sich einmal zum Ziel gesetzt haben. Es gibt ja nichts anderes als die Schönheit, nichts, was wirklicher wäre.

Jetzt sprechen Sie wie ein Guru.

HANDKE: Nein, denn ich sage Ihnen das ja nur hier beim Kaffee. Ich stelle mich nicht ins Rheinstadion, um es zu verkünden.

Sie verkünden es in Ihren Büchern.

HANDKE: Auch nicht. Ich kenne niemand Lebenden, der so reine Literatur macht wie ich. Alle anderen verbreiten bloß Meinungen. Nichts in dem, was ich schreibe, deutet auch nur im entferntesten darauf hin, daß ich mich zu etwas aufschwingen möchte. Das einzige, was mir im Leben wirklich gelungen ist, worauf ich stolz bin, ist, ein Weltbild vermieden zu haben. Meine Bücher sind für mich das reinste Lesevergnügen. Wenn ich sie lese, wird mir die Brust weit, und ich denke, das ist aber schön geschrieben, das kann er, das hat er gut gemacht.

In "Der Chinese des Schmerzes" bringt ein Spaziergänger einen Mann um, der Hakenkreuze auf Baumstämme malt, und empfindet danach "einen Triumph, getötet zu haben".

HANDKE: Sie wollen immer in mir den Verbrecher sehen. Aber den können Sie aus jedem herauskitzeln, wenn Sie lang genug wühlen.

Ich wollte fragen, ob sie je vor einer Entscheidung standen, die Ihren Mut auf die Probe stellte.

HANDKE: Dazu fällt mir ein Erlebnis ein, als das Haus meines Freundes Nicolas Born an der Elbe brannte. Das war vor zwölf Jahren. Ich war dort zu Besuch und sollte einen Ziegenbock aus der Scheune retten, obwohl schon überall Flammen waren. Dieser Moment geht mir nicht aus dem Kopf. Ich zog den Bock, aber er kam nicht heraus. Als ich aus Angst vor dem Feuer, von dem ich umkreist war, schon aufgeben wollte, befreite er sich plötzlich von selbst. Im nachhinein wurde gesagt, ich sei mutig gewesen, was mich beschämt hat, weil es nicht stimmte. Ich glaube, ich wäre zu feige, um für einen anderen mein Leben aufs Spiel zu setzen.

Weil Sie kein gottesfürchtiger Mensch sind.

HANDKE: Kein gläubiger Mensch, gottesfürchtig schon, ein schönes Wort, das Sie gebrauchen. Die Gottesfurcht ist ja dieser berühmte Schauder, von dem Goethe sagte, er sei der Menschheit bester Teil. Ich bin sehr sorgsam mit Wörtern.

Von Ihren Kritikern wird das oft mißverstanden.

HANDKE: Ja, weil heute im Reden über Bücher die Unterscheidung zwischen Wörtern und Sätzen entfallen ist. An der Art, wie über meine Bücher gesprochen wird, kann das amüsante Phänomen beobachtet werden, daß es den Leuten oft schon genügt, einen Katalog sogenannter feierlicher Ausdrücke zusammenzustellen, um das, was ich schreibe, zu denunzieren. Wer aber genau hinsieht, merkt, daß meine Wörter ganz und gar aus der Gemeinsprache kommen. Sie werden mir kaum die Neuschöpfung eines Wortes nachweisen können. Früher war meine Sprache sehr klaustrophobisch, nahe dran an dem beschriebenen Phänomen. Heute bin ich mehr in den Abstand gerückt. Daraus ergibt sich manchmal die Schwierigkeit, größere Gesamtbilder in einen Satz zu fassen. Die Sätze sind länger. Wenn über mich gesagt wird, er schreibt so schön zögernd, gefällt mir das. Ich will nicht brillant sein. Ich hasse alle Brillanz.

Das trennt Sie von Thomas Bernhard, der das Schreiben mit der Tätigkeit einer Putzfrau vergleicht, die mit der Zeit zwangsläufig besser wird.

HANDKE: Jeder braucht Ausreden, um seine Unfähigkeit zu bemänteln, auch ich, indem ich zum Beispiel die Wiederholung hochleben lasse und sage, mit zunehmendem Älterwerden wird es ein Glück, immer wieder an dieselben Orte zu kommen, die Jahreszeiten neu zu erleben. Auch zwischen Mann und Frau gibt es die Wiederholung. Die ist allerdings schrecklich.

Haben Sie daraus Konsequenzen gezogen?

HANDKE: Ja, ich hab's aufgegeben.

Was empfinden Sie, wenn Sie ein glückliches Liebespaar sehen?

HANDKE: In der Regel habe ich das Gefühl, die machen Theater, vor allem die Frauen. Die schauen immer so, als wollten sie dafür bewundert werden, wie super sie die Arme um den Geliebten schlingen, und dabei verdrehen sie schon die Augen zu einem Dritten. Das finde ich scheußlich. Wenn ich ein Liebespaar erlebe, von dem ich halbwegs glauben kann, daß es echt ist, bin ich oft schadenfroh, weil ich denke, mein Gott, das wird schwierig, jetzt müssen sie die Nacht miteinander verbringen. Da bin ich dann froh, daß ich allein bin. Nur in seltenen Momenten denke ich, etwas versäumt zu haben. Da überkommt mich eine gewisse Melancholie, die aber auch ganz gemütlich ist.

Letztlich ist es dann nur ein sexuelles Problem.

HANDKE: Was denn?

Die Abwesenheit des anderen Geschlechts.

HANDKE: Sie wissen doch gar nichts. Zu mir kommt jede Nacht eine Neue.

Jetzt werden Sie noch vom Selbstmörder zum Casanova.

HANDKE: Ich höre zu meinem Erstaunen von allen Seiten so viel Verschiedenes über mich. Die einen sagen, ich würde, weil ich hier auf dem Mönchsberg wohne, völlig enthaltsam leben, die anderen behaupten das Gegenteil. Ich fühle mich immer geschmeichelt, wenn ich das Ziel der Gedanken anderer Leute bin.

Ein Frauenheld sind Sie bestimmt nicht.

HANDKE: Nein, denn ich hab' als Kärntner nie die Verführung gelernt, weil die Kärntnerinnen, so geht die Legende, die Männer auch so zu sich lassen. Deshalb gibt es so viele uneheliche Kinder in Kärnten. Auch ich bin ja das uneheliche Kind einer Kärntnerin.

Wie haben Sie denn Ihre Geliebten erobert?

HANDKE: Ich hab' Kokain genommen.

Sie scherzen.

HANDKE: Ja, sicher. Ich will doch gar keine Frauen erobern. Wo soll ich denn hin damit? Ich hab' kein Bett, nichts. Ich möchte nicht, daß in meinem Haus eine Frau ist. Die einzige Frau, die mich in letzter Zeit interessiert hat, war eigentlich nur eine Erscheinung. Je näher ich ihr gekommen bin, desto mehr hab' ich gemerkt, daß die Wirkung, die von ihr ausging, bloß Schwermut war, eine Art Ausweglosigkeit.

Vielleicht lieben Sie das Unglück der Frauen.

HANDKE: Das denke ich oft. Ich glaube, daß meine Seele nur dann erotisch erwacht, wenn die Frau von einer Aura der Trauer umhüllt ist. Eine Gestalt wie die Maria Magdalena ist für einen Mann die erotisch anziehendste Frau überhaupt, eine trauernde Sünderin.

Alle Frauen, die Ihnen, soweit bekannt, nahestanden, waren Schauspielerinnen.

HANDKE: So viele waren es nicht. Aber es stimmt, Schauspielerinnen sind die einzigen interessanten Frauen, weil dieser Beruf den Frauen am meisten entspricht. Sie verlieren dadurch, was an ihnen so störend ist, das Körperliche. Bei Schauspielerinnen ist das weniger lästig.

Noch lieber ist Ihnen die Gesellschaft von Toten.

HANDKE: Sie sind ein Spinner.

Ich wiederhole nur, was Sie geschrieben haben.

HANDKE: Man antwortet Ihnen deshalb so gern, weil Ihre Spinnereien von der eigenen Realität so weit entfernt sind.

Aber wie ist es dann zu verstehen, wenn Sie in "Nachmittag eines Schriftstellers" schreiben, daß der Held, der zweifellos Sie sind, "ganz nur mit denen, die tot waren", lebte?

HANDKE: Ich träume sehr oft von Menschen, die tot sind. In den Träumen leben und sterben sie immer wieder. Der Tod steht jedesmal von neuem bevor. Sie sterben, aber anders, als sie in Wirklichkeit starben.

Eines natürlichen Todes?

HANDKE: Für mich ist der Tod überhaupt nicht natürlich. Ich denke oft, daß ich viel versäumt hab' an Menschen, die gestorben sind, als sie noch lebten, versäumt zu fragen, was ich jetzt fragen könnte. Würde meine Mutter noch leben, würde ich hinpilgern zu ihr, würde mir Fragen aufschreiben, mir ein Kunstwerk von Fragen zusammenstellen, um ihr eine Freude zu machen. Jeder von uns wartet doch nur auf die Frage, bei der er endlich durchatmen kann. Die richtigen Fragen zu stellen ist wahrscheinlich die höchste Intuition.

Ihre Mutter hat sich 1972 das Leben genommen.

HANDKE: Ja, sie wäre jetzt 68 Jahre alt, eine würdige ältere Frau, noch ganz lustig, kann ich mir vorstellen. Sie könnte auf eine ruhige, freundliche Weise leben. Wenn ich an Selbstmord denke, sehe ich immer das Bild einer schwankenden Hängebrücke, auf der unser Leben sich abspielt. Ab und zu kann man ein paar Schritte in Sicherheit machen. Dann fängt die Brücke wieder zu schaukeln an. Plötzlich kommt ein Moment zu großer Schwingung ... Einen Augenblick später würde man es schon nicht mehr verstehen.

In einem Gespräch, das wir kurz nach dem Tod Ihrer Mutter führten, sagten Sie, den konkreten Plan, sich umzubringen, hätten Sie nie, aber oft den Gedanken, Sie würden gern abgeschafft sein.

HANDKE: Ja, seltsam, zu der Zeit, als ich auf eine gewisse Weise ein Star war, was ich jetzt nicht mehr bin, war ich am wenigsten froh. Auf den Fotos von damals seh' ich aus wie ein Monstrum, ein Alkoholiker, denn da habe ich wirklich gesoffen. Die zwei Jahre in Kronberg bei Frankfurt war ich praktisch eingesperrt mit dem Kind und hab' dauernd getrunken, ohne richtig betrunken zu werden. Nur eine gewisse Geistesabwesenheit stellte sich ein. Ich war tatsächlich verrückt. Trotzdem war es für das Schreiben der Idealzustand, denn ich hab' es mir abknapsen müssen. Nachts, während das Kind schlief, hab' ich "Wunschloses Unglück" geschrieben. Wenn ich fernsehen wollte, hab' ich mich überwunden, es nicht zu tun. Das rechne ich mir hoch an. Denn wer einmal versagt im Schreiben, hat für immer versagt. Wenn man einmal klein beigibt gegenüber der Nachrichtenwelt, ist man verloren. Seit meine Tochter fort ist, fehlt dieser Widerstand. Ich müßte mir einen neuen suchen.

Oder Sie warten ab, ob das Schreiben überhaupt sein muß.

HANDKE: Jetzt reden Sie wieder Blödsinn. Es hat immer sein müssen. Immer hab' ich gewartet, bis es ganz dringlich wurde.

Dann wird der Widerstand eine Art Panik sein.

HANDKE: Wahrscheinlich. Habe ich erst einmal angefangen zu schreiben, bin ich ja ziemlich schnell fertig. Länger als drei, vier Monate schreibe ich nie, denn das wäre Mißbrauch am göttlichen Wort.

Das Manuskript schicken Sie Ihrem Verlag.

HANDKE: Ja, und dann wird es gedruckt.

Einwände müssen Sie, so berühmt wie Sie sind, nicht mehr befürchten.

HANDKE: Schauen Sie, es ist bei mir wie bei Kafka. Schreibe ich etwas hin, schon ist es vollkommen.

Ach!

HANDKE: Nun überlegen Sie, ob ich das im Spaß gesagt oder ernst gemeint habe.

Nein, ich denke gerade, wieviel heiterer Sie mir im Vergleich zu früher begegnen.

HANDKE: Das ist Galgenhumor. Den habe ich gelernt im Laufe des Lebens. Aber ich bin schon noch von Schwermut bedroht. Nur weiß ich inzwischen, wie ich sie loswerden kann, durch Gehen zum Beispiel. Wäre mir die Möglichkeit des Gehens genommen und ich wäre ans Zimmer gebunden, würde ich blind werden vor Schwermut. Es gibt Tage, an denen sie gar nicht kommt, manchmal nur fünf Minuten, manchmal auch eine halbe Stunde. Dauert sie länger, wird es schon unerträglich. Ich hab' so eine Vorstellung, daß das Zeitmaß der Erde für den Menschen nicht das richtige ist, sondern daß die Tage und Nächte kürzer sein müßten. Ich glaube, daß wir eigentlich auf einen anderen Planeten gehören, wo ein Tag samt Nacht nur siebzehn oder achtzehn Stunden lang dauert. Dadurch würde diese Zwischenzeit wegfallen, in der die Schwermut sich breitmacht. Schwermut ist ja ein viel zu schönes Wort für diesen grausigen Zustand, denn das ist ja ein Wüten im Menschen, ein Schmerz, eine schmerzhafte Lähmung, auch eine Lähmung der Sprache, die doch die Mitte des Menschen ist, seine Seele. Die Melancholie ist eine Krankheit. Aber das wird nicht akzeptiert. Ich habe eine Lebensversicherung abgeschlossen, die man nur ausbezahlt, wenn ich mir in den drei Jahren nach Vertragsabschluß nicht das Leben nehme. Das ist eigentlich ungerecht. Jetzt muß ich weiterleben, damit die Lebensversicherung gültig bleibt.

Denken Sie manchmal daran, daß Ihre Lebenszeit immer kürzer wird mit den Jahren?

HANDKE: Daran denke ich immer.

Wie alt wollen Sie werden?

HANDKE: Ich will schon alt werden, wenn der Geist hell bleibt. Es ist schön, als Schriftsteller durch die Zeiten zu wandern. Je älter ich werde, desto häufiger denke ich an meine Kindheit. Bilder kommen mir in den Sinn. Ich sehe die Nachmittage, die ich auf der Kuhweide verbrachte, das Feuer, auf dem die Kartoffeln gebraten wurden. Der Bach floß vorbei. In einem meiner ersten Prosastücke habe ich diesen Bach in Lethe, den Fluß des Vergessens, verwandelt.

Wie werden Sie leben, wenn Sie ein alter, vielleicht gebrechlicher Mann sind?

HANDKE: Ich gründe mit Freunden ein Altersheim. Wir sind gerade dabei, einen Architekten zu suchen. Dort dürfen dann Maler und Schriftsteller und ein paar andere Deppen wohnen. Wir werden Karten spielen oder Schach und auf die Mädchen schauen, die auf der Straße vorbeigehen.

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*) nach Heraklit: "Kampf ist der Vater von allem, der König von allem“, populär übersetzt:  „Krieg ist der Vater aller Dinge."


**) Peter Turrini, österreichischer Schriftsteller (geb. 1944)

***) Ernst Jandl, österreichischer Dichter (1925 - 2000)


****) Tilman Moser, "Romane als Krankengeschichten", Frankfurt, 1985

 
*****) Manfred Durzak, "Narziß auf Abwegen", Stuttgart, 1982

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Erschienen am 3. März 1989 in der ZEIT