Besuch bei Peter Handke (Juni 1978)



In München hatte man mir gesagt: Handke gibt keine Interviews. Er sei sauer auf Deutschland, weil man seinen Film "Die linkshändige Frau" hierzulande verrissen habe. Bei den Filmfestspielen in Cannes habe er sich geweigert, mit deutschen Journalisten zu sprechen, und im Pariser "France Soir" habe er die Bundesrepublik mit einem Kadaver verglichen, "verloren im Abgrund der Geschichte". Daß ihm der Satz nur so herausgerutscht sei, hielt ich für ausgeschlossen. Dazu ist Handke zu penibel im Umgang mit Worten. Auch wollte ich es nicht glauben, daß ein paar unfreundliche Filmkritiken schon genügten, ihn zu einer solchen Äußerung zu bewegen. Ich rief ihn also an und fragte, ob er Lust hätte, dazu etwas zu sagen. "Schreiben Sie für Deutschland?" gab er zur Antwort. In der Not fiel mir ein, ich könnte ja auch für Österreich schreiben. Aber da hatte er schon angefangen, in aller Ausführlichkeit über seine Verachtung gegen den deutschen Journalismus zu reden. Die Energie der Verachtung, das sei für ihn nichts als Vergeudung, und er müsse, um seine Kräfte zu schonen, die Verachteten meiden.

Ich wunderte mich, daß er überhaupt so lang mit mir sprach, da ich doch zu denen gehörte, mit denen er nichts mehr zu tun haben wollte. Abends rief ich dann noch einmal an. Handke sagte, er wolle es sich überlegen. Ich erinnerte mich an eine Stelle aus seinem Tagebuch*, wo es heißt: "Man sagt jemandem am Telefon, der was von einem will: Lassen Sie mich ein paar Tage darüber nachdenken! Und dann denkt man keine Sekunde darüber nach." Handke jedoch dachte nach und lud mich ein, ihn in seinem Haus in Clamart, eine halbe Zugstunde vor Paris, zu besuchen. Bei unserem ersten Treffen wollte er noch nichts sagen. Wir tranken im Erdgeschoß Wein, während im ersten Stock seine Tochter beim Spielen einschlief.

Für den nächsten Tag verabredeten wir uns in einem Café am Montparnasse.

Handke ist pünktlich. Das erste, was er tut: Er geht auf die Toilette. Ich solle ihm inzwischen einen Kaffee bestellen. Als er zurückkommt, fange ich gleich an zu fragen. Hat er sich tags zuvor noch dagegen gewehrt, von mir aufgeschrieben zu werden, so ist er jetzt ganz versessen darauf, mich schreiben zu sehen. Die Verwendung eines Tonbandgerätes hat er verboten. Wie eine Sekretärin beim Diktat sitze ich, ohne aufzublicken.

"In Deutschland", sagt Handke, "ist keine Größe mehr möglich, weil keine Sühne stattgefunden hat nach den Verbrechen des Nationalsozialismus. Es fehlt die metaphysische Entsühnung. Wenn ich dort auf der Straße gehe, stelle ich mir vor, die Passanten, die haben das und das gemacht, das ist eine Geschichte, die ich nicht denken kann. Nach so viel ungesühnter Gewalttätigkeit, da ist es ganz klar, daß eine Baader-Meinhof-Gruppe entsteht. Das hängt zusammen. Hätte ich nicht meinen Fanatismus der Sprache, ich wäre auch ein Amokläufer geworden. Für mich ist die Sprache die Heimat. Was ich an den Baader-Meinhof-Leuten verachte, ist, daß sie diese Anstrengung der Sprache nicht machen. Ich verstehe jeden Totschläger, jeden Mörder, aber nicht die Henker, die Richter, die Armeen mit ihren Staatsgebärden. Manchmal fühle ich eine tiefe, perverse Sympathie für die faschistische Gewalt, die aus der Verzweiflung kommt, aber nicht für die linke Gewalt, die sich rechtfertigt mit Marxismus oder sonst einer Ideologie. Ich habe Sympathie für das Leiden an der Sprachlosigkeit. Aber diese Baader-Meinhof-Leute und die roten Brigaden in Italien, die bezeichnen sich als Armee, halten Gerichtshof ab, richten hin und so weiter. Das verachte ich. Dem Hitler als Mensch, dem fühle ich mich manchmal sehr nahe, aber ich möchte keine Geschichten über ihn hören, keinen Joachim Fest oder so was, das finde ich verwerflich. Ich würde immer nur über meine eigene Gewalttätigkeit schreiben, nicht über die anderer Leute. Dieses Aufarbeiten der eigenen Gewalttätigkeit, das ist es, was fehlt in Deutschland. Das ist der Grund, warum ich dort nicht mehr leben könnte."

Eine junge Frau betritt das Café. Von weitem findet Handke sie schön, aber als sie an unserem Tisch vorbeikommt, nimmt er seine Begeisterung wieder zurück. "Es war doch nur eine Erscheinung." Frauen, so sagt er später, existieren für ihn nur noch "als Idee". Wenn er sich entscheide, mit einer zu schlafen, was immer seltener geschehe, sei das ein "heiliger Vorgang". Wie er aus der Feierlichkeit zur ganz gewöhnlichen Geilheit des Geschlechtsverkehrs komme, will er mir nicht erklären. In seinem Buch "Das Gewicht der Welt" steht auf Seite 199: "Sexualität als letztmögliche Feindseligkeit."

Was für Handke zählt, ist das Schreiben und seine Tochter Amina. "Die Wirklichkeit dieses Zusammenseins, die kann mir keiner mehr nehmen. Die habe ich erlebt. Das ist meine Realität." Als vor sechs Jahren seine Frau, Libgart Schwarz, von ihm wegging, um als Schauspielerin Karriere zu machen, blieb er als alleinstehender Vater zurück. Zunächst empfand er das Kind nur als störend. Das Schreiben mußte er in die Nächte verlegen oder in die Zeiten, in denen er Amina bei ihrer Mutter in Berlin unterbrachte. Während er "Die linkshändige Frau" schrieb, war die Tochter auf Schikurs. Heute ist sie alt genug, ihn in Ruhe arbeiten zu lassen. Spielkameradinnen bringt sie selten ins Haus. Handke: "Die soll ruhig isoliert sein. Isolation macht stark, gleichzeitig fragil." Er hat das an sich selbst ausprobiert. "Wie stolz ich bin auf mein Alleinsein", schreibt er im Tagebuch, aber er weiß auch, daß er es ohne das Kind nicht aushalten würde.

Am dritten Tag schlägt er mir einen Spaziergang von Clamart nach Meudon vor, wo Amina eine Ganztagsschule besucht. Der Himmel ist wolkenverhangen. Handke nimmt einen Schirm mit, der sich, weil die Automatik nicht funktioniert, beim Gehen immer wieder von selber öffnet. "Frechheit!", sagt er und muß über sich lachen. Eine Sache nicht in der Gewalt zu haben, macht ihn gleichzeitig wütend und heiter. Auch über einen deutschen Reporter, der ihm Geschichtsbücher schickte, damit er ein politisches Bewußtsein bekäme, hat er nur noch gelächelt. Das Leben im Ausland, sagt er, habe ihn immun gemacht "gegen das Kulturgeschwätz deutscher Feuilletonisten". Er habe hier "eine große Kühnheit gewonnen im Umgang mit dem Ich, eine Erbarmungslosigkeit, die auch etwas mit Humor zu tun hat".

Seit fünf Jahren lebt er jetzt schon in Frankreich. Sein letztes Heimweh hatte er 1976, am 8.September. Da schrieb er ins Tagebuch: "Sehnsucht nach einem leeren, nackt entmenschten, nicht wie Frankreich pittoresk entmenschten Land." Gemeint war die Bundesrepublik Deutschland. Aber schon am 9. September notiert er: "Ich habe endlich ein Ideal: die Vorstadt." Gemeint war Clamart, wo er jetzt wohnt. Nur in seinem Geburtsort in Kärnten habe er sich schon einmal so wohl gefühlt. Manchmal fährt er noch hin und besucht das Grab seiner Mutter. "Man spricht doch irgendwie mit den Knochen."

Während wir den Bahndamm entlanggehen, setzt sich der Schlager "Ma Baker" in seinem Kopf fest. In einer Kneipe läßt er dann die Musicbox spielen. "Man wird nicht alt", sagt er. Oder, so denke ich, man war es schon immer. Ich mache ihn darauf aufmerksam, daß es fast fünf ist, höchste Zeit, die Tochter aus der Schule zu holen. "Schade", sagt Handke. Als wir hinkommen, sind die Schülerinnen schon auf der Straße. Amina hat sich das Warten mit einer Freundin vertrieben. Sie haben ihre Schultaschen in einigem Abstand auf den Boden gestellt und springen darüber. Nach jedem gelungenen Sprung vergrößern sie die Entfernung zwischen den Taschen. "Die kann doch mit ihren Holzschuhen nicht springen", sagt Handke. Aber sie kann. Als sie ihn bemerkt, macht sie wie aus einem Reflex eine lange Nase und streckt die Zunge heraus. Dann bricht sie das Spiel sofort ab. Wir gehen zum Bahnhof. Es hat zu regnen begonnen. Handke zeigt auf ein Wagendach, auf dem die Tropfen zerstieben. "Das wird das erste Bild meines nächsten Films sein", sagt er. Sein Kopf schreibt, und seine Augen machen schon wieder Kamerafahrten.


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*) „Das Gewicht der Welt, ein Journal“, Residenz-Verlag, 1977

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Erschienen in: André Müller, "Entblößungen", Goldmann, 1979