Interview mit Marieluise Fleißer 1971



Sie wohnt in einem Neubau, Ingolstadt-Nord, seit sechs Jahren, in einem von diesen unpersönlichen Kästen, wo man nur graue Mäuse vermutet, weil alles so grau ist. Erster Stock. An der Tür ist ein Messingschild: Fleißer-Haindl. Josef "Bep" Haindl war ihr Mann, ein Tabakwarenhändler. Als die Fleißer ihn kennenlernte, war sie mit Brecht schon längst auseinander. Ihre berühmte lange Phase des Schweigens begann.

"Ja, mei, da täten Sie auch nix schreiben, wenn Sie heiraten und einen Haushalt besorgen und im Geschäft arbeiten müssen. Da gibt's endlose Scherereien mit so kleinem Zeug in so einem Großhandel."

Ihr Bayrisch ist, auch wenn sie es spricht, nicht nur wie sie es schreibt, unwiederholbar.

Interessierte den "Bep" Ihre Dichtung?

"A, keine Spur, das war ein ganz primitiver Schwimmer, wir haben uns beim Schwimmen kennengelernt. Für den war das ja was Spinnertes, daß er eine Frau hat, die schreibt. Mit dem hab' ich halt geschwommen und bin in den Wald mit ihm, er hat mir Ingolstadt gezeigt, die Umgebung, die kleinen Gäßchen, zuerst hat mich das sehr gereizt, bis ich dann drinsteckte, angehängt wie ein Kettenhund, dann hab ich gelöckt wider den Stachel, aber da war für mich nichts mehr zu machen."

Das Nazi-Regime verdammte die Dichtung der Fleißer, vor allem "Die Pioniere in Ingolstadt", verbrannte in Berlin ihre Bücher, verbot ihr zu schreiben.

"Da habe ich im Verborgenen zu leben versucht. Durch meinen Mann ist mir nichts passiert. Zu dem haben sie g'sagt: Ja, dir wollen wir nichts, aber deiner Frau ... Ich hab' ja einige Male versucht auszubrechen, aber wie hätte ich mich denn durchbringen sollen? Ich hatte ja nichts."

Und nach dem Krieg?

"1950 ist dann der 'Starke Stamm' gespielt worden. Da hab' ich zweitausendvierhundert Mark eingenommen. Tausend hab' ich gleich für eine Schreibmaschine verbraucht. Dann hat mein Mann durch einen Teilhaber sein ganzes Vermögen verloren. Dreiunddreißigtausend Mark Schulden. Dann ist er herzkrank geworden. Da geht man nicht weg von einem Mann."

1958 starb er. Der Fleißer blieben vom Unternehmen dreitausend Mark.

"Ich hätte gern alles nachgeholt, aber das gelingt nicht, wenn die Mitte des Lebens für das Schaffen verlorengegangen ist. Ich schreib' ja sehr langsam, bring' mich unheimlich schwer dazu, aber das ist halt ein innerer Drang, gell, das muß man halt machen."

Zur Zeit schreibt sie nichts, schon lange nicht mehr.

Warum nicht? Alle warten.

"Ja, die können leicht reden. Aber ich weiß ja nicht, was ich schreiben soll. Ich könnte schon ... über menschliche Beziehungen zwischen Mann und Frau im Dritten Reich, müßte ich eigentlich, aber ich hab' das alles so tief vergraben, weil es so schwer war. Zu tief. Ich bin gespannt, wann das einmal herauskommt. Ich hoffe, solang' ich noch lebe." *

Die Füße der kleinen, etwas geduckten Frau, die da sitzt, reichen kaum bis zum Boden. Durch ihre dickglasige Brille sieht sie mich unentwegt an.

"Aber Sie brauchen da keine Angst haben. Ich bin viel zu kurzsichtig. Ich seh' viel zu schlecht."

Sie lacht oft. Oft wartet sie lange mit einer Antwort.

"Die Leute sagen, ich sei mißtrauisch."

An der Wand hängt ein Jugendfoto von ihr.

"Ich war ja ganz nett damals, gut gewachsen."

Auf dem Foto hat sie die gleiche Ponyfrisur wie heute. Nur sind da die Haare noch schwarz. An der anderen Wand hängen gerahmte Fotos von Brecht, der Giehse und Rainer Werner Fassbinder.

Warum Fassbinder?

"Ja, durch den hab' ich doch sehr viel Geld verdient, was ich sonst nicht tu, durch seine Fernsehverfilmung der 'Pioniere'. Obwohl er mir auch viel Ärger gebracht hat. Drum steckt ja auch das Fähnchen da drin, zur Entschärfung."

Über dem Fassbinder-Foto steckt ein Papierfähnchen mit einer Kinder-Zeichnung.

"Wollen Sie Wein oder Kaffee? Wenn Sie Wein wollten, wäre mir lieber. Sie können auch rauchen. Blendet Sie vielleicht die Sonne?"

Es dämmert schon. Die Wanduhr schlägt fünf. Das Telefon klingelt. Ehemalige Mitschülerinnen der Fleißer aus der Töchterschule rufen an.

"Die wollen schon heute meinen Siebzigsten feiern. Sollen warten."

Das Zimmer ist klein, gemütlich, gut aufgeräumt. Das Brecht-Foto wirkt wie ein Fremdkörper hier.

Reden Sie gern über Brecht?

"Na ja..." Sie lacht. "Ich red' mal ganz gern, aber ewig braucht man ja auch nicht drauf rumzureiten."

Sie nimmt einen Anlauf, atmet tief.

"Ich möchte betonen, daß ich eigentlich keine Brecht-Nachfolgerin bin im Schreiben."

Sie schaut zu dem Foto hinüber.

1924, auf einem Schwabinger Künstlerfest, lernte sie Lion Feuchtwanger kennen und zeigte ihm ihre Gedichte.

"So Ergüsse halt, irgendwie lyrisch. Da hat der Lion gesagt, das ist ja lauter Expressionismus, das ist so verkrampft, ein junger Mensch darf ja verkrampft sein, aber so schreibt man nicht heute, man schreibt neue Sachlichkeit. Da bin ich so wütend geworden, daß ich alles verbrannt hab."

Danach entstanden das Stück "Fegefeuer" und der Erzählband "Abenteuer aus dem Englischen Garten". Feuchtwanger zeigte Brecht "Fegefeuer". Der vermittelte es an Ullstein. 1926 lernte die Fleißer in Feuchtwangers Wohnung in der Georgenstaße Brecht kennen und erzählte ihm von den Pionieren, die nach Ingolstadt zu Manövern gekommen waren.

"Da hat er gleich gesagt, schreiben Sie doch ein Stück über die Invasion von Soldaten in einer kleinen Stadt. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, wäre mir nicht im Traum eingefallen. Dann bin ich halt mit den Soldaten spazierengegangen, weil der Brecht gesagt hat, da müssen S' spazierengehen mit denen und aufpassen, was die reden. Das Stück ist aber dann doch nicht ganz so geworden, wie er es sich vorgestellt hatte."

1929, nach der Berliner Uraufführung mit Skandal von rechts, kam es zum Krach mit Brecht.

"Nicht nur wegen dem Skandal, sondern weil ich das einfach nicht mehr ausgehalten hab', die vielen Frauen um ihn, die Weigel, die Elisabeth Hauptmann, die Carola Neher. Mädchen tauchten auf, verschwanden wieder. Wahrscheinlich war ich eifersüchtig."

War es Liebe?

"Ja, von meiner Seite. Auf seiner Seite war eben das literarische Interesse. Brecht war in seiner Beziehung zu Frauen ja weniger sexuell veranlagt. Ich war eine von vielen. Aber ich wollte halt was erleben."

Jetzt macht sie längere Pausen im Reden, sucht oft nach Worten.

"Ich hab' ihn schon als Genie empfunden, aber er konnte auch einen großen Charme haben. Er war damals auf irgendeine Weise auch schön, der Kopf, die Bewegungen. Es ging ein Sog von ihm aus. Ich weiß nicht, wie er das machte."

Aber zu Ihnen war er doch bös?

"Vielleicht gefiel mir das auch."

Nie hat die Fleißer einem literarischen Kreis oder einer Partei angehört. Ideologien blieben ihr fremd. Brecht wollte sie überreden, in die KPD einzutreten. Günter Grass versuchte sie für eine Wahlwerbung der SPD zu gewinnen. Vergeblich!

"Ich bin eine Einsiedlernatur."

Die Nazis, sagt sie, habe sie "gefühlsmäßig" abgelehnt. Sie ist keine Intellektuelle. Die Damen um Brecht haben sie nie für ganz voll genommen. Sie stand immer abseits, beobachtend, schweigsam. Dann verlobte sie sich mit einem tobsüchtigen Ostpreußen, den liebte sie, dann kam "Bep", der Schwimmer.

Und heute?

"Ich bin ein Nachtlicht, lese bis eins, halb zwei, stehe um neun wieder auf, lese die Zeitung, frühstücke, fahr' in die Stadt meine Besorgungen machen, komm nach Haus', koche, spüle. Ich hab' keine Zugehfrau, ich mag kein fremdes Gesicht um mich haben. Und am Nachmittag, dann bin ich müd', weil ich herzkrank bin, da werde ich dann so matt, dann will ich mich eine Stund' niederlegen, dann werden drei Stunden draus, weil ich den Wecker nicht hör'. Und dann ist es Abend bereits, und dann hab ich wieder nichts g'schrieben. Mir haut's einfach das G'stell z'amm, nutzt alles nichts. Wenn ich mich gleich am Vormittag hinsetzen könnte, aber das kann ich ja nicht, ich muß ja meinen täglichen Tag machen. Was meinen Sie, wie es bei mir ausschauen würd', wenn ich nicht aufräumen tät?"

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*) Marieluise Fleißer verstarb, 72-jährig, am 2. Februar 1974.

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Erschienen am 23. November 1971 in der Münchner "Abendzeitung" unter der Überschrift "Die Welt wird nie gut."