Interview mit dem Liedermacher Konstantin Wecker 1979



In der von Ihrer Plattenfirma verbreiteten Biografie vergleicht man Sie mit Wolkenbruch und Hagelschauer. In Ihren Liedern flackere Wahnsinn auf. Fühlen Sie sich diesem Image gewachsen?

KONSTANTIN WECKER: Ich hab im Laufe meines Lebens gemerkt, daß ich ein Mensch bin, der anscheinend mit etwas mehr Energie begabt ist als andere Menschen, und daß ich in der Lage bin, Energie abzugeben in den Punkten, wo ich meine Besessenheit spüre. Ich hab in mir so eine Motorik. Die hatte ich immer schon, seit meiner Kindheit. Ich hab mich zum Beispiel in Gesprächen selber auf Trip bringen können. Ich hab mich selbst angetörnt, rein verbal. Als ich zum erstenmal von zu Hause ausreißen wollte, bin ich mit meinem Freund ins Café gegangen, und da haben wir uns rein durch das Reden... also wir haben damals dauernd über Trakl geredet, sind mit einem Trakl-Band unterm Arm rumgelaufen und haben davon geredet, daß wir Poeten unter der Brücke sein wollen. Ein Leben als Clochard, das war in meiner Schulzeit mein höchstes Ziel.

Haben Sie da auch schon gedichtet?

WECKER: Ja, dauernd.

Was war der Inhalt dieser Gedichte?

WECKER: Wie ich angefangen hab mit dem Dichten, das war so mit zwölf oder dreizehn, hab ich den Eichendorff imitiert. Später bin ich dann auf den Trakl gekommen, und danach kam eigentlich meine schlimmste Phase, da hab ich unheimlich schwülstige Sachen geschrieben.

Und dann kam Rilke?

WECKER: Ja, der Rilke hat mir wahnsinnig geholfen. Von dem hab ich das Handwerk gelernt, das ich für meine Lieder dann brauchen konnte, also die rhythmische Form des Reims und der Strophe. Zwei, drei Jahre hab ich den Rilke kopiert bis zum Geht-nicht-mehr. Das ist eine richtige Rilke-Manie gewesen.

Wie kam es, daß Sie so früh solche Gedichte lasen?

WECKER: Durch mein Elternhaus. Ich bin zur Musik gekommen durch meinen Vater, der Opernsänger war, und zur Literatur durch meine Mutter, die war ein reiner Gedicht-Mensch. Das hat mich sofort angezogen. Ich weiß noch, wie wir in Garmisch-Partenkirchen auf Urlaub waren, da bin ich immer allein spazieren gegangen, und da hab ich mit dem Eichendorff so viel im Busch g'habt, also der hat mich damals ständig begleitet.

Wann sind Sie zum erstenmal von daheim ausgerissen?

WECKER: Mit vierzehn.

Warum?

WECKER: Da war kein direkter Grund. Ich hab nie einen Haß gehabt auf meine Eltern.

War Ihnen fad?

WECKER: Ja, mir war fad. Ich glaub, das war der Hauptgrund. Ich wollte irgendwas Spannenderes erleben als diese Schulgeschichten. Aber es war noch was anderes. Ich war ja damals relativ isoliert. Ich hatte zwar Freunde, aber das waren immer nur einzelne, ich hatte nie eine Clique. In meiner Umgebung gab es aber sehr viele Cliquen, also die Pfadfinder und so weiter, da hab ich nie mitmachen können, weil ich am Tag zwei, drei Stunden Klavier gespielt hab, und zwar gern, man hat mich nie zum Klavier hinprügeln müssen, und da haben mich die anderen halt beneidet wegen meiner Sonderstellung, weil ich ein Musiker und in der Schule immer so der kleine Star war. Aber auf der anderen Seite hab ich auch die anderen um bestimmte Dinge beneidet. Es gab da welche, die durften schon alles, was ich nicht durfte. Die durften mit vierzehn nach Schwabing und haben ihre ausg'laugten Jeans g'habt und Weiber, was ich damals noch nicht gehabt hab. Weiber durfte ich von meiner Mutter aus eigentlich nie wirklich haben. Erst mit achtzehn, neunzehn hab ich dann so richtig losg'legt. Ich war ja ein Spätentwickler.

Körperlich?

WECKER: Nein, aber im Kopf, da war ich sehr kindlich. Ich hatte bis zu meiner Gefängnis-Geschichte, also mit neunzehn, eine Naivität, die eigentlich die Naivität eines Vierzehnjährigen war und die ich in gewisser Weise heute noch habe.

Sie waren im Gefängnis?

WECKER: Ja. Ich hatte mit meinem Freund den Tresor der Pferderennbahn in Riem ausgeraubt. Mit dem Geld, das waren dreißigtausend Mark, sind wir nach Bremen gefahren. Ich kann mich noch an Sprüche erinnern, wo wir gesagt haben, wenn sie uns erwischen, gehen wir halt ein halbes Jahr in den Knast, und nachher machen wir weiter. Ich wollte damals ein kriminelles Leben führen.

Als Alternative zur Langeweile.

WECKER: Genau! Als Alternative zur Langeweile.

Entweder man wird Künstler, oder man wird Verbrecher.

WECKER: Ja, so was Ähnliches hat mein Vater auch gesagt, als er mich dann im Gefängnis besuchte. Er hat gesagt: Du hast was angestellt, aber das ist ganz egal, zwischen Künstlern und Verbrechern ist eh kein großer Unterschied. Und dann hat er nie mehr über die Sache gesprochen. Ich hab gegen meinen Vater nie kämpfen müssen, weil ich ihn immer nur hab bewundern können.

Hätten Sie gegen ihn kämpfen müssen, hätten Sie sich vielleicht nicht so gelangweilt.

WECKER: Das weiß ich nicht. Ich bin dagegen, alles immer so psychologisch analysieren zu müssen. Ich glaub, es ist eine Sucht, seit es die Psychologie gibt, alles darauf zurückzuführen. Früher hätte man das mystifiziert meinetwegen, da hätte man gesagt, der Junge ist besessen oder irgend so was. Aber dann ist der Freud gekommen, und da hat man endlich was gehabt, wo man alles hat hineinpacken können. Dagegen wehre ich mich.

Aber es muß doch Gründe für Ihre Flucht von zu Hause geben.

WECKER: Ich hab den Verdacht, daß die übergroße Liebe meiner Mutter mich zu sehr eingeengt hat. Ich war ja das einzige Kind und ab einem gewissen Moment für die Eltern überhaupt das einzige auf der Welt. Da hat sich eine Liebe entwickelt, die mich zunächst unbewußt, aber dann immer bewußter unglaublich beengt hat.

Auf Ihrer ersten Langspielplatte, den "sadopoetischen Gesängen", gibt es einige ziemlich makabre Texte. Da schicken Sie Ihrer Geliebten einen abgehackten Arm nach Paris, gehen mit einer Toten ins Bett und besingen sich selbst als Leiche. Wollten Sie sterben?

WECKER: Im Gegenteil. Ich hab ja furchtbare Angst vor dem Tod. Je mehr ich leben will, desto größer wird meine Angst vor dem Sterben. Ich merke das an meiner Flugangst. Vor einem Jahr, als mich der Erfolg zu überrollen begann und ich kreative Impotenzängste bekam, da war ich wirklich so weit, daß ich keine Flugangst mehr hatte. Da ist mir plötzlich alles so gleichgültig geworden, daß ich mir gesagt hab, wenn ich jetzt runterfalIe, ist es mir wurscht.

Trotz Ihrer maroden Psyche wirken Sie äußerlich ganz gesund und kräftig.

WECKER: Ja, das war immer mein Problem Frauen gegenüber. Männer haben da ein besseres Gefühl gehabt, das ist ganz eigenartig. Da war ich wahrscheinlich auch ehrlicher und hatte weniger Posen. Es war immer ein Problem für mich, daß man mir wegen meines Aussehens keine Sensibilität zutraute. Da gab es viele, die noch nach stundenlangen Gesprächen gesagt haben: Was denn? Wieso denn? Du bist ja a Holzfäller oder a Fleischer oder so was. Wenn ich dann gesagt hab, daß ich Klavier spiel, haben die gesagt, haha, das gibt's nicht. Ich mußte immer beweisen, daß ich anders bin als ich ausschau'.

Wie denn?

WECKER: Ich würde mich als latent schizophren bezeichnen.

In Ihren politischen Liedern attackieren Sie den Staat, also die Bundesrepublik Deutschland und ihre  Verfassungsorgane.

WECKER: Ja, aber eigentlich ist mir die politische Einordnung, die mir da plötzlich passiert ist, zuwider.

Aber Sie haben sie doch selbst verursacht.

WECKER: Ich wehre mich nicht gegen ein bestimmtes politisches System, vom Kapitalismus bis hin zum Kommunismus, weil ich in einem ganz religiösen, buddhistischen Sinne überzeugt bin, daß es ein bestimmtes System als Lösung nicht gibt. Ich verlange das Akzeptieren des Chaos, so wie der Asiate das kann. Der hat keine Angst vor dem Chaos. Was mich aufregt, ist diese europäische Sucht, alles in irgendwelche Ordnungen bringen zu müssen, woraus dann so eine Grundangst entsteht, gerade auch diese scheißdeutsche Angst, daß man sich nicht traut, eigene moralische Maßstäbe zu setzen, sondern sich die Maßstäbe immer von anderswo herholt.

Hatten Sie diese Angst nie?

WECKER: Doch, in sehr hohem Maße. Gerade weil ich selbst immer moralische Hemmungen hatte, kämpfe ich ja so dagegen an. In der Zeit, in der ich den Einbruch machte, war ich in einer Phase, wo ich alle Werte umwerten, also jede Form von schlechtem Gewissen aus mir herauspressen wollte, auch ganz bewußt Böses tun und alles umstürzen wollte. Da ist mir dann der Jean Genet sehr gelegen gekommen, der sagt, böse ist nicht der Verbrecher, sondern der, der es schafft, seinen besten Freund zu verraten. Das hab ich dann probiert, aber so richtig ist es mir nicht gelungen. Ich war ja ein bis zur Trottelhaftigkeit gutmütiger Mensch, aber ich hab mich gewehrt gegen diese Gutmütigkeit.

Gegen das schlechte Gewissen.

WECKER: Ja. Denn ich bin ja in Bayern zur Schule gegangen. Da war man katholisch. Wir haben vor dem Unterricht beten müssen. Die Lehrer waren schlimmer als Mönche. Bis auf einen einzigen waren das lauter Typen, für die die Allmacht der Kirche eine unumstößliche Tatsache war. Später, in meiner Studentenzeit, waren es dann die Marxisten, die mir ein schlechtes Gewissen eingepflanzt haben. Die haben gesagt: Wenn du dein Leben nicht nach marxistischen Maßstäben aufbaust, dann bist du ein schlechter Mensch, dann bist du eine fiese Ratte. Das hat mir sehr zu schaffen gemacht. Heute weiß ich, daß ich damals lauter Freunde um mich hatte, die mich aus irgendwelchen Gründen beneidet haben. Das war eine ganz simple Schwanzgeschichte, weil ich Erfolg bei Frauen hatte und eine größere Selbstverständlichkeit in meinen Bewegungen. Das hat natürlich Haß erzeugt. Da hat man dann versucht, mich kaputtzumachen, indem man gesagt hat, daß ich ein unanalytischer Mensch und ein dummer Hund bin. Daraus ist dann entstanden, daß ich mir dachte, ich lasse mir von diesen Intellektuellen meine viel natürlichere Lebensform und meine Sinnlichkeit nicht nehmen. Heute ist es so, daß ich überhaupt keine intellektuellen Freunde mehr habe.

Hatten Sie auch mit intellektuellen Frauen Schwierigkeiten?

WECKER: Das kann man wohl sagen. Ich hab ja deshalb jahrelang mit einem Mann zusammengelebt. Da dachte ich schon, ich sei schwul, aber ich bin es nicht. Ich hab in letzter Zeit erst gemerkt, wie gut ich eigentlich mit Frauen umgehen kann. Intellektuelle Frauen sind auf mich nie gestanden. Der ideale Mann-Typ für die Studentinnen, das war der Kleine, Verhuschte und Schmale. Ich hatte halt meine Chancen in den Schwabinger Kneipen bei den Verkäuferinnen, die breite Schultern und einen starken Mann haben wollten. Ich war ja damals noch durchtrainiert, weil ich Bodybuilding und Karate gemacht hab. Ich bin immer ein Riesensportler gewesen, das lief ganz konform mit dem Singen, weil ich ja Humanist bin und diese athenischen Ideen im Kopf hatte, mens sana in corpore sano. Die Scheiße ist nur, daß die Frauen das gar nicht mögen, die stehen ja gar nicht auf Muskeln, sondern wer dir hinterherläuft, das sind die kleinen Jungs, die dich bewundern, oder die Männer, die im Schwimmbad auf dich zugehen und sagen: Sauber gell, hast an guaten Bizeps! Das ist ja ganz selten, daß eine Frau da mal hinlangt.

Was fühlen Sie, wenn Sie auf der Bühne vor so vielen Menschen singen?

WECKER: Das ist die pure Erotik, es ist ungeheuer. Ich hab das Gefühl, ich muß bei so einem Konzert für alle Frauen da sein, die unten sitzen. Die Tatsache, daß mich da eine Menge Frauen anschauen, die mir gefallen, das erotisiert mich unheimlich.

Ihr Erfolg kam relativ spät.

WECKER: Ja, aber ich hab mich durch meine anfängliche Erfolglosigkeit nicht irritieren lassen.

Jahrelang haben Sie in Kneipen und Bars auftreten müssen.

WECKER: Ja, zehn Jahre lang war ich finanziell a ganz arme Sau. Aber ich hab dann immer irgendwas angestellt, einen Versicherungsbetrug oder so was. Ich wär ein ganz guter Geschäftsmann geworden, weil ich ein sehr risikofreudiger Mensch bin und weil mir meine ökonomische Situation letzten Endes egal ist. Also es macht mir nichts aus, viel zu verlieren, deshalb kann ich auch viel gewinnen. Daß ich durch meine Lieder jemals zu Geld kommen würde, hätte ich nie gedacht.

Als sich der Erfolg dann einstellte, haben Sie erklärt, daß Sie ihn gar nicht wollen.

WECKER: Richtig.

Was störte Sie?

WECKER: Mich stören gewisse Begleiterscheinungen des Erfolgs. Je mehr du bekannt bist, desto weniger Scheiße kannst du dir erlauben, weil du ja immer auf was fixiert wirst, und dann kommt plötzlich die Überlegung: Darf ich das überhaupt noch machen? Ein typisches Beispiel: Während unserer letzten Tournee sind wir in irgend so einer Kleinstadt in eine Hotelbar gegangen, unheimlich besoffen, und sind auf die Tanzfläche und haben wie die letzten Rocker die Leut' angepöbelt. Da sind auch ein paar so Vertretertypen gewesen, die mich sowieso reizen, auch wenn sie ganz ruhig sind, und plötzlich hatte ich den Gedanken: Halt dich zurück, Presse und so weiter. Der Gedanke hat mich dermaßen geärgert, da hab ich dann erst recht zugeschlagen. Das war natürlich ein Blödsinn, und ich bin auch gar nicht stolz drauf, aber ist ja egal, der Saulus ist auch zum Paulus geworden. Man braucht gewisse emotionale Erlebnisse, um sich läutern zu können.

Fürchten Sie, Ihre Naivität zu verlieren?

WECKER: Sagen wir so: Ich hab furchtbare Angst, zu päpstlich zu werden. Das ist mir in meinem Leben immer wieder passiert, daß ich mir zu gescheit vorkomm', also daß ich sag, ich weiß eh schon alles. Ich fürchte mich davor, daß meine Selbstsicherheit in Bezug auf das philosophische Erfassen der Welt zu groß wird, weil mich diese Selbstsicherheit lähmen würde.

Sie meinen, Sie denken zu viel?

WECKER: Nein, denken tu ich eigentlich nie. Das ist lustig. Ich kann gar nicht denken. Ich kann nur etwas erfahren durch das Schreiben und Reden. Ich hab immer einen Block und einen Bleistift dabei, oder ich spreche laut zu mir selbst. Ich kann nicht nur so dasitzen und denken. Können Sie auf einem Stuhl sitzen und einfach nur denken?

Man denkt ja nicht freiwillig. Es geschieht.

WECKER: Bei mir nicht. Ich kann zum Beispiel vier Stunden lang flippern, da denk ich an gar nichts, da bin ich vollkommen ein Flipperer und sonst nichts. Oder ich fahr in den Süden, da kann ich wochenlang in der Sonne flacken und braun werden, also mich ganz in so eine Körperlichkeit hineinfallen lassen. Das betreib' ich mit einer unglaublichen Intensität. Oder ich geh auf's Oktoberfest und sauf' mir einen Rausch an. Eigentlich will ich immer einen Rausch haben.* Das ist meine Uferlosigkeit. Besoffen sein und dabei pissen, das ist das Tollste.

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*) Daß er auch Drogen konsumierte, deutete Wecker damals nur an. 1995 wurde er wegen fortgesetzter Einnahme von Kokain zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt, blieb aber gegen Kaution auf freiem Fuß. 1998 wurde das Urteil bestätigt, ein Jahr später jedoch „wegen suchtbedingter Schuldunfähigkeit“ aufgehoben. Im Jahr 2000 wurde der Sänger in dritter Instanz zu einem Jahr und acht Monaten Haft auf Bewährung und einer Geldstrafe von 100 000 DM verurteilt.

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Erschienen am 5. Oktober 1979 in der ZEIT