Interview mit Jacques Tati 1972



Jacques Tati empfängt mich in seiner Pariser Wohnung, die auch sein Büro ist. Die Zeit für das Interview ist begrenzt. Tati will unter keinen Umständen die Fernsehübertragung des Rugby-Spiels Wales gegen Frankreich* versäumen. Ich hole also gleich meinen Fragenzettel hervor. »Geben Sie her!« sagt Tati. »Ich lese es. Dann sind wir schnell fertig.« Ich stelle die erste Frage:

Welche Art von Lachen wollen Sie mit Ihren Filmen erzeugen?

TATI: Ich will, daß die Leute über das Leben lachen. Sie sehen sich einen Film von mir an, und drei, vier Tage später, wenn sie auf der Straße sind, bemerken sie plötzlich lauter lustige Kleinigkeiten, die sie in meinem Film schon gesehen haben, und dann müssen sie lachen. Ich bin ein Beobachter des Lebens. Alles, was in meinen Filmen vorkommt, gibt es auch in der Realität. Deshalb passiert es mir oft, daß mich Leute anrufen und sagen, dankeschön, Monsieur Tati, daß Sie uns auf so viele Kleinigkeiten aufmerksam machen, die wir sonst gar nicht gesehen hätten, weil wir keine Zeit dafür haben. Ich will ja nicht prätentiös sein, aber es ist wirklich schon vorgekommen, daß Leute gesagt haben, sie seien gerade zu Besuch bei ihrem Onkel gewesen oder in einem Restaurant oder auf dem Flughafen oder sonstwo, und da sei es genauso wie in meinen Filmen gewesen, und dann erzählen sie mir, was sie da erlebt haben, und sagen, das wäre doch etwas, das ich in einem meiner nächsten Filme verwenden könnte. Das macht mich sehr glücklich. Aber es gibt auch andere, die sagen, meine Filme sind gar keine Filme, weil sie Dinge zeigen, die es ohnehin schon in Wirklichkeit gibt.

Wie ist zum Beispiel »Playtime« entstanden?

TATI: Da bin auf der Straße gegangen und habe die Gebäude gesehen und die Leute, die darin eingesperrt waren, gefangen in ihren Möbeln, und da habe ich mir gesagt, du mußt etwas machen, du mußt versuchen, das aufzubrechen und ein bißchen Musik hineinbringen, damit die Leute was zu pfeifen haben.

Und »Trafic«?

TATI: Da habe ich mich zwei Stunden lang an die Autobahn nach Deauville gestellt, es war ein Sonntag, herrliches Wetter, die Bäume grün, und ich habe zwei Stunden lang mit den Parisern gelitten, die da zum Baden fuhren. Nicht ein einziger lächelte, die Kinder durften nichts reden. Das kam mir vor wie 24 Stunden Le Mans. Da dachte ich mir, so, jetzt werde ich dafür sorgen, daß die Leute das nächstemal was zu lächeln haben.

Und sich bewußt werden, wie unsinnig sie sich verhalten?

TATI: Nein, das war nicht meine Absicht. Ich will nicht sagen: Seht doch, wie ihr da eingesperrt seid in euren Autos. Ich sage nur: Warum schaut ihr denn alle so ernst? So ernst ist das doch gar nicht. Ich respektiere die Menschen. Sie sind ja nicht gezwungen, sich in ein Auto zu setzen oder sich gerade dieses Hemd oder diesen Pullover oder diese Stiefel zu kaufen. Sie tun es, um sich selbst auszudrücken, so wie ein Künstler sich ausdrückt. Es ist ihre Art, sich bemerkbar zu machen.

Aber sie kaufen sich das doch nur, weil sie es in der Werbung gesehen haben.

TATI: Natürlich ist die Werbung dazu da, den Leuten zu sagen, welche Seife und welches Auto und welchen Kühlschrank sie kaufen sollen. Meine Aufgabe ist es, zu zeigen, daß der Kühlschrank vielleicht gar nicht funktioniert, und mich darüber lustig zu machen, so daß wir gemeinsam unseren Spaß daran haben.

Dadurch ändert sich doch nichts.

TATI: Ich glaube nicht, daß es möglich ist, durch einen Film etwas zu ändern. Auch Chaplin konnte mit "Modern Times" die Fließbänder von Volkswagen, Ford oder Renault nicht zum Stehen bringen. Das einzige, wofür wir leben und unser Leben hingeben können, ist, den Menschen manchmal ein kleines Lächeln zu schenken. Was ist denn schon Freiheit? Hat denn irgend jemand bis jetzt herausgefunden, was ein freier Mensch ist? Ich glaube an die befreiende Wirkung des Lachens. Natürlich weiß ich, daß es wichtigere Dinge gibt, als lustige Filme zu machen. Aber ich glaube nicht, daß die Leute froh wären, würden alle Filme nur ernste Dinge behandeln. Die arbeiten von acht Uhr früh bis sechs Uhr abends, und dann wollen sie sich erholen. Ich bin ein kleiner Teil dieser Erholung. Das genügt mir.

Wie sind Sie auf Ihre Figur des Monsieur Hulot gekommen, der Sie Ihren Weltruhm verdanken?

TATI: Ich habe als Komiker im Varieté angefangen, wo man sich ja hauptsächlich mit den Beinen ausdrückt. Und da habe ich mir, um aufzufallen, diesen komischen Gang zugelegt, dieses Immer-ein-bißchen-über-dem-Boden-Schweben. Natürlich haben mich die Leute dann sofort abgestempelt: Das ist halt ein lustiger Kerl, der ist immer so nett, den mögen alle. In "Playtime" habe ich zum erstenmal versucht, den Hulot mit den anderen Figuren auf dieselbe Stufe zu stellen, also eine Demokratie der Gags einzuführen. Ich habe die Gags jenen Personen gegeben, zu denen sie in einer bestimmten Situation gerade am besten paßten. Wieso soll Hulot einen Gag machen, wenn der Kellner, der ihn bedient, in einer dafür viel besseren Lage ist? Ich wollte nicht, daß die Leute wieder sagen: Okay, der Hulot, der ist andauernd komisch, der ist anders als wir, ein lustiger Typ, über den alle lachen. Ich wollte, daß sich die Leute mit den Situationen im Film identifizieren können, um sie dann, wenn sie aus dem Kino hinausgehen, in der Realität wiederzufinden. Leider ist der Film kein Erfolg geworden. Die Pariser mochten ihn nicht. Ich habe zwar ein paar nette Briefe bekommen, von Truffaut und Melville zum Beispiel. Aber finanziell war es ein Reinfall. Hätte ich alle Gags dem Hulot gegeben, hätte man gesagt: Ah, was für ein komischer Film! Ich bin ein Gefangener dieser Figur geworden.

Hatten Sie nach diesem Mißerfolg Schwierigkeiten, Geld für einen neuen Film  aufzutreiben?

TATI: Ich lebe in einem kapitalistischen Land. Die Leute, die hier das Geld geben, tun das nur, wenn sie wissen, daß sie es bestimmt wieder zurückbekommen. Also geben sie es nicht Herrn Tati, sondern Monsieur Hulot, denn der hat in einigen Ländern ganz schön Kasse gemacht. Das ist das einzige, was diese Leute interessiert. Für mich bleibt "Playtime" der wichtigste Film, den ich je gemacht habe. Aber ich werde so etwas kein zweitesmal machen können. Ich werde nie wieder auch nur einen Penny für so einen Film bekommen. Doch immerhin: Einmal durfte ich, und in fünf oder zehn Jahren wird man sehen, daß das der Anfang einer neuen Art von Filmkomödie war, und dann werden auch junge Regisseure das machen dürfen, und es wird endlich wieder neue lustige Filme geben, Filme, in denen reale Situationen vorgeführt werden, die jedem passieren können und die auf jedes moderne Leben, ob in Singapur, Berlin, Paris oder Sidney, anwendbar sind.

Im Augenblick geschieht das Gegenteil: Überall werden die alten Chaplin-Filme gezeigt.

TATI: Herr Chaplin ist ein sehr geschäftstüchtiger Mann. Aber das wird die Entwicklung nicht aufhalten können. Die Zeit der Komiker, die ihre Wirkung fast nur durch Slapstick erreichen, ist vorbei. Der Slapstick ist ja nichts anderes als ein sehr starker visueller Effekt. In der Stummfilmzeit, als man zwangsläufig alle Möglichkeiten visueller Komik probierte, war das auch durchaus berechtigt. Doch als dann der Tonfilm kam und die Produzenten ihr Geld dafür hergaben, daß die Autoren den Witz in die Worte legten, hat die Slapstick-Komödie ihre Grundlage verloren. Irgendwie ist das schade. Denn ein komisches Gesicht merkt man sich, einen lustigen Satz vergißt man sofort. Aber die Entwicklung ist nicht rückgängig zu machen. Es ist einfach nicht komisch, wenn man heute im Film jemandem weiße Farbe ins Gesicht schmiert, obwohl die Leute da immer lachen und obwohl man da sehr viel Farbe verwendet. Nur ist das, selbst wenn man frische Farbe benutzt, nicht der richtige Weg, die Atmosphäre des heutigen Lebens wiederzugeben und das Publikum für die kleinen Scherze des Alltags zu öffnen. Ich möchte erreichen, daß die Menschen auf unterhaltsame Weise ein bißchen sensibler und gescheiter und intelligenter werden. Ich möchte sie nicht für so dumm verkaufen.

Haben Sie je einen Film gemacht, zu dem nicht Sie selbst das Drehbuch geschrieben haben?

TATI: Nein, nie. Ich habe immer alles selber gemacht: das Buch, die Musik, die Regie, das Schneiden. Ich kann mir nicht untreu werden. Das ist mein Problem. Angebote habe ich schon bekommen. Man hat gesagt: Machen Sie doch etwas mit hübschen Mädchen, oder etwas Dramatisches mit ein paar Leichen. Warum lassen Sie niemanden sterben in Ihren Filmen? Aber ich fand, daß schon genug Leute in anderen Filmen umgebracht wurden. Warum soll ich töten?

Was haben Sie während des Krieges gemacht?

TATI: Ich wurde von den Deutschen für das, was man "Kraft durch Freude" nannte, verwendet. Da fuhr ich auf Lastwagen mit einer Music-Hall-Nummer durch Deutschland und mußte in Fabriken und Spitälern auftreten, jeden Abend woanders. Das war nicht lustig. Ich erinnere mich, daß ich einmal in einer Kirche auftrat, in der ungefähr  zweitausend Betten waren voll deutscher Soldaten. Ich begann meine Nummer. Aber die Soldaten waren in Verbände gewickelt, so daß sie nicht lachen konnten. Das ist ein Eindruck, den ich niemals vergessen werde: eine komische Nummer machen zu müssen vor Menschen, die nicht einmal genug Bewegungsfreiheit hatten, um lachen zu können.

Wenn man das mit schwarzem Humor betrachtet, könnte man es auch komisch finden.

TATI: Diesen Humor habe ich nicht. In Berlin, während der Zeit meines Arbeitsdienstes, habe ich ein Drehbuch geschrieben über die Invasion der Franzosen als Arbeiter in Deutschland und der Deutschen als Soldaten in Frankreich. Das war ein sehr lustiges Drehbuch. Aber als die Lage dann ernst wurde, habe ich den Plan fallengelassen. Ich kann über so etwas überhaupt nicht lachen.

Chaplin machte sogar über Hitler eine Komödie.

TATI: Ich hätte in den sechziger Jahren sehr viel Geld bekommen für einen lustigen Film über de Gaulle, weil ich ja auch ziemlich groß bin und eine ganz nette Nase habe. Aber ich habe das nicht gemacht. Politik interessiert mich nicht. Gibt es denn irgendwo auf der Welt eine Regierung, von der man sagen könnte, ah, die ist gut, warum haben wir die nicht in Frankreich oder in Deutschland? Ich kenne kein einziges Land, in dem eine gute Politik gemacht wird. Die Politiker kümmern sich nicht darum, was die Menschen wollen, die sie regieren. Sie wissen nicht, was Liebe ist, sondern sie machen Autos und Fabriken und schütteln sich die Hände und sagen, wir wollen Frieden, und dann bauen sie Panzer und Bomben.

Haben Sie die Hoffnung, daß es die nächste Generation besser macht?

TATI: Nein. Die Jungen protestieren zwar, aber die haben doch auch keine neuen Ideen. Man kann nicht einfach sagen: Jetzt rauche ich ein bißchen Hasch, dann wird schon alles besser werden.

Welchen Rat geben Sie?

TATI: Ich bin nicht Frau Sonne. Es ist nicht mein Job, die Welt zu verbessern. Niemand verlangt das von mir. Es gibt viel gescheitere Leute als mich, die dafür bezahlt werden und gewählt werden, die Welt zu organisieren. Die sollen sich anstrengen. Ich bin nur ein ganz gewöhnlicher Mensch. Ich bin kein Philosophieprofessor.

Sie haben resigniert.

TATI: Nein, überhaupt nicht. Ich kenne nur meine Grenzen. Mein Beruf ist es, die Leute zum Lachen zu bringen. Es gibt nicht viele, die das versuchen. Aber es ist sehr nötig. Der Mensch muß in der Früh pissen, zu Mittag essen, in der Nacht mit einer Frau schlafen, aber er muß auch lachen. Das ist ein körperliches Bedürfnis.

Macht Ihnen das Alter Probleme?

TATI: Nein, warum fragen Sie? Äußerlich habe ich mich natürlich verändert, aber innerlich bin ich immer noch so wie zu der Zeit, als ich ein Schuljunge war. Ich bin noch immer sehr unerfahren und neugierig auf die kleinen Dinge des Lebens. Wenn ich Kinder sehe, neun, zehn Jahre alt, und wenn ich sehe, was die noch alles vom Leben erwarten, weil sie noch schauen können und Phantasie und Ideen haben, dann denke ich immer, ich wäre gern so ein kleiner Junge, da hätte ich bestimmt eine ganze Menge guter Einfälle für meine Filme.

Wovon handelt Ihr nächster Film?

TATI: Das wird ein Film über das Fernsehen. Ich habe herausgefunden, daß das Fernsehen die Leute zu Gefangenen macht. Wenn man zum Beispiel zu jemandem auf Besuch kommt, der gerade vor dem Fernseher sitzt, muß man schon sehr lange klingeln, damit die Wohnungstür aufgeht. Man sagt ja immer, daß die einfachen Leute nichts anderes sehen wollen als diesen Blödsinn, den ihnen das Fernsehen ins Haus bringt. Ich glaube das nicht.

Sehen Sie fern?

TATI: Ja, natürlich, heute zum Beispiel. Wie spät ist es denn? Wir müssen das Interview sofort beenden.

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*) Das Spiel endete mit einer Niederlage für Frankreich.

**) Den Film über das Fernsehen hat Jacques Tati, da er keine Geldgeber fand, nicht realisieren können.

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Eine Kurzfassung des Interviews erschien am 15. Mai 1972 in der Münchner "Abendzeitung", der vollständige Text in: André Müller, "Entblößungen" (Goldmann)