Jacques Tati empfängt mich in seiner Pariser Wohnung, die auch sein Büro ist.
Die Zeit für das Interview ist begrenzt. Tati will unter keinen Umständen
die Fernsehübertragung des Rugby-Spiels Wales gegen Frankreich* versäumen.
Ich hole also gleich meinen Fragenzettel hervor. »Geben Sie her!« sagt Tati.
»Ich lese es. Dann sind wir schnell fertig.« Ich stelle die erste Frage:
Welche Art von Lachen wollen Sie mit Ihren Filmen erzeugen?
TATI: Ich will, daß die Leute über das Leben lachen. Sie sehen sich einen
Film von mir an, und drei, vier Tage später, wenn sie auf der Straße sind,
bemerken sie plötzlich lauter lustige Kleinigkeiten, die sie in meinem Film
schon gesehen haben, und dann müssen sie lachen. Ich bin ein Beobachter des
Lebens. Alles, was in meinen Filmen vorkommt, gibt es auch in der Realität.
Deshalb passiert es mir oft, daß mich Leute anrufen und sagen, dankeschön,
Monsieur Tati, daß Sie uns auf so viele Kleinigkeiten aufmerksam machen, die
wir sonst gar nicht gesehen hätten, weil wir keine Zeit dafür haben. Ich will
ja nicht prätentiös sein, aber es ist wirklich schon vorgekommen, daß Leute
gesagt haben, sie seien gerade zu Besuch bei ihrem Onkel gewesen oder in einem
Restaurant oder auf dem Flughafen oder sonstwo, und da sei es genauso wie
in meinen Filmen gewesen, und dann erzählen sie mir, was sie da erlebt haben,
und sagen, das wäre doch etwas, das ich in einem meiner nächsten Filme verwenden
könnte. Das macht mich sehr glücklich. Aber es gibt auch andere, die sagen,
meine Filme sind gar keine Filme, weil sie Dinge zeigen, die es ohnehin schon
in Wirklichkeit gibt.
Wie ist zum Beispiel »Playtime« entstanden?
TATI: Da bin auf der Straße gegangen und habe die Gebäude gesehen und die
Leute, die darin eingesperrt waren, gefangen in ihren Möbeln, und da habe
ich mir gesagt, du mußt etwas machen, du mußt versuchen, das aufzubrechen
und ein bißchen Musik hineinbringen, damit die Leute was zu pfeifen haben.
Und »Trafic«?
TATI: Da habe ich mich zwei Stunden lang an die Autobahn nach Deauville gestellt,
es war ein Sonntag, herrliches Wetter, die Bäume grün, und ich habe zwei Stunden
lang mit den Parisern gelitten, die da zum Baden fuhren. Nicht ein einziger
lächelte, die Kinder durften nichts reden. Das kam mir vor wie 24 Stunden
Le Mans. Da dachte ich mir, so, jetzt werde ich dafür sorgen, daß die Leute
das nächstemal was zu lächeln haben.
Und sich bewußt werden, wie unsinnig sie sich verhalten?
TATI: Nein, das war nicht meine Absicht. Ich will nicht sagen: Seht doch,
wie ihr da eingesperrt seid in euren Autos. Ich sage nur: Warum schaut ihr
denn alle so ernst? So ernst ist das doch gar nicht. Ich respektiere die Menschen.
Sie sind ja nicht gezwungen, sich in ein Auto zu setzen oder sich gerade dieses
Hemd oder diesen Pullover oder diese Stiefel zu kaufen. Sie tun es, um sich
selbst auszudrücken, so wie ein Künstler sich ausdrückt. Es ist ihre Art,
sich bemerkbar zu machen.
Aber sie kaufen sich das doch nur, weil sie es in der Werbung gesehen haben.
TATI: Natürlich ist die Werbung dazu da, den Leuten zu sagen, welche Seife
und welches Auto und welchen Kühlschrank sie kaufen sollen. Meine Aufgabe
ist es, zu zeigen, daß der Kühlschrank vielleicht gar nicht funktioniert,
und mich darüber lustig zu machen, so daß wir gemeinsam unseren Spaß daran
haben.
Dadurch ändert sich doch nichts.
TATI: Ich glaube nicht, daß es möglich ist, durch einen Film etwas zu ändern.
Auch Chaplin konnte mit "Modern Times" die Fließbänder von Volkswagen,
Ford oder Renault nicht zum Stehen bringen. Das einzige, wofür wir leben und
unser Leben hingeben können, ist, den Menschen manchmal ein kleines Lächeln
zu schenken. Was ist denn schon Freiheit? Hat denn irgend jemand bis jetzt
herausgefunden, was ein freier Mensch ist? Ich glaube an die befreiende Wirkung
des Lachens. Natürlich weiß ich, daß es wichtigere Dinge gibt, als lustige
Filme zu machen. Aber ich glaube nicht, daß die Leute froh wären, würden alle
Filme nur ernste Dinge behandeln. Die arbeiten von acht Uhr früh bis sechs
Uhr abends, und dann wollen sie sich erholen. Ich bin ein kleiner Teil dieser
Erholung. Das genügt mir.
Wie sind Sie auf Ihre Figur des Monsieur Hulot gekommen, der Sie Ihren Weltruhm
verdanken?
TATI: Ich habe als Komiker im Varieté angefangen, wo man sich ja hauptsächlich
mit den Beinen ausdrückt. Und da habe ich mir, um aufzufallen, diesen komischen
Gang zugelegt, dieses Immer-ein-bißchen-über-dem-Boden-Schweben. Natürlich
haben mich die Leute dann sofort abgestempelt: Das ist halt ein lustiger Kerl,
der ist immer so nett, den mögen alle. In "Playtime" habe ich zum
erstenmal versucht, den Hulot mit den anderen Figuren auf dieselbe Stufe zu
stellen, also eine Demokratie der Gags einzuführen. Ich habe die Gags jenen
Personen gegeben, zu denen sie in einer bestimmten Situation gerade am besten
paßten. Wieso soll Hulot einen Gag machen, wenn der Kellner, der ihn bedient,
in einer dafür viel besseren Lage ist? Ich wollte nicht, daß die Leute wieder
sagen: Okay, der Hulot, der ist andauernd komisch, der ist anders als wir,
ein lustiger Typ, über den alle lachen. Ich wollte, daß sich die Leute mit
den Situationen im Film identifizieren können, um sie dann, wenn sie aus dem
Kino hinausgehen, in der Realität wiederzufinden. Leider ist der Film kein
Erfolg geworden. Die Pariser mochten ihn nicht. Ich habe zwar ein paar nette
Briefe bekommen, von Truffaut und Melville zum Beispiel. Aber finanziell war
es ein Reinfall. Hätte ich alle Gags dem Hulot gegeben, hätte man gesagt:
Ah, was für ein komischer Film! Ich bin ein Gefangener dieser Figur geworden.
Hatten Sie nach diesem Mißerfolg Schwierigkeiten, Geld für einen neuen Film
aufzutreiben?
TATI: Ich lebe in einem kapitalistischen Land. Die Leute, die hier das Geld
geben, tun das nur, wenn sie wissen, daß sie es bestimmt wieder zurückbekommen.
Also geben sie es nicht Herrn Tati, sondern Monsieur Hulot, denn der hat in
einigen Ländern ganz schön Kasse gemacht. Das ist das einzige, was diese Leute
interessiert. Für mich bleibt "Playtime" der wichtigste Film, den
ich je gemacht habe. Aber ich werde so etwas kein zweitesmal machen können.
Ich werde nie wieder auch nur einen Penny für so einen Film bekommen. Doch
immerhin: Einmal durfte ich, und in fünf oder zehn Jahren wird man sehen,
daß das der Anfang einer neuen Art von Filmkomödie war, und dann werden auch
junge Regisseure das machen dürfen, und es wird endlich wieder neue lustige
Filme geben, Filme, in denen reale Situationen vorgeführt werden, die jedem
passieren können und die auf jedes moderne Leben, ob in Singapur, Berlin,
Paris oder Sidney, anwendbar sind.
Im Augenblick geschieht das Gegenteil: Überall werden die alten Chaplin-Filme
gezeigt.
TATI: Herr Chaplin ist ein sehr geschäftstüchtiger Mann. Aber das wird die
Entwicklung nicht aufhalten können. Die Zeit der Komiker, die ihre Wirkung
fast nur durch Slapstick erreichen, ist vorbei. Der Slapstick ist ja nichts
anderes als ein sehr starker visueller Effekt. In der Stummfilmzeit, als man
zwangsläufig alle Möglichkeiten visueller Komik probierte, war das auch durchaus
berechtigt. Doch als dann der Tonfilm kam und die Produzenten ihr Geld dafür
hergaben, daß die Autoren den Witz in die Worte legten, hat die Slapstick-Komödie
ihre Grundlage verloren. Irgendwie ist das schade. Denn ein komisches Gesicht
merkt man sich, einen lustigen Satz vergißt man sofort. Aber die Entwicklung
ist nicht rückgängig zu machen. Es ist einfach nicht komisch, wenn man heute
im Film jemandem weiße Farbe ins Gesicht schmiert, obwohl die Leute da immer
lachen und obwohl man da sehr viel Farbe verwendet. Nur ist das, selbst wenn
man frische Farbe benutzt, nicht der richtige Weg, die Atmosphäre des heutigen
Lebens wiederzugeben und das Publikum für die kleinen Scherze des Alltags
zu öffnen. Ich möchte erreichen, daß die Menschen auf unterhaltsame Weise
ein bißchen sensibler und gescheiter und intelligenter werden. Ich möchte
sie nicht für so dumm verkaufen.
Haben Sie je einen Film gemacht, zu dem nicht Sie selbst das Drehbuch geschrieben
haben?
TATI: Nein, nie. Ich habe immer alles selber gemacht: das Buch, die Musik,
die Regie, das Schneiden. Ich kann mir nicht untreu werden. Das ist mein Problem.
Angebote habe ich schon bekommen. Man hat gesagt: Machen Sie doch etwas mit
hübschen Mädchen, oder etwas Dramatisches mit ein paar Leichen. Warum lassen
Sie niemanden sterben in Ihren Filmen? Aber ich fand, daß schon genug Leute
in anderen Filmen umgebracht wurden. Warum soll ich töten?
Was haben Sie während des Krieges gemacht?
TATI: Ich wurde von den Deutschen für das, was man "Kraft durch Freude"
nannte, verwendet. Da fuhr ich auf Lastwagen mit einer Music-Hall-Nummer durch
Deutschland und mußte in Fabriken und Spitälern auftreten, jeden Abend woanders.
Das war nicht lustig. Ich erinnere mich, daß ich einmal in einer Kirche auftrat,
in der ungefähr zweitausend Betten waren voll deutscher Soldaten. Ich
begann meine Nummer. Aber die Soldaten waren in Verbände gewickelt, so daß
sie nicht lachen konnten. Das ist ein Eindruck, den ich niemals vergessen
werde: eine komische Nummer machen zu müssen vor Menschen, die nicht einmal
genug Bewegungsfreiheit hatten, um lachen zu können.
Wenn man das mit schwarzem Humor betrachtet, könnte man es auch komisch finden.
TATI: Diesen Humor habe ich nicht. In Berlin, während der Zeit meines Arbeitsdienstes,
habe ich ein Drehbuch geschrieben über die Invasion der Franzosen als Arbeiter
in Deutschland und der Deutschen als Soldaten in Frankreich. Das war ein sehr
lustiges Drehbuch. Aber als die Lage dann ernst wurde, habe ich den Plan fallengelassen.
Ich kann über so etwas überhaupt nicht lachen.
Chaplin machte sogar über Hitler eine Komödie.
TATI: Ich hätte in den sechziger Jahren sehr viel Geld bekommen für einen
lustigen Film über de Gaulle, weil ich ja auch ziemlich groß bin und eine
ganz nette Nase habe. Aber ich habe das nicht gemacht. Politik interessiert
mich nicht. Gibt es denn irgendwo auf der Welt eine Regierung, von der man
sagen könnte, ah, die ist gut, warum haben wir die nicht in Frankreich oder
in Deutschland? Ich kenne kein einziges Land, in dem eine gute Politik gemacht
wird. Die Politiker kümmern sich nicht darum, was die Menschen wollen, die
sie regieren. Sie wissen nicht, was Liebe ist, sondern sie machen Autos und
Fabriken und schütteln sich die Hände und sagen, wir wollen Frieden, und dann
bauen sie Panzer und Bomben.
Haben Sie die Hoffnung, daß es die nächste Generation besser macht?
TATI: Nein. Die Jungen protestieren zwar, aber die haben doch auch keine neuen
Ideen. Man kann nicht einfach sagen: Jetzt rauche ich ein bißchen Hasch, dann
wird schon alles besser werden.
Welchen Rat geben Sie?
TATI: Ich bin nicht Frau Sonne. Es ist nicht mein Job, die Welt zu verbessern.
Niemand verlangt das von mir. Es gibt viel gescheitere Leute als mich, die
dafür bezahlt werden und gewählt werden, die Welt zu organisieren. Die sollen
sich anstrengen. Ich bin nur ein ganz gewöhnlicher Mensch. Ich bin kein Philosophieprofessor.
Sie haben resigniert.
TATI: Nein, überhaupt nicht. Ich kenne nur meine Grenzen. Mein Beruf ist es,
die Leute zum Lachen zu bringen. Es gibt nicht viele, die das versuchen. Aber
es ist sehr nötig. Der Mensch muß in der Früh pissen, zu Mittag essen, in
der Nacht mit einer Frau schlafen, aber er muß auch lachen. Das ist ein körperliches
Bedürfnis.
Macht Ihnen das Alter Probleme?
TATI: Nein, warum fragen Sie? Äußerlich habe ich mich natürlich verändert,
aber innerlich bin ich immer noch so wie zu der Zeit, als ich ein Schuljunge
war. Ich bin noch immer sehr unerfahren und neugierig auf die kleinen Dinge
des Lebens. Wenn ich Kinder sehe, neun, zehn Jahre alt, und wenn ich sehe,
was die noch alles vom Leben erwarten, weil sie noch schauen können und Phantasie
und Ideen haben, dann denke ich immer, ich wäre gern so ein kleiner Junge,
da hätte ich bestimmt eine ganze Menge guter Einfälle für meine Filme.
Wovon handelt Ihr nächster Film?
TATI: Das wird ein Film über das Fernsehen. Ich habe herausgefunden, daß das
Fernsehen die Leute zu Gefangenen macht. Wenn man zum Beispiel zu jemandem
auf Besuch kommt, der gerade vor dem Fernseher sitzt, muß man schon sehr lange
klingeln, damit die Wohnungstür aufgeht. Man sagt ja immer, daß die einfachen
Leute nichts anderes sehen wollen als diesen Blödsinn, den ihnen das Fernsehen
ins Haus bringt. Ich glaube das nicht.
Sehen Sie fern?
TATI: Ja, natürlich, heute zum Beispiel. Wie spät ist es denn? Wir müssen
das Interview sofort beenden.
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*) Das Spiel endete mit einer Niederlage für Frankreich.
**) Den Film über das Fernsehen hat Jacques Tati, da er keine Geldgeber fand,
nicht realisieren können.
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Eine Kurzfassung
des Interviews erschien am 15. Mai 1972 in der Münchner "Abendzeitung",
der vollständige Text in: André Müller, "Entblößungen" (Goldmann)