Ist es für Sie ein wichtiges Erlebnis, den Goldenen Bären bekommen zu haben?
WERNER SCHROETER: Ich hab' mich gefreut, aber ich finde, ich hätte das Tier
schon viel früher bekommen müssen. Wichtig nenne ich Erlebnisse, die mich in
irgendeiner Weise verwandelt haben. Der Bär hat mich nicht verwandelt, noch
nicht.
Was hat Sie verwandelt?
SCHROETER: Der Tod meiner Mutter zum Beispiel oder die Tatsache, daß ich als
Kind von meinen Mitschülern dauernd verprügelt wurde. Ich war immer schon jemand,
der irrsinnig viele Aggressionen auf sich zog. Wahrscheinlich hängt das damit
zusammen, daß ich ein entschlosseneres Wesen hatte als andere. So was erregt
ja nicht nur Bewunderung, sondern auch Haßgefühle.
Wie erklären Sie sich diese Entschlossenheit?
SCHROETER: Das hat mit meiner Erziehung zu tun. Ich bin ziemlich frei, um nicht
zu sagen verwildert erzogen worden. Mein Vater war Ingenieur und Erfinder. Meine
Eltern waren künstlerisch sehr interessierte Leute. Der entscheidende Einfluß
aber ist von meiner Großmutter ausgegangen. Die hatte als Mädchen den Drang
zur Bühne, aber mit siebzehn heiratete sie einen dicken, cholerischen Anwalt,
da hat sie ihren Lebenstraum aufgeben müssen. Nur die Sehnsucht blieb, die mußte
ich dann erfüllen. Die Großmutter hat mit meinem Bruder und mir immerzu Märchen
gespielt. Ich erinnere mich an eine wahnwitzige Aufführung, da saß ich als Prinzessin
auf einem Glasberg, und mein Bruder als Prinz mußte mich da herunterholen. Der
Berg bestand aus ein paar übereinandergestellten Stühlen, und ein Bügelbrett
diente als Anlauf. Oder wir sind mit der Großmutter spazierengegangen, während
sie mit ihrer wahnsinnigen Phantasie andauernd Geschichten erzählte, bis wir
dann auf dem Friedhof ankamen, wo wir Picknick machten auf dem Grab meiner Urgroßeltern.
Das waren ziemlich verrückte Sachen, und mit dieser Verrücktheit bin ich dann
in die Schule gegangen, was natürlich die anderen Schüler, die viel verklemmter
waren, provoziert hat. Die haben mich dann mit Steinen beschmissen oder mir
zerdrückte Bananen in die Tasche gesteckt. Einmal haben sie mir einen Eimer
voll Pisse über den Kopf geschüttet.
Wie sind Sie denn mit solchen Erfahrungen umgegangen?
SCHROETER: Ich hab' mich zurückgezogen. Ich glaub', das war die Zeit, wo ich
angefangen hab', ein sehr intensives Eigenleben außerhalb der Schule und des
Tages zu führen, also anfing zu lesen, nachts wach zu bleiben, mich abzusetzen
von dieser Tagwelt. Aber das Problem blieb natürlich, und mir war klar, daß
ich das lösen mußte, und da hab' ich eben beschlossen, daß ich ins Ausland gehe,
das hat mir sehr wohlgetan, und dann bin ich zurückgekommen, da war ich sechzehn
oder siebzehn, und da war es dann auf einmal so, daß mir diese Verfolgungen
nicht mehr passierten, sondern daß ich aufgrund gewisser intellektueller Fähigkeiten,
die ich entwickelt hatte, so eine Art Vorbild war für die andern. In einer Situation,
die eigentlich unerträglich ist, gibt es ja nur die zwei Möglichkeiten: Entweder
man sagt, uuhuuu, jetzt muß ich sterben, weil alles so bös' ist, oder es produziert
sich im Körper ein Bewußtsein des Widerstands, das dann oft auch eine gewisse
Arroganz mit sich bringt. Da ich eine Tendenz zum Selbstmord nie hatte, ist
für mich nur das zweite in Frage gekommen.
Haben Sie schon Kunst gemacht damals?
SCHROETER: Ich hab' Edgar Allan Poe übersetzt und Musik gehört, ununterbrochen.
Welche Musik?
SCHROETER: Von 1956 bis 1960 Caterina Valente, ab 1960 die Callas. Ich hatte
ein Tonbandgerät und hab' alles mit der Callas aus dem Radio aufgenommen. Damals
begann auch meine Liebe zur Oper. Vorher hatte ich mich für Oper überhaupt nicht
interessiert. Die Callas verkörperte für mich so ein äußerstes Gefühl von Sehnsucht,
gleichzeitig aber auch die Erfüllung der Sehnsucht.
Sehnsucht nach Leben?
SCHROETER: Sehnsucht, mich zu erweitern, rauszukommen aus meiner Schildkrötenschale,
Sehnsucht auch, daß das Leben über seine Endlichkeit hinausgehen, also nicht
in so einem zeitlich umgrenzten Karton stattfinden möge, Sehnsucht nach Unsterblichkeit
meinetwegen. Ich hab' das in einem Nachruf auf die Callas später beschrieben:
daß die Zeit stehenblieb, wenn sie sang, und das Hintreiben auf den Tod unterbrochen
wurde für die Dauer einer glückhaften Sekunde... Aber da müßte ich ja den ganzen
Ernst Bloch jetzt noch lesen, um das zu erklären, sein »Prinzip Hoffnung«.
Hoffnung ist ja nicht dasselbe wie Sehnsucht.
SCHROETER: Stimmt. Hoffnung ist was Konkretes, das hatte ich auch. In der Zeit,
als meine Filme noch kein Publikum hatten und immer so kurz vor Mitternacht
als elitäres Einschlafbonbon ausgestrahlt wurden, da lebte ich dauernd in der
Hoffnung, weiterarbeiten zu können, ohne mein Konzept verraten zu müssen. Das
war also eine ganz praktische Hoffnung, die brauch' ich jetzt nicht mehr, weil
ich inzwischen die Möglichkeiten gefunden habe, das Publikum so weit für meine
Sachen zu interessieren, daß ich Arbeit bekomme.
Hatten Sie Geldschwierigkeiten ?
SCHROETER: Ja, ununterbrochen. Als wir den »Tod der Maria Malibran« drehten,
lebten wir monatelang von den 75 000 Mark, die uns das ZDF für den Film vorgestreckt
hatte. Also eigentlich war das Geld für den Film, aber wir mußten davon auch
noch unseren Unterhalt zahlen. Ich lebte ja damals immer mit den Leuten zusammen,
mit denen ich filmte. Das war eine große Familie. Ohne Absicherung durch die
Gruppe wäre so eine finanzielle Notlage gar nicht erträglich gewesen.
Brauchen Sie die Gruppe jetzt nicht mehr?
SCHROETER: Nicht so wie damals. Die Phase, wo man in Gruppen lebt, ist ein vorübergehendes
Moment, das mit Jungsein zu tun hat. Da ich nicht die Illusion habe, altersmäßig
stehenzubleiben wie so 'ne alternde Künstlerin, die sich auf jung schminkt,
habe ich einen Weg finden müssen, auch allein durchzukommen. Das Altwerden ist
ja sowieso ein Prozeß immer größerer Isolierung, als Vorbereitung auf den Tod
sozusagen, der dann die endgültige, absolute Isolation ist.
Nicht für einen gläubigen Menschen, für den es ja dann erst so richtig losgeht
mit jüngstem Gericht, Himmel und Hölle, Wiedergeburt oder Auferstehung.
SCHROETER: Diese Gläubigkeit fehlt mir. Als Kind, also mit dreizehn, vierzehn,
als ich ziemlich schwere Krankheiten hatte, Lungenvereiterung, offene Tuberkulose
und solche Sachen, da hab' ich mir immer vorgestellt, daß, wenn ich sterbe,
alle meine Freunde an meinem Bett sitzen würden. Das war ein Trost. Da hätte
ich jederzeit sterben können. Heute weiß ich, daß das Sterben ein vollkommen
isolierter Prozeß ist. Das ist mir vor vier Jahren beim Tod meiner Mutter deutlich
geworden, wo ich erlebt hab', wie jemand ins Koma eintritt, und gesehen hab',
daß das 'ne totale Ablösung ist und man nicht mehr erkennt, was um einen herum
vorgeht, sondern nur noch aus konvulsivischen Reaktionen besteht, die allein
im Körper stattfinden, wenn der Tod antritt, um die Vitalität wegzunehmen.
Woran ist Ihre Mutter gestorben?
SCHROETER: An Leberkrebs, sehr schnell, innerhalb von vier Wochen. Die Ärzte
dachten zuerst, es sei Kreislaufschwäche oder Grippe oder dergleichen, bis endlich
einer auf die Idee kam, sie zum Krebsspezialisten zu schicken, der dann festgestellt
hat, daß die Krankheit schon im Endstadium war. Da haben wir sie dann nach Hause
geholt, ich und mein Bruder, weil meine Mutter Krankenhäuser immer gehaßt hat,
und haben sie gepflegt, bis sie tot war.
Warum lächeln Sie, während Sie das erzählen?
SCHROETER: Weil das 'ne Möglichkeit ist, mich von der Sache zu distanzieren.
Ironie ist doch immer ein Mittel, um etwas Unerträgliches auszusprechen, auch
in den Filmen. Das meiste ist doch viel zu schrecklich, um es naturalistisch
zu zeigen. Wenn Sie mich vor drei Jahren über den Tod meiner Mutter ausgefragt
hätten, hätte ich Ihnen eine geknallt, nicht gelächelt. Da hätte ich diese Distanz
noch nicht herstellen können... Aber worauf wollen Sie denn hinaus? Interessiert
Sie das wirklich?
Mich interessiert der Zusammenhang zwischen dem Tod Ihrer Mutter und dem Wandel
der Stilmittel, den man nach diesem Tod in Ihrer Arbeit erkennen kann. Über
den ersten Film, den Sie dann machten, »Il Regno di Napoli«, haben doch alle
gejubelt: Endlich nicht mehr diese hochgezüchteten Manierismen, endlich eine
verständliche Handlung...
SCHROETER: Ja, endlich ist das Puppi lieb und verkäuflich geworden. Eine Unverschämtheit!
Als hätte ich jetzt erst die Möglichkeit entdeckt, etwas linear zu erzählen,
und als seien meine frühen Filme nur deshalb so chaotisch, weil ich das nicht
konnte. Das ist doch Unsinn. Meine letzten Filme sind ja viel chaotischer als
die früheren, weil sie viel weniger präzise sind, viel mehr so ein al fresco
pasticcio. Nein, die Stilmittel haben sich überhaupt nicht verändert, das habe
ich ja mit »Palermo oder Wolfsburg« bewiesen. Den Film hab' ich gleich hinten
nachgefeuert, damit diese blöde Versöhnlichkeit gar nicht erst aufkommt. Was
sich verändert hat, ist meine Einstellung zum Sterben. In den Sachen, die ich
vor 1976 gemacht hab', im Film, auf der Bühne und auch im Leben, ist der Tod
immer so als Farbfleck an der Wand dargestellt, nicht als Realität, sondern
als etwas, über das ich mich lustig mache. Da stehen die Leute immer wieder
auf, sterben, stehen auf...
Wie in der Oper, wenn die toten Helden vor den Vorhang treten...
SCHROETER: Ja, das ist natürlich auch ein Hohn irgendwo, also man verhöhnt eine
Sache, die einen belastet, um sich leichter davon befreien zu können. Je ernster
die Leute um mich herum das Sterben genommen haben, desto mehr hab' ich mich
dagegen gewehrt in meiner Arbeit, am meisten in dem Film, den ich unmittelbar
vor dem Tod meiner Mutter machte, "Flocon d'Or", mit dem ich eine
bestimmte Entwicklung zu Ende führte, so als hätte ich geahnt, was passieren
würde.
In den späteren Filmen kommt der Tod auch vor, aber auf andere Weise. In »Regno
di Napoli« wird die südländische Vitalität immer wieder durchbrochen durch eine
Leichenkutsche, die wie ein Leitmotiv auftaucht. Der Tod ist jetzt nicht mehr
eine theatralische Pose, sondern ein Bestandteil des Lebens. Morior, ergo sum.
Ich bin, weil ich sterbe.
SCHROETER: Eine treffende Formulierung. Der Tod ist im Leben.
Haben Sie Angst vor dem Sterben?
SCHROETER: Immer weniger, weil ich gar keine Zeit dazu habe. Ich muß sagen,
ich bin wahnsinnig glücklich, daß ich jetzt die Möglichkeit habe, mich in permanenter
Kreativität darzustellen, weil in solchen Situationen, bei Filmarbeiten oder
Theaterproben, eine Todesangst gar nicht aufkommt. Da ist es einem dann vollkommen
wurst, was passiert. Ich hab' das früher einmal als self abandoned bezeichnet,
sich selbst verlassen, aus sich herausgehen. Das ist natürlich das Tollste.
Trotzdem sagen Sie: Ich will Ruhe haben.
SCHROETER: Das ist doch klar, daß, wenn man die ganze Zeit rumzappelt, der Gedanke
kommt: Mmhhh, wie schön es jetzt wäre, im Bett zu liegen, dauernd zu schlafen,
auszuruhn ohne Ende.
Ohne Ende ausruhen heißt tot sein.
SCHROETER: Nee, ich möcht' hundert Jahre alt werden oder besser noch hundertfünfzig.
Müde bin ich ständig, lebensmüde war ich noch nie.
Trinken Sie?
SCHROETER: Was?
Schnaps zum Beispiel.
SCHROETER: Bei der Arbeit trinke ich Sekt, abends Weißwein aus Deutschland.
Haben Sie Heimweh?
SCHROETER: Oh, là là.
Soll das eine Antwort sein?
SCHROETER: Also ich möchte nicht drauf verzichten, pro Jahr zwei, drei Theaterstücke
zu inszenieren in Deutschland, erstens, um Geld zu verdienen, zweitens bin ich
ja Lessing-Fan. Das wird immer schlimmer. Es hat sich bei mir ein richtiger
Lessing-Fanatismus herausgebildet.
Da muß sich an Ihrer Einstellung etwas geändert haben. In einem früheren Interview
nannten Sie die »Emilia Galotti« eine »auslaufende, abgenudelte, kaputte, verhunzte
Geschichte«.
SCHROETER: Damit meinte ich, daß die Leute, die das inszenieren, immer denselben
Mist daraus machen. Ich finde das deutsche Theater bis auf ganz wenige Ausnahmen
so was von lahmarschig, mit einer so verlogenen, selbstmitleidigen Seriosität,
grauenhaft! In Deutschland glaubt man mir nicht, daß ich den Lessing liebe,
weil ich ihn komisch finde und weil man dort keinen Humor hat. Ich finde das
unheimlich toll, wie der die Sprache verwendet, ich mag das, und deshalb behandle
ich das nicht als Museumsgesäusel. Der Lessing war ja intelligent, das heißt,
man macht ihn nicht kaputt, wenn man spielerisch mit ihm umgeht.
Also gut, Heimweh nach Lessing, aber auch Heimweh nach der Agonie dieses Landes,
der nackten Entmenschtheit, wie Handke es nannte, die einen ungeheuren Aufwand
an Phantasie erfordert, um nicht zu verzweifeln?
SCHROETER: Ob das Heimweh ist, weiß ich nicht. Eher ein Fluch...
Nicht auch eine Chance?
SCHROETER: Doch, zweifellos. Schließlich komme ich ja aus Deutschland. Wenn
das keine Chance ist! Was da immer behauptet wird, in Deutschland könne man
nicht kreativ sein, also nicht künstlerisch tätig werden, das ist natürlich
Quark und Kitsch und Scheiße. Ich bin boshaft genug, immer wieder zurückzukommen.
Die Verzweiflung ist ja der ideale Boden, um eine Kreativität aufblühen zu lassen.
Ewiges Gemütlichsein ist bestimmt keine Basis, sich künstlerisch auszudrücken.
Der Rosa von Praunheim, mit dem ich eine Zeitlang liiert war, hat immer gesagt:
Warum bist du denn dauernd so lätschert? Darauf hab' ich geantwortet: Das ist
halt mein tragisches Weltempfinden. Wenn ich es nicht geschafft hätte, aus meiner
Verzweiflung eine Kreativität zu entwickeln, hätte ich mich vielleicht doch
aufgehängt oder mir auf andere Weise das Leben genommen. Ich würde mich wahrscheinlich
mit Freunden zu Tode saufen, das ist ja auch ein Vergnügen.
In dem Film »Palermo oder Wolfsburg« ist Franz Josef Strauß bereits Bundeskanzler.
Ist Ihre letzte Hoffnung für Deutschland, daß er es nicht wird?
SCHROETER: Meine vorletzte.
Und die letzte?
SCHROETER: Daß er zerplatzt, weil er so dick ist. Man müßte ihm ja nur ein kleines
Bömbchen in Form einer Weißwurst zu essen geben.* Aber eigentlich will
ich darüber gar nicht gern reden. Mit einer solchen Mittelmäßigkeit mich auseinanderzusetzen,
fehlt mir die Lust. Deshalb hoffe ich, daß er es nicht wird. Ich versteh' sowieso
nicht, wie einer den Ehrgeiz haben kann, Staatsmann zu werden, also so eine
Machtposition innezuhaben. Das ist mir vollkommen unbegreiflich. Intellektuell
ist es mir schon begreiflich, daß eine bestimmte Gesellschaftsstruktur solche
Instanzen hervorbringt, aber gefühlsmäßig begreife ich es überhaupt nicht. Denn
es ist ja nicht so, daß diese Leute Politiker werden aus so einem hehren Konzept
zur Errettung der Menschheit. Die sind ganz einfach nur machtgeil.
Sie nicht?
SCHROETER: Ich auch, natürlich, aber ich würde die Macht, die ich habe, niemals
mißbrauchen, also Leute niemals in eine Abhängigkeit bringen, ohne Ihnen dafür
was zu geben. Kultusministerin von Nicaragua: Das wäre die Position, in der
ich mich sehen könnte. So eine Machtgeilheit um ihrer selbst willen entsteht
doch meist aus einer sexuellen Impotenz. Ich hab' schon immer behauptet, daß
Leute, die ihre Potenz nach außen tragen, indem sie andere unterdrücken, nicht
ordentlich ficken können. So war es ja auch beim Hitler. Wenn ich keinen hoch
kriege, dann sind die anderen schuld: Das ist das ganze Konzept des Nationalsozialismus.
Waren Sie nie impotent?
SCHROETER: Nee, ehrlich, impotent war ich nie, im engeren Sinne. Das Problem
ist nur, daß ich immer wieder Frauen begegne, die mich verführen wollen, obwohl
ich doch schwul bin. Das ist wirklich verrückt, daß es so viele Frauen gibt,
die ausgerechnet mit Schwulen ins Bett wollen. Das ärgert und belastet mich
ungeheuer, weil es mir so schwerfällt, dann nein zu sagen. Ich wehr' mich mit
Händen und Füßen, aber es nützt nichts.
Haben Sie Schuldgefühle?
SCHROETER: Heute nicht mehr. Als Jugendlicher war ich sehr moralisch veranlagt.
Da hab' ich Schallplatten, die ich geklaut hatte, wieder zurückgegeben, weil
sie mir in den Händen brannten wie Feuer. Nur die Platten der Callas hab' ich
behalten. Diese Frau war stärker als jedes Moralempfinden. Wahrscheinlich war
das der Beginn meiner Selbstbefreiung. Heute könnte ich jemanden umbringen,
ohne mir das geringste dabei zu denken, weil ich ein sinnliches Gefühl hab'
für so eine anarchische Haltung. Das erregt mich unheimlich, oben, unten und
in der Mitte.
Ist Mord was Schönes?
SCHROETER: Schöner jedenfalls als mit Lug und Trug irgendwelche Strickwaren
verkaufen. Ich hab' für meine Mordszenen immer echtes Schweinsblut verwendet.
Ein Psychiater würde das als Perversion einstufen.
SCHROETER: Atavistischer Scheißdreck!
Ist das Ihr letztes Wort, oder wollen wir weiterspielen?
SCHROETER: Alles oder nichts. Dreißig Sekunden Bedenkzeit. Adolf Hitler, die
süße Tanzmaus, hat sich in eine Ballerina verwandelt.
---------------------------
*)
Den Satz über das »kleine Bömbchen
in Form einer Weißwurst« empfand Franz Josef Strauß, damals Kanzlerkandidat,
als öffentlichen Aufruf, ihn zu ermorden. Gelegenheit, sich zu wehren, bot sich
in Augsburg. Dort sollte Schroeter die Oper »Salome« von Richard Strauss inszenieren.
Die bayerischen Minister Tandler und Jaumann bedrängten das Augsburger Stadtparlament,
die Auflösung des Regievertrags durchzusetzen. Die Lokalzeitungen veröffentlichten
Teile des Interviews und die daraufhin prompt einströmenden Leserbriefe, in
denen allerdings nicht so sehr Schroeters Attacke auf Strauß, sondern seine
Homosexualität als Waffe herhielt. Der Augsburger Heinz Otto Lembach bat die
städtische Polizei, ihm eine Leibwache zu stellen, denn, so Lembach im "Stern":
"Besteht nicht die Möglichkeit, daß der schwule Schroeter mich tötet, um
sich sexuell zu befriedigen?" Gleich zweimal berichtete der "Spiegel"
über die zum politischen Skandal aufgebauschte Affäre. Nun konnte auch die "Zeit",
die das Interview völlig arglos abgedruckt hatte, nicht länger schweigen. Sicher,
so Benjamin Henrichs, seien Schroeters Äußerungen geschmacklos, aber man müsse
doch sehen, daß sich dahinter nicht Mordgelüste, sondern eine literarische Absicht
verberge: »Was als ernste Selbstdarstellung beginnt, verwandelt sich im letzten
Teil des Interviews unaufhaltsam ins Surreale, aus dem autobiographischen Text
wird ein phantastisch-literarischer.« Schroeter durfte dennoch in Augsburg nicht
inszenieren.
--------------------------