Interview mit Werner Schroeter

(anläßlich der Verleihung des "Goldenen Bären" der Berliner Filmfestspiele 1980 für seinen Film "Palermo oder Wolfsburg")



Ist es für Sie ein wichtiges Erlebnis, den Goldenen Bären bekommen zu haben?

WERNER SCHROETER: Ich hab' mich gefreut, aber ich finde, ich hätte das Tier schon viel früher bekommen müssen. Wichtig nenne ich Erlebnisse, die mich in irgendeiner Weise verwandelt haben. Der Bär hat mich nicht verwandelt, noch nicht.

Was hat Sie verwandelt?

SCHROETER: Der Tod meiner Mutter zum Beispiel oder die Tatsache, daß ich als Kind von meinen Mitschülern dauernd verprügelt wurde. Ich war immer schon jemand, der irrsinnig viele Aggressionen auf sich zog. Wahrscheinlich hängt das damit zusammen, daß ich ein entschlosseneres Wesen hatte als andere. So was erregt ja nicht nur Bewunderung, sondern auch Haßgefühle.

Wie erklären Sie sich diese Entschlossenheit?

SCHROETER: Das hat mit meiner Erziehung zu tun. Ich bin ziemlich frei, um nicht zu sagen verwildert erzogen worden. Mein Vater war Ingenieur und Erfinder. Meine Eltern waren künstlerisch sehr interessierte Leute. Der entscheidende Einfluß aber ist von meiner Großmutter ausgegangen. Die hatte als Mädchen den Drang zur Bühne, aber mit siebzehn heiratete sie einen dicken, cholerischen Anwalt, da hat sie ihren Lebenstraum aufgeben müssen. Nur die Sehnsucht blieb, die mußte ich dann erfüllen. Die Großmutter hat mit meinem Bruder und mir immerzu Märchen gespielt. Ich erinnere mich an eine wahnwitzige Aufführung, da saß ich als Prinzessin auf einem Glasberg, und mein Bruder als Prinz mußte mich da herunterholen. Der Berg bestand aus ein paar übereinandergestellten Stühlen, und ein Bügelbrett diente als Anlauf. Oder wir sind mit der Großmutter spazierengegangen, während sie mit ihrer wahnsinnigen Phantasie andauernd Geschichten erzählte, bis wir dann auf dem Friedhof ankamen, wo wir Picknick machten auf dem Grab meiner Urgroßeltern. Das waren ziemlich verrückte Sachen, und mit dieser Verrücktheit bin ich dann in die Schule gegangen, was natürlich die anderen Schüler, die viel verklemmter waren, provoziert hat. Die haben mich dann mit Steinen beschmissen oder mir zerdrückte Bananen in die Tasche gesteckt. Einmal haben sie mir einen Eimer voll Pisse über den Kopf geschüttet.

Wie sind Sie denn mit solchen Erfahrungen umgegangen?

SCHROETER: Ich hab' mich zurückgezogen. Ich glaub', das war die Zeit, wo ich angefangen hab', ein sehr intensives Eigenleben außerhalb der Schule und des Tages zu führen, also anfing zu lesen, nachts wach zu bleiben, mich abzusetzen von dieser Tagwelt. Aber das Problem blieb natürlich, und mir war klar, daß ich das lösen mußte, und da hab' ich eben beschlossen, daß ich ins Ausland gehe, das hat mir sehr wohlgetan, und dann bin ich zurückgekommen, da war ich sechzehn oder siebzehn, und da war es dann auf einmal so, daß mir diese Verfolgungen nicht mehr passierten, sondern daß ich aufgrund gewisser intellektueller Fähigkeiten, die ich entwickelt hatte, so eine Art Vorbild war für die andern. In einer Situation, die eigentlich unerträglich ist, gibt es ja nur die zwei Möglichkeiten: Entweder man sagt, uuhuuu, jetzt muß ich sterben, weil alles so bös' ist, oder es produziert sich im Körper ein Bewußtsein des Widerstands, das dann oft auch eine gewisse Arroganz mit sich bringt. Da ich eine Tendenz zum Selbstmord nie hatte, ist für mich nur das zweite in Frage gekommen.

Haben Sie schon Kunst gemacht damals?

SCHROETER: Ich hab' Edgar Allan Poe übersetzt und Musik gehört, ununterbrochen.

Welche Musik?

SCHROETER: Von 1956 bis 1960 Caterina Valente, ab 1960 die Callas. Ich hatte ein Tonbandgerät und hab' alles mit der Callas aus dem Radio aufgenommen. Damals begann auch meine Liebe zur Oper. Vorher hatte ich mich für Oper überhaupt nicht interessiert. Die Callas verkörperte für mich so ein äußerstes Gefühl von Sehnsucht, gleichzeitig aber auch die Erfüllung der Sehnsucht.

Sehnsucht nach Leben?

SCHROETER: Sehnsucht, mich zu erweitern, rauszukommen aus meiner Schildkrötenschale, Sehnsucht auch, daß das Leben über seine Endlichkeit hinausgehen, also nicht in so einem zeitlich umgrenzten Karton stattfinden möge, Sehnsucht nach Unsterblichkeit meinetwegen. Ich hab' das in einem Nachruf auf die Callas später beschrieben: daß die Zeit stehenblieb, wenn sie sang, und das Hintreiben auf den Tod unterbrochen wurde für die Dauer einer glückhaften Sekunde... Aber da müßte ich ja den ganzen Ernst Bloch jetzt noch lesen, um das zu erklären, sein »Prinzip Hoffnung«.

Hoffnung ist ja nicht dasselbe wie Sehnsucht.

SCHROETER: Stimmt. Hoffnung ist was Konkretes, das hatte ich auch. In der Zeit, als meine Filme noch kein Publikum hatten und immer so kurz vor Mitternacht als elitäres Einschlafbonbon ausgestrahlt wurden, da lebte ich dauernd in der Hoffnung, weiterarbeiten zu können, ohne mein Konzept verraten zu müssen. Das war also eine ganz praktische Hoffnung, die brauch' ich jetzt nicht mehr, weil ich inzwischen die Möglichkeiten gefunden habe, das Publikum so weit für meine Sachen zu interessieren, daß ich Arbeit bekomme.

Hatten Sie Geldschwierigkeiten ?

SCHROETER: Ja, ununterbrochen. Als wir den »Tod der Maria Malibran« drehten, lebten wir monatelang von den 75 000 Mark, die uns das ZDF für den Film vorgestreckt hatte. Also eigentlich war das Geld für den Film, aber wir mußten davon auch noch unseren Unterhalt zahlen. Ich lebte ja damals immer mit den Leuten zusammen, mit denen ich filmte. Das war eine große Familie. Ohne Absicherung durch die Gruppe wäre so eine finanzielle Notlage gar nicht erträglich gewesen.

Brauchen Sie die Gruppe jetzt nicht mehr?

SCHROETER: Nicht so wie damals. Die Phase, wo man in Gruppen lebt, ist ein vorübergehendes Moment, das mit Jungsein zu tun hat. Da ich nicht die Illusion habe, altersmäßig stehenzubleiben wie so 'ne alternde Künstlerin, die sich auf jung schminkt, habe ich einen Weg finden müssen, auch allein durchzukommen. Das Altwerden ist ja sowieso ein Prozeß immer größerer Isolierung, als Vorbereitung auf den Tod sozusagen, der dann die endgültige, absolute Isolation ist.

Nicht für einen gläubigen Menschen, für den es ja dann erst so richtig losgeht mit jüngstem Gericht, Himmel und Hölle, Wiedergeburt oder Auferstehung.

SCHROETER: Diese Gläubigkeit fehlt mir. Als Kind, also mit dreizehn, vierzehn, als ich ziemlich schwere Krankheiten hatte, Lungenvereiterung, offene Tuberkulose und solche Sachen, da hab' ich mir immer vorgestellt, daß, wenn ich sterbe, alle meine Freunde an meinem Bett sitzen würden. Das war ein Trost. Da hätte ich jederzeit sterben können. Heute weiß ich, daß das Sterben ein vollkommen isolierter Prozeß ist. Das ist mir vor vier Jahren beim Tod meiner Mutter deutlich geworden, wo ich erlebt hab', wie jemand ins Koma eintritt, und gesehen hab', daß das 'ne totale Ablösung ist und man nicht mehr erkennt, was um einen herum vorgeht, sondern nur noch aus konvulsivischen Reaktionen besteht, die allein im Körper stattfinden, wenn der Tod antritt, um die Vitalität wegzunehmen.

Woran ist Ihre Mutter gestorben?

SCHROETER: An Leberkrebs, sehr schnell, innerhalb von vier Wochen. Die Ärzte dachten zuerst, es sei Kreislaufschwäche oder Grippe oder dergleichen, bis endlich einer auf die Idee kam, sie zum Krebsspezialisten zu schicken, der dann festgestellt hat, daß die Krankheit schon im Endstadium war. Da haben wir sie dann nach Hause geholt, ich und mein Bruder, weil meine Mutter Krankenhäuser immer gehaßt hat, und haben sie gepflegt, bis sie tot war.

Warum lächeln Sie, während Sie das erzählen?

SCHROETER: Weil das 'ne Möglichkeit ist, mich von der Sache zu distanzieren. Ironie ist doch immer ein Mittel, um etwas Unerträgliches auszusprechen, auch in den Filmen. Das meiste ist doch viel zu schrecklich, um es naturalistisch zu zeigen. Wenn Sie mich vor drei Jahren über den Tod meiner Mutter ausgefragt hätten, hätte ich Ihnen eine geknallt, nicht gelächelt. Da hätte ich diese Distanz noch nicht herstellen können... Aber worauf wollen Sie denn hinaus? Interessiert Sie das wirklich?

Mich interessiert der Zusammenhang zwischen dem Tod Ihrer Mutter und dem Wandel der Stilmittel, den man nach diesem Tod in Ihrer Arbeit erkennen kann. Über den ersten Film, den Sie dann machten, »Il Regno di Napoli«, haben doch alle gejubelt: Endlich nicht mehr diese hochgezüchteten Manierismen, endlich eine verständliche Handlung...

SCHROETER: Ja, endlich ist das Puppi lieb und verkäuflich geworden. Eine Unverschämtheit! Als hätte ich jetzt erst die Möglichkeit entdeckt, etwas linear zu erzählen, und als seien meine frühen Filme nur deshalb so chaotisch, weil ich das nicht konnte. Das ist doch Unsinn. Meine letzten Filme sind ja viel chaotischer als die früheren, weil sie viel weniger präzise sind, viel mehr so ein al fresco pasticcio. Nein, die Stilmittel haben sich überhaupt nicht verändert, das habe ich ja mit »Palermo oder Wolfsburg« bewiesen. Den Film hab' ich gleich hinten nachgefeuert, damit diese blöde Versöhnlichkeit gar nicht erst aufkommt. Was sich verändert hat, ist meine Einstellung zum Sterben. In den Sachen, die ich vor 1976 gemacht hab', im Film, auf der Bühne und auch im Leben, ist der Tod immer so als Farbfleck an der Wand dargestellt, nicht als Realität, sondern als etwas, über das ich mich lustig mache. Da stehen die Leute immer wieder auf, sterben, stehen auf...

Wie in der Oper, wenn die toten Helden vor den Vorhang treten...

SCHROETER: Ja, das ist natürlich auch ein Hohn irgendwo, also man verhöhnt eine Sache, die einen belastet, um sich leichter davon befreien zu können. Je ernster die Leute um mich herum das Sterben genommen haben, desto mehr hab' ich mich dagegen gewehrt in meiner Arbeit, am meisten in dem Film, den ich unmittelbar vor dem Tod meiner Mutter machte, "Flocon d'Or", mit dem ich eine bestimmte Entwicklung zu Ende führte, so als hätte ich geahnt, was passieren würde.

In den späteren Filmen kommt der Tod auch vor, aber auf andere Weise. In »Regno di Napoli« wird die südländische Vitalität immer wieder durchbrochen durch eine Leichenkutsche, die wie ein Leitmotiv auftaucht. Der Tod ist jetzt nicht mehr eine theatralische Pose, sondern ein Bestandteil des Lebens. Morior, ergo sum. Ich bin, weil ich sterbe.

SCHROETER: Eine treffende Formulierung. Der Tod ist im Leben.

Haben Sie Angst vor dem Sterben?

SCHROETER: Immer weniger, weil ich gar keine Zeit dazu habe. Ich muß sagen, ich bin wahnsinnig glücklich, daß ich jetzt die Möglichkeit habe, mich in permanenter Kreativität darzustellen, weil in solchen Situationen, bei Filmarbeiten oder Theaterproben, eine Todesangst gar nicht aufkommt. Da ist es einem dann vollkommen wurst, was passiert. Ich hab' das früher einmal als self abandoned bezeichnet, sich selbst verlassen, aus sich herausgehen. Das ist natürlich das Tollste.

Trotzdem sagen Sie: Ich will Ruhe haben.

SCHROETER: Das ist doch klar, daß, wenn man die ganze Zeit rumzappelt, der Gedanke kommt: Mmhhh, wie schön es jetzt wäre, im Bett zu liegen, dauernd zu schlafen, auszuruhn ohne Ende.

Ohne Ende ausruhen heißt tot sein.

SCHROETER: Nee, ich möcht' hundert Jahre alt werden oder besser noch hundertfünfzig. Müde bin ich ständig, lebensmüde war ich noch nie.

Trinken Sie?

SCHROETER: Was?

Schnaps zum Beispiel.

SCHROETER: Bei der Arbeit trinke ich Sekt, abends Weißwein aus Deutschland.

Haben Sie Heimweh?

SCHROETER: Oh, là là.

Soll das eine Antwort sein?

SCHROETER: Also ich möchte nicht drauf verzichten, pro Jahr zwei, drei Theaterstücke zu inszenieren in Deutschland, erstens, um Geld zu verdienen, zweitens bin ich ja Lessing-Fan. Das wird immer schlimmer. Es hat sich bei mir ein richtiger Lessing-Fanatismus herausgebildet.

Da muß sich an Ihrer Einstellung etwas geändert haben. In einem früheren Interview nannten Sie die »Emilia Galotti« eine »auslaufende, abgenudelte, kaputte, verhunzte Geschichte«.

SCHROETER: Damit meinte ich, daß die Leute, die das inszenieren, immer denselben Mist daraus machen. Ich finde das deutsche Theater bis auf ganz wenige Ausnahmen so was von lahmarschig, mit einer so verlogenen, selbstmitleidigen Seriosität, grauenhaft! In Deutschland glaubt man mir nicht, daß ich den Lessing liebe, weil ich ihn komisch finde und weil man dort keinen Humor hat. Ich finde das unheimlich toll, wie der die Sprache verwendet, ich mag das, und deshalb behandle ich das nicht als Museumsgesäusel. Der Lessing war ja intelligent, das heißt, man macht ihn nicht kaputt, wenn man spielerisch mit ihm umgeht.

Also gut, Heimweh nach Lessing, aber auch Heimweh nach der Agonie dieses Landes, der nackten Entmenschtheit, wie Handke es nannte, die einen ungeheuren Aufwand an Phantasie erfordert, um nicht zu verzweifeln?

SCHROETER: Ob das Heimweh ist, weiß ich nicht. Eher ein Fluch...

Nicht auch eine Chance?

SCHROETER: Doch, zweifellos. Schließlich komme ich ja aus Deutschland. Wenn das keine Chance ist! Was da immer behauptet wird, in Deutschland könne man nicht kreativ sein, also nicht künstlerisch tätig werden, das ist natürlich Quark und Kitsch und Scheiße. Ich bin boshaft genug, immer wieder zurückzukommen. Die Verzweiflung ist ja der ideale Boden, um eine Kreativität aufblühen zu lassen. Ewiges Gemütlichsein ist bestimmt keine Basis, sich künstlerisch auszudrücken. Der Rosa von Praunheim, mit dem ich eine Zeitlang liiert war, hat immer gesagt: Warum bist du denn dauernd so lätschert? Darauf hab' ich geantwortet: Das ist halt mein tragisches Weltempfinden. Wenn ich es nicht geschafft hätte, aus meiner Verzweiflung eine Kreativität zu entwickeln, hätte ich mich vielleicht doch aufgehängt oder mir auf andere Weise das Leben genommen. Ich würde mich wahrscheinlich mit Freunden zu Tode saufen, das ist ja auch ein Vergnügen.

In dem Film »Palermo oder Wolfsburg« ist Franz Josef Strauß bereits Bundeskanzler. Ist Ihre letzte Hoffnung für Deutschland, daß er es nicht wird?

SCHROETER: Meine vorletzte.

Und die letzte?

SCHROETER: Daß er zerplatzt, weil er so dick ist. Man müßte ihm ja nur ein kleines Bömbchen in Form einer Weißwurst zu essen geben.* Aber eigentlich will ich darüber gar nicht gern reden. Mit einer solchen Mittelmäßigkeit mich auseinanderzusetzen, fehlt mir die Lust. Deshalb hoffe ich, daß er es nicht wird. Ich versteh' sowieso nicht, wie einer den Ehrgeiz haben kann, Staatsmann zu werden, also so eine Machtposition innezuhaben. Das ist mir vollkommen unbegreiflich. Intellektuell ist es mir schon begreiflich, daß eine bestimmte Gesellschaftsstruktur solche Instanzen hervorbringt, aber gefühlsmäßig begreife ich es überhaupt nicht. Denn es ist ja nicht so, daß diese Leute Politiker werden aus so einem hehren Konzept zur Errettung der Menschheit. Die sind ganz einfach nur machtgeil.

Sie nicht?

SCHROETER: Ich auch, natürlich, aber ich würde die Macht, die ich habe, niemals mißbrauchen, also Leute niemals in eine Abhängigkeit bringen, ohne Ihnen dafür was zu geben. Kultusministerin von Nicaragua: Das wäre die Position, in der ich mich sehen könnte. So eine Machtgeilheit um ihrer selbst willen entsteht doch meist aus einer sexuellen Impotenz. Ich hab' schon immer behauptet, daß Leute, die ihre Potenz nach außen tragen, indem sie andere unterdrücken, nicht ordentlich ficken können. So war es ja auch beim Hitler. Wenn ich keinen hoch kriege, dann sind die anderen schuld: Das ist das ganze Konzept des Nationalsozialismus.

Waren Sie nie impotent?

SCHROETER: Nee, ehrlich, impotent war ich nie, im engeren Sinne. Das Problem ist nur, daß ich immer wieder Frauen begegne, die mich verführen wollen, obwohl ich doch schwul bin. Das ist wirklich verrückt, daß es so viele Frauen gibt, die ausgerechnet mit Schwulen ins Bett wollen. Das ärgert und belastet mich ungeheuer, weil es mir so schwerfällt, dann nein zu sagen. Ich wehr' mich mit Händen und Füßen, aber es nützt nichts.

Haben Sie Schuldgefühle?

SCHROETER: Heute nicht mehr. Als Jugendlicher war ich sehr moralisch veranlagt. Da hab' ich Schallplatten, die ich geklaut hatte, wieder zurückgegeben, weil sie mir in den Händen brannten wie Feuer. Nur die Platten der Callas hab' ich behalten. Diese Frau war stärker als jedes Moralempfinden. Wahrscheinlich war das der Beginn meiner Selbstbefreiung. Heute könnte ich jemanden umbringen, ohne mir das geringste dabei zu denken, weil ich ein sinnliches Gefühl hab' für so eine anarchische Haltung. Das erregt mich unheimlich, oben, unten und in der Mitte.

Ist Mord was Schönes?

SCHROETER: Schöner jedenfalls als mit Lug und Trug irgendwelche Strickwaren verkaufen. Ich hab' für meine Mordszenen immer echtes Schweinsblut verwendet.

Ein Psychiater würde das als Perversion einstufen.

SCHROETER: Atavistischer Scheißdreck!

Ist das Ihr letztes Wort, oder wollen wir weiterspielen?

SCHROETER: Alles oder nichts. Dreißig Sekunden Bedenkzeit. Adolf Hitler, die süße Tanzmaus, hat sich in eine Ballerina verwandelt.

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*) Den Satz über das »kleine Bömbchen in Form einer Weißwurst« empfand  Franz Josef Strauß, damals Kanzlerkandidat, als öffentlichen Aufruf, ihn zu ermorden. Gelegenheit, sich zu wehren, bot sich in Augsburg. Dort sollte Schroeter die Oper »Salome« von Richard Strauss inszenieren. Die bayerischen Minister Tandler und Jaumann bedrängten das Augsburger Stadtparlament, die Auflösung des Regievertrags durchzusetzen. Die Lokalzeitungen veröffentlichten Teile des Interviews und die daraufhin prompt einströmenden Leserbriefe, in denen allerdings nicht so sehr Schroeters Attacke auf Strauß, sondern seine Homosexualität als Waffe herhielt. Der Augsburger Heinz Otto Lembach bat die städtische Polizei, ihm eine Leibwache zu stellen, denn, so Lembach im "Stern": "Besteht nicht die Möglichkeit, daß der schwule Schroeter mich tötet, um sich sexuell zu befriedigen?" Gleich zweimal berichtete der "Spiegel" über die zum politischen Skandal aufgebauschte Affäre. Nun konnte auch die "Zeit", die das Interview völlig arglos abgedruckt hatte, nicht länger schweigen. Sicher, so Benjamin Henrichs, seien Schroeters Äußerungen geschmacklos, aber man müsse doch sehen, daß sich dahinter nicht Mordgelüste, sondern eine literarische Absicht verberge: »Was als ernste Selbstdarstellung beginnt, verwandelt sich im letzten Teil des Interviews unaufhaltsam ins Surreale, aus dem autobiographischen Text wird ein phantastisch-literarischer.« Schroeter durfte dennoch in Augsburg nicht inszenieren.

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