Interview mit Sam T. Cohen,  dem Erfinder der Neutronenbombe, 1981



Stimmt es, daß Ihnen das Liebste auf der Welt Ihr Hund ist?

SAM T. COHEN: Ja, stimmt. Ich habe ihn sogar nach Paris mitgenommen, wo ich zwei Jahre lebte, um ein Buch zu schreiben über nukleare Probleme. Ich habe es in Englisch geschrieben. Es ist aber nur in französischer Übersetzung erschienen. Können Sie Französisch?

Nicht besonders.

COHEN: Ich auch nicht. Deshalb kann ich leider mein Buch nicht lesen.

Was steht denn drin?

COHEN: Ich habe es zusammen mit einem französischen Atomforscher geschrieben. Wir behandeln alle möglichen Aspekte atomarer Bewaffnung, unter anderem die Frage, wie man die Neutronenbombe in Europa am besten einsetzen könnte.

In einem Interview für das deutsche Fernsehen sagten Sie, Ihre Bombe sei gar nicht für Europa, sondern für Asien, und zwar als Angriffswaffe erfunden worden.

COHEN: Ist das Interview schon gesendet worden?

Ja, zumindest ein Ausschnitt. Sie saßen an demselben Tisch, an dem wir jetzt sitzen.*

COHEN: Sie erinnern sich an die Szenerie? Fabelhaft. Es war vor einigen Wochen, und es hatte eine Länge von vierzig Minuten.

Für uns Europäer war es ziemlich erschreckend, zu hören, daß die Bombe für den Angriff gedacht ist, nachdem man mit allen möglichen Argumenten versucht hat, uns klarzumachen , sie sei als Offensivwaffe ganz ungeeignet und einzig und allein zur Friedenssicherung brauchbar.

COHEN: Ich will es Ihnen erklären. Meine Bombe ist sowohl zur Verteidigung als auch für offensive Zwecke verwendbar. Als ich in den fünfziger Jahren den Auftrag bekam, eine Kernwaffe für den Einsatz bei begrenzten militärischen Auseinandersetzungen zu entwickeln, standen die Vereinigten Staaten in Südkorea. Das war damals der Bezugspunkt.

War geplant, Atomwaffen dort einzusetzen?

COHEN: Nicht wirklich. Es gab wohl die Überlegung, es zu tun, falls die amerikanischen Streitkräfte in große Schwierigkeiten geraten sollten. Eisenhower drohte damit der Volksrepublik China. Aber eine ernsthafte Absicht, Kernwaffen anzuwenden, war in den Vereinigten Staaten seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr vorhanden, außer für den Fall, daß wir mit der Sowjet-Union Krieg gehabt hätten, dann schon, aber nicht an anderen Plätzen.

Bekommen Sie nicht Schwierigkeiten mit Ihrem Verteidigungsministerium, wenn Sie solche Informationen öffentlich weitergeben?

COHEN: Nein, wieso? Ich lebe in einer Demokratie. Solange ich keine Geheimnisse weitergebe, habe ich das Recht, alles zu sagen.

Für die deutsche Öffentlichkeit war es bis jetzt ein Geheimnis, daß die Neutronenbombe auch als Angriffswaffe gedacht ist.

COHEN: Wie kann das ein Geheimnis sein? Das ist Geschichte seit vielen Jahren.

Ist es irgendwo veröffentlicht worden?

COHEN: Das nicht. Aber es ist die Wahrheit und es enthält keine militärischen Geheimnisse.

Hat die amerikanische Regierung seit dieser Äußerung in irgendeiner Form mit Ihnen Kontakt aufgenommen?

COHEN: Nein, warum sollte sie?

Weil sie bisher alles getan hat, die Europäer, unter denen eine große Gegenbewegung gegen die Neutronenbombe um sich greift, durch die Versicherung zu beruhigen, sie sei eine reine Verteidigungswaffe. Man hat bei uns große Angst vor einem Atomkrieg.

COHEN: Diese Angst sollen Sie auch ruhig haben. Die ist durchaus berechtigt.

Ist ein Krieg in Europa nicht zu verhindern?

COHEN: Nach meiner persönlichen Auffassung nicht, und zwar deshalb, weil die Verteidigungsstrategie der NATO auf eine völlig unrealistische Grundlage gestellt ist. Viele Jahre lang war sie geradezu eine Einladung an den Gegner. Das begann, als Kennedy Präsident war. Damals hatten die Vereinigten Staaten eine sehr große Überlegenheit auf dem nuklearen Sektor, während die Sowjet-Union im Bereich der konventionellen Waffen voraus war. Insofern war es auch verständlich, daß die amerikanische Regierung versuchte, die Lücke durch Stärkung des konventionellen Potentials wieder zu füllen. Nur hätte man die Entwicklung der nuklearen Waffen nicht völlig vergessen dürfen, denn der nächste europäische Krieg wird auf jeden Fall ein Krieg sein, in dem Atomwaffen verwendet werden.

Was soll ein Europäer tun in dieser so ausweglos geschilderten Lage?

COHEN: Wenn ich Deutscher wäre, würde ich mich bei meiner Regierung dafür einsetzen, die Tatsache des Atomzeitalters mit mehr Realismus zur Kenntnis zu nehmen.

Ist es nicht realistisch, einen Krieg überhaupt zu vermeiden, beispielsweise durch den Versuch, die Verhandlungen mit der Sowjet-Union nicht abreißen zu lassen?

COHEN: Das halte ich für nicht sehr ergiebig.

Sind Sie in Ihrem Leben jemals auf einem Schlachtfeld gewesen?

COHEN: Die Gelegenheit, am nächsten an ein Schlachtfeld heranzukommen, ergab sich für mich in Korea, wo ich mich 1951 als Berichterstatter aufhielt. Ich war zwar nicht unmittelbar an der Front, aber ich sah die ganze Verwüstung, besonders in der Hauptstadt Seoul. Die war nahezu vollständig vernichtet, aber, wohlgemerkt, nicht durch nukleare, sondern durch konventionelle Waffen. Das machte auf mich einen sehr starken Eindruck. Zu dieser Zeit begann mein Interesse an der Entwicklung taktischer Kernwaffen für den Einsatz auf dem Gefechtsfeld. Ich sagte mir, warum suchst du nicht Mittel und Wege, Nuklearwaffen so weit zu verfeinern, daß man das physische Desaster, das ich in Korea erlebte, vermeiden konnte.

Sie meinen Waffen, die den Feind töten, aber die Gebäude verschonen?

COHEN: Genau das meine ich.

Haben Sie in Korea gesehen, wie Menschen getötet wurden?

COHEN: Nein, denn ich war nicht dabei, als die Kämpfe tobten. Ich kam nach Seoul einige Monate, nachdem es vorbei war.

Haben Sie überhaupt schon einmal einen toten Menschen gesehen?

COHEN: Die erste Leiche, die ich in meinem Leben gesehen habe, war die meines Vaters. Er starb 1963.

Wie alt waren Sie da?

COHEN: Ich bin 1921 geboren, also war ich schon über vierzig.

Liebten Sie Ihren Vater?

COHEN: Das kann man nicht sagen. Ich hatte Probleme mit ihm wie die meisten Söhne mit ihren Vätern.

Weinten Sie, als Sie die Leiche sahen?

COHEN: Ich weine sehr selten. Ich weine nicht über Tote. Leichen haben auf mich keine besondere Wirkung. Ich weine, wenn in meinen persönlichen Beziehungen zu anderen Menschen etwas schiefläuft. Ich weine auch oft über Filme.

Welche zum Beispiel?

COHEN: Kennen Sie "Wege zum Ruhm" von Stanley Kubrick? Dieser Film rührte mich fast zu Tränen, denn er handelt vom Tod junger Männer im Ersten Weltkrieg. Das Opfer dieser Männer war völlig sinnlos.

Trifft das nicht auf jeden Krieg zu?

COHEN: Nein. Manche Kriege sind mehr gerechtfertigt als andere Kriege. Der Erste Weltkrieg war nicht zu rechtfertigen, und zwar auf beiden Seiten. Ein paar europäische Nationen hatten einfach beschlossen, Krieg zu führen. Sie wollten Krieg. Das war alles.

Aber das macht doch keinen Unterschied für die Opfer.

COHEN: Da stimme ich Ihnen zu. Für den, der erschossen wird, ist es egal, aus welchen Gründen. Aber lassen Sie mich von einem Film erzählen, bei dem ich wirklich sehr weinen mußte. Er hieß "Für König und Vaterland", ein britischer Film, ebenfalls über den Ersten Weltkrieg. Ein junger Soldat verläßt einfach die Schlacht, wird aufgegriffen und wegen Desertion zum Tode verurteilt. Die Männer, die ihn erschießen sollen, treffen aber nicht richtig, so daß der Kommandant, gespielt von Dirk Bogarde, gezwungen ist, die Exekution selbst auszuführen. Er geht zu dem Verurteilten, um ihn mit seiner Pistole zu töten, da sagt der junge Soldat: Tut mir leid, Sir, daß ich auch das noch verpfuschen mußte. Also er nimmt sogar noch die Schuld auf sich, daß seine Hinrichtung Schwierigkeiten bereitet. Der Kommandant erwidert: Öffnen Sie den Mund. Dann steckt er die Pistole hinein und bläst dem Soldaten das Hirn aus. Ich saß im Wohnzimmer vor dem Fernsehapparat. Meine Frau machte gerade Näharbeiten. Plötzlich mußte ich so laut schluchzen, daß sie herbeilief und mich fragte, was denn los sei. Ich sah aber keine Möglichkeit, ihr meine Gefühle verständlich zu machen. Sie sehen, ich kann auch weinen. Es hängt von den Umständen ab.

Wird es im nächsten Weltkrieg Situationen geben, die man mit der eben geschilderten Filmepisode vergleichen könnte?

COHEN: Nein, denn im dritten Weltkrieg wird es keinen Raum für Helden und auch keinen Raum für Feiglinge geben. Die Schlachten werden nicht vom persönlichen Einsatz einzelner Menschen, sondern von rein technischen Überlegungen bestimmt sein.

Kein Raum für Tränen also, aber Raum für unzählige qualvolle Tode, denn die Wirkung Ihrer Bombe ist, soweit bekannt, eine Langzeitwirkung, das heißt, man stirbt nicht sofort. Man kann nach einem Treffer noch tagelang leben.

COHEN: Vielleicht sogar Wochen.

Ja, und man weiß während dieser ganzen Zeit, daß es keine Rettung gibt, weil man durch Neutronen verseucht ist. Man ist bei vollem Bewußtsein, aber ohne jegliche Hoffnung.

COHEN: Das ist nicht ganz richtig, denn die getroffene Person weiß nichts über die Größe der Strahlenmenge, von der sie verseucht ist. Alles, was sie weiß, ist, daß sie sehr krank wird. Wenn medizinische Hilfe da ist und die Dosis nicht zu groß war, kann man auch überleben. Es gab 1974 einen Fall in New Jersey, wo ein Mann bei einem Reaktorunglück eine sehr große Menge an Radioaktivität in sich aufnahm. Die Maßeinheit für die Strahlendosis heißt «rad». Der Mann hatte sechshundert von diesen Einheiten aufgenommen. Bei einer solchen Menge sind die Chancen, zu überleben, nur eins zu zehn, außer es werden sehr heldenhafte medizinische Anstrengungen unternommen, was hier der Fall war, denn der Mann überlebte. Es gibt einen genauen Bericht über den Vorfall. In den ersten drei Stunden nach der Explosion reagierte der arme Kerl mit Übelkeit und starkem Erbrechen. Aber das Merkwürdige war, daß er sich über seinen Zustand keinerlei Sorgen machte, obwohl er sehr genau wußte, was ihm passiert war. Er wurde weder hysterisch noch konnten depressive Erscheinungen festgestellt werden. Er war auf der Station der ruhigste Patient von allen. Am ersten Tag nach seiner Einlieferung wurde sein Blut von der Strahlenwirkung ergriffen. Er bekam starke Blutungen. Zwischen dem 22. und 35. Tag nach dem Unglück war sein Blutpegel so niedrig, daß man ihn nur durch eine ungeheure Zahl von Transfusionen am Leben erhalten konnte. Nach dem 35. Tag erholte er sich plötzlich sehr rasch. Am 45. Tag wurde er aus der Klinik entlassen und kehrte zurück zu seiner Arbeit. Soviel ich weiß ist er heute wieder bei voller Gesundheit.

Halten Sie ein solches Ausmaß an medizinischer Versorgung im Kriegsfall für möglich?

COHEN: Nein.

Was geschieht dann mit den Strahlenopfern?

COHEN: Sie werden sterben. C'est la guerre. Es ist kein Unterschied, ob ein Soldat durch Strahlen oder durch einen Granatsplitter umkommt. Das ist beides gleich schrecklich.

Ist Ihre Waffe experimentell ausprobiert worden?

COHEN: Es gab einige unterirdische Tests, also wir kennen im wesentlichen die Wirkung. Zu genauen Erkenntnissen über die zu verwendende Neutronenmenge kommen wir aber erst an Hand von Unfällen wie jenem, den ich gerade beschrieben habe.

Welchem Umstand ist es zu verdanken, daß gerade Sie für die Konstruktion der Neutronenbombe ausgewählt wurden?

COHEN: Ich wurde nicht ausgewählt, es geschah durch Zufall. Die amerikanische Luftwaffe beauftragte eine Gruppe von Wissenschaftlern, der ich angehörte, die Tauglichkeit taktischer Waffen für den Einsatz in lokal begrenzten Kriegen zu prüfen. Meine spezielle Aufgabe war es, die Anwendungsmöglichkeiten nuklearer Waffen herauszufinden. Ich war seit acht Jahren mit diesem Thema beschäftigt.

Sind Sie stolz, dieses Angebot bekommen zu haben?

COHEN: Es war kein Angebot. Ich wurde einfach bestimmt, es zu machen.

Hatten Sie nicht die Möglichkeit, abzulehnen?

COHEN: Es gab außer mir ein Dutzend von Leuten, die meine Aufgabe hätten erfüllen können.

Heißt das, die Bombe wäre, hätten Sie abgelehnt, von einem anderen erfunden worden?

COHEN: Das weiß ich nicht. Das läßt sich heute nicht mehr rekonstruieren.

Sie wissen, daß Ihre Erfindung eine große moralische Diskussion ausgelöst hat, ähnlich wie der Bau der ersten Atombombe im Zweiten Weltkrieg. Kamen Ihnen je moralische Bedenken bei Ihrer Arbeit?

COHEN: Nein. Es war ein persönliches Abenteuer. Ich war wirklich sehr interessiert an der Entwicklung nuklearer Waffen für taktische Zwecke.

War es eine Faszination?

COHEN: Es war die Überzeugung von der Notwendigkeit, Atomwaffen zu haben, die nicht wie die Bomben auf Hiroshima und Nagasaki alles zerstören, denn im Falle, daß der Feind schon im eigenen Land steht, würden solche herkömmlichen Bomben genau das vernichten, was man verteidigen wollte. Das wäre völliger Unsinn.

Waren Sie bereits damals der Meinung, daß ein Atomkrieg unvermeidlich sein würde?

COHEN: Nein, darüber hatte ich noch keine Vorstellungen, als ich die Bombe machte. Das kam erst später. Ich bin erst in meinen alten Tagen zum Philosophen geworden. Heute denke ich eine ganze Menge über diese Probleme nach.

Würden Sie sich als einen Pessimisten bezeichnen?

COHEN: Ich gehöre philosophisch zu keiner bestimmten Richtung.

Sind Sie ein religiöser Mensch?

COHEN: Nein.

Aber geboren als Jude?

COHEN: Ja, das erkennen Sie schon an meinem Namen. Samuel war ein jüdischer Prophet. Mein Vater war Jude, von Beruf Tischler. Aber ich bin nicht im jüdischen Glauben erzogen worden.

Glauben Sie an ein Weiterleben im Jenseits?

COHEN: Nein, daran glaube ich nicht. Deshalb sage ich immer, der Tod ist das Nichts. Man weiß nichts, aber es ist nicht schlimm für mich, nichts zu wissen. Es gab Zeiten, in denen ich mehr darunter gelitten habe. Heute bedeutet Sterben für mich einfach Schlafen, ohne zu träumen.

Würden Sie um Ihr Leben kämpfen im Falle einer Bedrohung?

COHEN: Ja, sicher. Ich würde töten, um nicht getötet zu werden. Nehmen wir an, ich wäre Soldat gewesen, dann hätte ich natürlich mein Land verteidigt. Ich bin dazu erzogen, ein Patriot zu sein, aufgewachsen im Glauben an die Vereinigten Staaten. Es gab in meiner Jugend nicht diesen Zweifel am Patriotismus, wie wir ihn heute
haben. Es gab vielleicht ein bißchen schlechtes Gewissen wegen des Ersten Weltkriegs, aber nicht viel, denn Amerika hat in diesem Krieg nur leichte Verluste erlitten.

Gab es ein schlechtes Gewissen wegen der fast vollständigen Ausrottung der Indianer?

COHEN: Nein, das gibt es nicht einmal heute. Nur ein mikroskopisch kleiner Teil der amerikanischen Bevölkerung fühlt sich schuldig wegen der Indianer.

Finden Sie das richtig?

COHEN: Lassen Sie mich dazu etwas erklären. Kollektives Schuldgefühl ist an sich etwas sehr Gutes, denn es ist das, was Zivilisation überhaupt erst ermöglicht. Hätten wir keine Schuldgefühle, würden wir einander täglich ermorden. Es gibt bestimmte Dinge, deretwegen wir Schuld fühlen müssen, sonst verwandeln wir uns in Barbaren. Jemand, der überhaupt keine Schuld fühlt, läuft Amok.

Haben Sie Schuldgefühle?

COHEN: Natürlich, wie jeder. Das kommt durch die Erziehung. Wenn man als Kind nicht gehorcht oder keinen Respekt hat, fühlt man sich schuldig. Dazu wird man erzogen. Der Mensch ist das Produkt seiner Eltern und später dann seiner Lehrer. Unsere ganze Kindheit ist ein moralisches Training, damit wir in der Zivilisation funktionieren können.

Und zum Funktionieren gehörte es, daß man Patriot war?

COHEN: Selbstverständlich. Wir lernten in der Schule auch für den Krieg. Ich muß aber sagen, daß mit mir in den fünfziger Jahren eine Metamorphose vor sich ging, das heißt, ich bin mir der zerstörerischen Wirkung der damals üblichen Waffen bewußt geworden. Ich spürte, daß Krieg begonnen hatte, unmenschlich zu werden.

Das bedeutet, Sie halten menschliche Kriege für möglich?

COHEN: Das ist genau der Punkt, über den wir hier reden. Wenn im Töten kein Unterschied gemacht wird zwischen Soldaten und Zivilisten, dann ist es kein menschlicher Krieg mehr. Meine Bemühungen waren darauf gerichtet, eine Waffe zu finden, mit der Zivilisten verschont werden können. Viele, die sich mit der Neutronenbombe befassen, verwechseln Soldaten mit Zivilisten. Sie sagen, die Bombe vernichtet Menschen. Das ist falsch, sie vernichtet Soldaten.

Was ist der Unterschied zwischen einem Menschen und einem Soldaten?

COHEN: Eine sehr gute Frage. Nun kommen wir endlich zum Kern der Sache. Ein Soldat ist dazu bestimmt, getötet zu werden. In der christlichen Ethik ist der Soldat jemand, der getötet werden darf, aber der Zivilist nicht. In einem Krieg mit Neutronenbomben kann sich die Zivilbevölkerung rechtzeitig in Sicherheit bringen. Das Bedenkliche an der Sache ist nur, daß heute die meisten Soldaten, wenn der Krieg vorbei ist, wieder zu Zivilisten werden.

Sofern sie überleben.

COHEN: Richtig.

Die Chancen, einen Atomkrieg zu überleben, werden in Europa für äußerst gering gehalten, weil man fürchtet, wenn erst einmal Nuklearwaffen verwendet werden, werden früher oder später auch die Superbomben zum Einsatz kommen. Bei uns herrscht die Meinung, ein Atomkrieg sei mit dem Weltuntergang gleichzusetzen.

COHEN: Damit haben Sie gar nicht so unrecht. Als Philosoph, also unabhängig von meinen vaterländischen Interessen, sage ich, wir werden in die Katastrophe hineingetrieben.

Von wem?

COHEN: Von uns selbst. Es liegt in der Natur des Menschen, Kriege zu führen. Er braucht sie als Befreiung von Spannungen, wenn diese einen gewissen Höhepunkt überschreiten.

Halten Sie die menschliche Gattung nicht für intelligent genug, ihren eigenen Untergang zu verhindern?

COHEN: Nein, der Mensch glaubt nur, was er erlebt hat. Denken Sie nur daran, wie viele die Folgen der Bombardierung von Hiroshima und Nagasaki in Filmen gesehen haben, aber das hatte keine einschneidende Wirkung. Man hat es gesehen, aber das bedeutet nicht, daß man es wirklich durchlebt hat. Das Dumme ist, daß man in einem Atomkrieg, der die Welt vernichtet, nicht Beobachter sein kann, nur Opfer.

Haben Sie keine Angst?

COHEN: Doch, natürlich habe ich Angst, genauso wie Sie.

Fühlen Sie sich in Amerika durch die relativ große Entfernung vom Gegner nicht ziemlich sicher?

COHEN: Nein, denn die sowjetischen Raketen können heute in zwanzig Minuten die Vereinigten Staaten erreichen. Was die Rüstung betrifft, gibt es keinen Unterschied mehr zwischen Amerikanern und Russen. Ich bin sicher, sie haben auch die Neutronenbombe, und zwar seit Jahren.

Haben Sie etwas unternommen, um sich zu schützen?

COHEN: Nein.

Besitzen Sie eine Waffe?

COHEN: Das habe ich nie in Erwägung gezogen, weil ich fürchte, jemanden versehentlich umzubringen. Wenn ich nachts schliefe, und Diebe brächen in mein Haus ein, dann würde ich vielleicht sofort schießen, ohne mich zu vergewissern, ob die Einbrecher überhaupt Waffen haben.

Hatten Sie als Kind Angst im Dunkeln?

COHEN: Natürlich, wie alle Kinder. Ich erzähle Ihnen ein Beispiel. Als ich klein war, ging ich samstagnachmittags immer ins Kino. Für Kinder gab es damals oft Horrorfilme, und ich hatte natürlich furchtbare Angst. Wenn der Film aus war, war es draußen schon dunkel im Winter. Ich hatte nur ein paar hundert Meter zu unserem Haus, und ich war fest entschlossen, mich heldenhaft zu benehmen. Aber plötzlich fing ich jedesmal an zu rennen und kam dann völlig erhitzt daheim an. Als meine Mutter fragte, was los sei, konnte ich natürlich nicht zugeben, daß ich voller Angst war. Deshalb sagte ich immer, ich hätte bloß Lust gehabt, etwas zu laufen.

Hatten Sie damals bereits bestimmte Vorstellungen, welchen Beruf Sie einmal ergreifen würden?

COHEN: Ich wollte Lokomotivführer werden oder Cowboy oder Soldat.

Nicht Wissenschaftler?

COHEN: Nein, für Wissenschaft begann ich mich erst zu interessieren, als ich fünfzehn war oder sechzehn. Ich bin nie ein guter Schüler gewesen. Ich haßte zu lernen.

Wollten Sie reich sein?

COHEN: Nicht unbedingt. Geld hat mir nie viel bedeutet. Ich wollte berühmt sein, so daß die Leute zu mir aufschauen. Ich wollte bewundert werden.

Wann hatten Sie das Gefühl, es geschafft zu haben?

COHEN: Das hatte ich nie, bis heute nicht, weil ich nicht glaube, mein Ziel erreicht zu haben.

Wollen Sie damit sagen, daß Sie kein zufriedener Mensch sind?

COHEN: Genau das will ich sagen. Noch vor einigen Jahren dachte ich, wenn die amerikanische Regierung beschließen sollte, die Neutronenbombe zu produzieren, dann würde ich beruflich und auch persönlich ein sehr glücklicher Mann sein. Ich dachte, ich würde dann zufriedener sterben. Aber nun, da die Entscheidung gefallen ist, fühle ich genau dasselbe wie vorher. Meine Gefühle haben sich nicht verändert, und wissen Sie, warum? Weil sich meine Erwartungen, durch die Bombe einen positiven Einfluß auf die Zukunft der Menschen ausüben zu können, in keiner Weise verwirklicht haben.

Wurden Sie konsultiert, als man die Produktion der Bombe beschlossen hatte?

COHEN: Nein, man hat mich nicht einmal unterrichtet.

Empfanden Sie das als Verletzung?

COHEN: Doch, schon ein bißchen. Aber ich war darüber nicht sehr verwundert. Ich werde nicht geschätzt von der Regierung, weil ich ihre Politik seit zwanzig Jahren in aller Öffentlichkeit attackiere. Das hat mich nicht gerade beliebt gemacht bei meinen Arbeitgebern. Ich habe Standpunkte vertreten, die der von der Regierung eingenommenen Haltung zuwiderlaufen.

Welche?

COHEN: Ich sage, die amerikanische Verteidigungspolitik ist auf nuklearem Gebiet vollkommen unrealistisch, weil sie die Existenz von Atomwaffen im Grunde nie akzeptiert hat. Wir stellen sie her, aber wir wissen nicht, sie zu benutzen. In den meisten westlichen Ländern ist ein ungeheurer Abscheu gegen nukleare Waffen entstanden. Die Folge ist ein Einfrieren aller Bemühungen, eine Doktrin zu ihrer sinnvollen Verwendung hervorzubringen.

Was schlagen Sie vor?

COHEN: Ich würde es machen wie die Franzosen, die, nachdem sie im Ersten Weltkrieg enorme Verluste erlitten hatten, den Beschluß faßten, einen Befestigungswall zu errichten, um weitere Kriege von vornherein zu verhindern. Ich meine die Maginot-Linie. Im Grunde war das ein uralter Gedanke. Die Europäer haben seit Hunderten von Jahren um ihre Städte Mauern gebaut, um sich zu schützen. Daß die Idee scheiterte, lag daran, daß man an der belgischen Grenze eine Lücke ließ. Das war die Stelle, an der Hitler durchbrechen konnte. Mein Vorschlag wäre, zwischen den Staaten des Warschauer Paktes und Westeuropa einen Wall zu errichten, ähnlich einem elektrischen Zaun, nur mit dem Unterschied, daß an Stelle von Elektrizität radioaktive Strahlung benutzt wird. Dadurch würde eine der tückischsten Auswirkungen atomarer Bewaffnung so eingesetzt, daß es für einen Angreifer nahezu unmöglich wäre, in ein anderes Land einzudringen. Es wäre nicht einmal nötig, ihn zu vernichten, weil er, sobald er die durch meinen Wall gesicherte Grenze verletzt, sich selbst vernichtet. Wenn er sich selbst nicht vernichten will, wird es keine Kriege mehr geben. Was halten Sie von diesem Gedanken?

Gut ausgedacht, nur wird ein Zusammenkommen der Menschen aus einander feindlichen Staaten dann endgültig ausgeschlossen. Man erreicht genau das Gegenteil von dem, was zum Beispiel in Deutschland heute versucht wird: Grenzen mehr durchlässig zu machen.

COHEN: Sie sind ein merkwürdiger Mensch. Ich erzähle Ihnen hier meine Ideen, wie man Kriege erfolgreich verhindern könnte, und Sie sagen mir, die beiden Seiten sollten zusammenkommen. Das halte ich für völlig unmöglich.

Muß man deshalb aufhören zu hoffen?

COHEN: Man muß nicht. Aber wie wollen Sie der Verwirklichung solcher Hoffnungen näherkommen?

Durch das Niederlegen der Waffen anstatt deren Perfektionierung.

COHEN: Gut, Sie schlagen vor, die Waffen zu strecken. Wahrscheinlich ist das wirklich der einzige Ausweg. Aber man muß dann die Frage stellen: Was geschieht, wenn man dies tut? Die Antwort ist: Wir wissen nicht, was dann geschieht.

Eines ist sicher: Ihre Bombe wäre dann überflüssig.

COHEN: Das wäre wirklich meine geringste Sorge.

Was empfanden Sie in dem Augenblick, als Sie die Lösung für die Neutronenbombe gefunden hatten?

COHEN: Ich war sehr glücklich. Ich zeigte meine Berechnungen den Kollegen, und die meisten sagten, fein, das sei eine tolle Idee. Ich war äußerst zufrieden, endlich gefunden zu haben, was ich seit langem suchte.

Mußten Sie nicht zwangsläufig wünschen, daß Ihre Erfindung irgendwann auch benutzt wird?

COHEN: Nein, daran dachte ich überhaupt nicht. Da bin ich mir vollkommen sicher. Natürlich wünschte ich, daß die Bombe produziert und in unser Waffensystem integriert werden würde, und zwar aus sehr guten Gründen, wie ich Ihnen die ganze Zeit zu erklären versuche. Denn sie ist weitaus humaner als alle Kernwaffen, die bisher verwendet wurden.

Dachten Sie auch an die Menschen, die mit Ihrer Bombe, falls man sie doch einsetzen sollte, getötet werden?

COHEN: Töten ist der Zweck des Krieges. Ich wiederhole: Nicht das Töten von Menschen, sondern das Töten gegnerischer Soldaten.

Das würde bedeuten, daß Ihr Kinderwunsch, einmal Soldat zu werden, nichts anderes war als der Wunsch, getötet zu werden.

COHEN: Das ist eine falsche Schlußfolgerung. Denn als ich klein war, kannte ich Soldaten nur aus dem Kino. Ein Soldat war jemand, der böse Menschen umbringt. Natürlich identifizierte ich mich mit den Guten, und das waren in den Filmen immer die Sieger.

Meinen Sie, in der Wirklichkeit ist das anders?

COHEN: Das muß ich wohl meinen, denn wie es aussieht, sind die Kommunisten drauf und dran, zu gewinnen, und das sind doch sehr böse Leute. Die liquidieren Millionen ihrer eigenen Landsleute, schicken sie nach Sibirien und halten sie dort gefangen für den Rest ihres Lebens. Nach den heutigen Moralvorstellungen sind das sehr böse Menschen. Aber man muß hier eine Einschränkung machen. Wenn es zu einem Atomkrieg kommt, wird sich die sowjetische Doktrin als weitaus weniger unmoralisch erweisen als der westliche Standpunkt. Die heutige Kriegspolitik des Westens basiert auf dem Töten von Zivilisten und dem Zerstören der gesellschaftlichen Strukturen des Feindes. Die Russen wollen etwas ganz anderes. Sie werden die Zivilisten verschonen, um ihnen die ganze Pracht und Herrlichkeit des Kommunismus bringen zu können. In gewissem Sinne sind sie also viel christlicher als die westlichen Staaten, weil sie die Massen umarmen, um sie für ihre Ideologie zu gewinnen. Sie haben zwar keine Hemmungen, Millionen von Menschen zu eliminieren, die ihrer Lehre im Weg stehen. Stalin hat das mit den Ukrainern gemacht, Mao Tse-tung mit den Chinesen. Aber wenn der Kommunismus in andere Länder einfällt, kommt er mit einer geradezu christlichen Liebe. Es ist vollkommen falsch, anzunehmen, daß die Sowjets die Bevölkerung der westlichen Länder ausrotten würden. Nichts ist weiter entfernt von der Wahrheit. In einem Atomkrieg sind, wie sich herausstellen wird, die Russen die Guten. Dann hätten wir ja nichts zu befürchten.

COHEN: Würden Sie Kommunist werden, wenn die Sowjets Deutschland besetzen?

Nein, ich würde Sie telefonisch warnen.

COHEN: Das könnten Sie, wenn Neutronenwaffen verwendet würden, tatsächlich tun, weil Ihr Telefon dann nicht im geringsten beschädigt wäre.

Nicht mein Telefon, aber ich möglicherweise. Was würden Sie mir raten, wenn ich, von Ihrer Bombe getroffen, nur noch wenige Wochen zu leben hätte?

COHEN: Ich würde Ihnen raten, mit Anmut zu sterben.

Das erinnert mich an einen kürzlich abgehaltenen Ärztekongreß in Hamburg, der das Motto hatte: «Die Überlebenden werden die Toten beneiden». Dort wurde der Vorschlag gemacht, riesige Morphium-Depots anzulegen, um den Opfern eines Atomkriegs wenigstens das Sterben erleichtern zu können.

COHEN: Das wäre im Falle eines sowjetischen Angriffs nicht nötig, denn die Strategie der Sowjet-Union ist einzig und allein auf die Eroberung gegnerischer Militärstützpunkte gerichtet, und zwar unter Verwendung taktischer Waffen, ähnlich meiner Neutronenbombe. Das heißt, die Russen würden nicht ganz Europa auslöschen, im Gegenteil. Ein guter Bekannter von mir, der lange Jahre Mitarbeiter General de Gaulles war, hat herausgefunden, daß die Sowjets das westliche Europa mit einem einzigen Schlag vollständig entwaffnen könnten, ohne der Bevölkerung mehr als fünf Prozent Verluste zufügen zu müssen. Das sind weit weniger als die Verluste im Ersten und Zweiten Weltkrieg.

Würden Sie in so einem Fall nicht fürchten, einem kommunistisch vereinten Europa gegenüberzustehen, gegen das die Vereinigten Staaten militärisch im Nachteil wären?

COHEN: Nicht unbedingt, denn ich habe sehr starke Zweifel, ob sich die Europäer unter sowjetischem Joch dem System gegenüber solidarisch verhalten würden. Ich glaube, daß das Bestreben der Vereinigten Staaten, Europa zu verteidigen, falsch ist. Es hat sich herausgestellt, daß die USA dadurch schwächer und schwächer werden, und das liegt in niemandes Interesse. Man sollte es den Europäern ruhig überlassen, ihre Probleme allein zu lösen.

Das wäre gut möglich, wenn Amerika nicht den Ehrgeiz hätte, die ganze sogenannte freie Welt zu beschützen.

COHEN: Dieser Ehrgeiz ist ein gefährlicher Unsinn.

Wem gaben Sie bei der letzten Präsidentenwahl** Ihre Stimme?

COHEN: Ich gab sie Reagan.

Aus welchen Gründen?

COHEN: Ich glaubte, er würde die Sicherheit meines Landes besser gewährleisten als Jimmy Carter.

Fühlen Sie sich unsicher?

COHEN: Schrecklich unsicher. Ich fühle mich bedroht von den Sowjets, denn sie wollen mir meine Freiheit nehmen.

Was verstehen Sie unter Freiheit?

COHEN: Tun zu können, was ich tun will. In einem kommunistischen Land könnte ich unmöglich ein zufriedener Mensch sein.

Aber zufrieden sind Sie, wie Sie vorhin erklärten, auch hier nicht.

COHEN: Sicher nicht, aber das sind persönliche Schwierigkeiten. Man muß unterscheiden zwischen politischer Freiheit und persönlicher Freiheit. Ich kann doch politisch frei sein und trotzdem unzufrieden. Ich bin ein Gefangener meiner selbst. Aber es ist etwas anderes, sein eigener Gefangener zu sein als der Gefangene einer bestimmten politischen Richtung. Jeder Mensch ist mehr oder weniger ein Gefangener seiner selbst, Sie eingeschlossen. Trotzdem kann man den Wunsch haben, die politische Freiheit des Landes, in dem man lebt, zu bewahren. Dieser Wunsch geht bei mir so weit, daß ich für diese Freiheit auch kämpfen würde. Ich würde in den Krieg ziehen.

Dort würden Sie Ihre persönliche Unzufriedenheit sicher vergessen, weil Sie von morgens bis abends damit beschäftigt wären, zu kämpfen.

COHEN: Das sehe ich anders. Darf ich fragen, warum Sie dieses Interview überhaupt machen wollten?

Ich wollte den Mann, der sagt, die Entwicklung von Waffen sei eine faszinierende Beschäftigung, kennenlernen. Sie haben das mehrmals behauptet.

COHEN: Jedem seine eigene Faszination. Ich arbeite seit 1944 an der Entwicklung von Waffen. Ich war dabei, als in Los Alamos die erste Atombombe entwickelt wurde, und ich hatte keinerlei moralische Bedenken, obwohl ich wußte, daß sie dazu bestimmt war, abgeworfen zu werden.

Sind Sie in Hiroshima gewesen nach dem Abwurf der Bombe?

COHEN: Nein, aber ich war in Deutschland, und ich sah die Verwüstungen, die allerdings nicht durch eine Atombombe, sondern durch Tausende konventioneller Bomben verursacht waren. Das deutsche Volk hat durch konventionelle Waffen weitaus mehr leiden müssen als Japan durch den Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki. In Japan sind zwei Bomben gefallen, und damit war der Krieg auch schon beendet.

Aber das war doch nur deshalb der Fall, weil die Japaner keine Atombombe hatten. Eine so rasche Erledigung ist heute, da die Amerikaner das Monopol auf Atomwaffen verloren haben, nicht zu erwarten.

COHEN: Dazu kann ich nur sagen, es war für mich eine Herausforderung, die Entwicklung nuklearer Waffen in eine Richtung zu führen, wo ihre verheerenden Auswirkungen soweit wie möglich verringert werden. Aus diesen Bemühungen heraus entstand die Neutronenbombe. In Ihren Augen ist das offensichtlich eine verrückte Waffe, und in einem sehr abstrakten Sinne ist sie das wirklich, aber in einem konkreten Sinn, in der Welt, wie sie heute ist, ist es eine Waffe, der sehr vernünftige Absichten zugrunde liegen.

Vielleicht ist die Welt verrückt.

COHEN: Die menschliche Rasse ist sicher verrückt. Da stimme ich Ihnen voll zu.

Was sagen Sie zu der These, Ihre Bombe, die tote Materie schont, aber Leben vernichtet, sei ein Symbol des Kapitalismus, der Glück auf materiellen Wohlstand zurückführt?

COHEN: Diese These ist eine Erfindung der Sowjets. Ich bin nicht daran interessiert, materielle Werte zu schützen.

Welche Gegenstände, die Sie besitzen, sind Ihnen besonders wichtig?

COHEN: Ich kann ehrlich sagen, es gibt nichts, was ich nicht missen könnte. Ich war nie Kunstsammler. Meine Bücher füllen kaum mehr als zwei Fächer, und davon habe ich fünfundneunzig Prozent nicht gelesen. Falls Sie gekommen sind, um meine Persönlichkeit auszuforschen, wird es Sie interessieren, daß es mir sehr schwerfällt zu lesen. Ich kann mich nicht konzentrieren. Das ist einer der vielen seltsamen Züge meines Charakters. Von Karl Marx habe ich keine Zeile gelesen, von Nietzsche kenne ich nur den Namen. Wenn ich etwas lese, dann Zeitungen und besonders gern Comics. Natürlich lese ich wie jeder Amerikaner die Peanuts.

Sind Sie Millionär?

COHEN: Nein, leider nicht. Könnte ich meine Bombe in eigener Regie produzieren und auf dem Markt verkaufen, wäre ich sicher ein reicher Mann. Aber sie gehört der Regierung. Alles, was ich besitze, sind zwei Autos, ein Teil meines Hauses, das noch nicht abbezahlt ist, die Möbel und etwas Geld auf der Bank. Ich verdiene im Jahr etwa 40 000 Dollar als wissenschaftlicher Angestellter. Das ist zu wenig, um mich zur Ruhe zu setzen und meine Memoiren zu schreiben.

Würden Sie das tun, wenn Sie könnten?

COHEN: Sehr gerne. Aber ich müßte vorher meinen Beruf aufgeben, weil in meinem Lebensbericht Dinge enthalten wären, die mir Schwierigkeiten bereiten könnten, private Dinge. Ich möchte, solange ich den Wunsch habe, für meine politische Überzeugung zu kämpfen, mein Privatleben für mich behalten, um nicht verwundbar zu werden. Denn angenommen, in diesen Memoiren würde stehen, ich sei homosexuell, was ich tatsächlich nicht bin, dann würde eine große Anzahl von Menschen meine Ansichten zu militärischen Fragen nicht akzeptieren, weil man gerade in Amerika vor Homosexuellen sehr große Angst hat.

Haben Sie dafür eine Erklärung?

COHEN: Nein. Da müssen Sie einen Psychologen fragen.

Wie weit würden Sie gehen im Aufdecken Ihres Privatesten?

COHEN: Ich würde mich von allem befreien, was mich belastet.

Kennen Sie sich gut genug, um damit ein ganzes Buch füllen zu können?

COHEN: Ich denke schon. Ich war viele Jahre bei einem Psychoanalytiker in Behandlung. Das ist eine sehr gute Gelegenheit, um sich kennenzulernen.

Was geschah dort?

COHEN: Ich lag auf der Couch.

Gab es bestimmte Beweggründe, die Sie veranlaßten, sich einer solchen Behandlung zu unterziehen?

COHEN: Ich war unglücklich, das ist Anlaß genug. Es ging nicht so weit, daß ich zu Hause lag und mir die Decke über den Kopf zog, aber ich hatte Schwierigkeiten im Umgang mit Menschen. Ich war Mitte Dreißig. Meine erste Ehe war gerade geschieden. Sie kennen doch sicher die Gründe, warum man einen Psychiater aufsucht.

Waren es auch Schwierigkeiten mit Ihren Eltern?

COHEN: Der Kontakt mit meinen Eltern war nie sehr erfreulich, denn sie haben, was meine Erziehung betrifft, eine ganz jämmerliche Figur abgegeben. Wissen Sie, was meine Mutter sagte, wenn ich nicht gleich gehorchte? Sie sagte: Wenn du nicht tust, was ich befehle, dann wirst du sterben. Als Kind träumte ich oft, daß ich tot sei, und wenn ich erwachte, fühlte ich mich immer sehr schuldig.

Haben Sie darüber in der Analyse gesprochen?

COHEN: Ja, über all diese Dinge.

Was war das Resultat der Behandlung?

COHEN: Ich konnte mit meinen Schwierigkeiten besser umgehen. Man kann nicht sagen, daß ich geheilt war. Ich brach die Behandlung ab, weil es nicht möglich ist, sein ganzes Leben auf einer Couch zu verbringen.

Wie ist Ihr Verhältnis zu Ihren Kindern?

COHEN: Meine Kinder sind in erster Linie daran interessiert, daß ich im Fernsehen auftrete, weil ihre Mitschüler dann sagen, sie hätten mich im Fernsehen gesehen. Sie sind stolz, wenn ich viel Publicity habe. Aber ich habe zu wenig. Ich war noch nie in einer Talk Show mit Jonny Carson oder Dick Cavett. Ich hoffe, das kommt noch, meinen Kindern zuliebe.

Haben Sie Freunde?

COHEN: Nicht viele. Ich war immer ein Einzelgänger, sicher weil ich es selbst so wollte. Das hängt mit meinem Wesen zusammen. Ich gehe sehr ungern an Orte, wo sich Menschen versammeln. Das ist auch der Grund, warum ich nie ein Theater oder einen Konzertsaal besuche. Mich stört der Geruch der Menschen. Ich ziehe es vor, abends fernzusehen und Musik von Schallplatten zu hören.

Leiden Sie an Verfolgungswahn?

COHEN: Darauf muß ich nicht antworten. Das können Sie als Frage so stehenlassen. Ich wehre mich dagegen, alles psychologisch erklären zu müssen. Die Menschen sind getrieben von bestimmten Impulsen, die nach Befriedigung drängen, aber wir kennen nicht die Ursachen dieser Impulse. Warum wollen die Menschen den Krieg? Ich beschäftige mich mit dieser Frage seit vierzig Jahren. Ich habe auch eine Menge darüber gelesen, aber ich habe nirgends eine Antwort gefunden, ausgenommen ein einziges Buch, das mir zufällig in die Hände fiel, ein verrücktes Buch. Es heißt "The Sexual Cycle of Human Warfare". Darin wird Krieg zurückgeführt auf sexuelle Verhaltensweisen. Ich habe dem Autor geschrieben. Ich fragte ihn: Sind Sie Anthropologe oder Psychologe oder Sozialwissenschaftler? Er antwortete, er sei das alles nicht, er sei sein ganzes Leben lang nur Soldat gewesen. Er habe im Sudan gekämpft, in Afghanistan, überall dort, wo die britische Armee Kriege führte. Schließlich habe er sich zur Ruhe gesetzt, um dieses Buch zu schreiben. Aber er fand keinen Verleger, so daß er sein ganzes Geld opfern mußte, um es auf eigene Kosten herauszubringen. Jetzt ist er ein armer Mann, denn das Buch war ein vollständiger Reinfall.

Wie heißt er?

COHEN: Sein Name ist Norman Walter. Niemand kennt ihn. Seine These ist denkbar einfach. Sie sagt, Krieg beginnt schon in der Familie. Die Tochter vergöttert den Vater, der Vater will mit der Tochter schlafen. Die Mutter träumt davon, den Sohn zu verführen, und umgekehrt. Jeder ist seinem speziellen Ödipuskomplex unterworfen. Zunächst ist das nicht weiter gefährlich. Aber sobald der Knabe in die Pubertät kommt, wird er für das Familienoberhaupt ein ernsthafter Rivale. Dem eigenen Vater macht er die Mutter streitig, dem Vater einer fremden Familie nimmt er die Tochter. Er tut das ganz unschuldig und arglos, aber die alten Männer, die auch die Lehrer und Bürgermeister und die Köpfe des Staates sind, empfinden es als eine Bedrohung. Ihr einziges Bestreben ist es, die Jungen aus dem Feld zu schlagen. Da sie nicht mehr potent genug sind, es auf direktem Weg zu schaffen, greifen sie zu einem anderen Mittel. Sie erziehen die Söhne zum Nationalismus, um sie unter dem Vorwand, für die Heimat kämpfen zu müssen, in den Krieg schicken zu können. Kriege haben immer den Zweck, eine mehr oder weniger große Anzahl junger Männer zu eliminieren. Ahnungslos gehen sie in ihr Verderben und sind auch noch froh darüber, getötet zu werden.

Sind das Erkenntnisse, zu denen Sie auch auf Grund eigener Erlebnisse kamen?

COHEN: Es gibt bestimmte Erfahrungen, die ich mit meinem Vater hatte. Ich bin nie Soldat gewesen, aber mein Vater tat alles, damit ich es werde. Wenn er eine Wut auf mich hatte, sagte er immer: Ich wünschte, du wärst in der Armee. Er sagte nie, er wünschte, ich würde das Haus verlassen, denn er wollte nicht als jemand dastehen, der seinen eigenen Sohn aus dem Haus wirft. Er sagte, ich solle in den Krieg gehen. Wäre ich beim Kämpfen getötet worden, wäre er mich los gewesen, ohne sich irgendwelche Vorwürfe machen zu müssen, denn der Tod für das Vaterland war eine durchaus übliche Sache.

Haben Sie mit ihm über diese Dinge gesprochen?

COHEN: Nein, ich war ein gehorsamer Junge. Ich meldete mich zum Kriegsdienst. Aber dann geschah etwas, was wieder beweist, daß der Mensch nicht durch seinen Willen, sondern durch Schicksal bestimmt ist. Im Frühjahr 1943 begann meine militärische Grundausbildung. Danach schickte man mich, damit ich dort Kurse besuche, an das Institut für Technologie in Cambridge, Massachusetts. Bis dahin hatte ich seit meinem zweiten Lebensjahr immer nur in Kalifornien gelebt. Da ist ein sehr mildes Klima. Im September 1943 kam ich nach Cambridge, und es wurde kälter und kälter. Ich dachte, mir fallen die Ohren ab. Ich hatte große Angst, krank zu werden. An einem besonders eisigen Wintermorgen ging ich vom Frühstück anstatt in die Klasse zurück in den Schlafraum, wo es schön warm war. Plötzlich trat der Sergeant in mein Zimmer und sagte, ich solle mich anziehen. Ich dachte, er wollte mich bestrafen, aber er führte mich in ein Gebäude, wo mir ein Offizier einige Fragen stellte. Kurz darauf wurde ich als Mitarbeiter des Atombombenprojekts nach Los Alamos abberufen. Wie ich erfuhr, hatte der Offizier die Anweisung gegeben, den Unterricht nicht zu stören und nur jene Schüler zur Befragung zu holen, die sich gerade nicht in der Klasse befanden. Wäre ich nicht in den Schlafsaal gegangen, gäbe es vielleicht heute keine Neutronenbombe.

Sind Sie im nachhineinfroh über Ihr Schicksal oder wären Sie lieber Soldat gewesen?

COHEN: Schwer zu sagen. Manchmal habe ich das Gefühl, als ob ich etwas vermisse. Denn es reden doch alle, die im Krieg waren, über nichts anderes als ihre Heldentaten, wie sie töteten, wie sie mit den Kameraden betrunken waren, wie sie ins Bett gingen mit den Frauen aus den besiegten Ländern. Manchmal fühle ich mich sehr einsam bei diesen Geschichten. Denn meine Abenteuer haben sich alle an einem einzigen Ort abgespielt, an meinem Schreibtisch. Ich bin mein ganzes Leben lang ein einsamer Krieger gewesen, und jetzt kommen Sie und sagen, meine Erfindung sei nicht im Interesse der Menschheit. Ich hatte, als ich die Bombe machte, doch keine Ahnung, daß sie so vielen Menschen so unwillkommen sein würde. Ich wollte, genauso wie Sie, die Katastrophe eines Weltkriegs verhindern. Ich dachte, man würde das respektieren. Deshalb war es für mich eine der schönsten Erfahrungen meines beruflichen Lebens, von Papst Johannes Paul II. empfangen zu werden. Die Begegnung geschah auf Vermittlung Kardinal Casarolis, des vatikanischen Außenministers. Ich wurde vorgestellt als Vater der Neutronenbombe. Der Papst änderte, als er das hörte, nicht im mindesten seine Haltung. Das Gespräch dauerte etwa zwei, drei Minuten. Ich sagte, es sei eine Ehre für mich, seine Heiligkeit treffen zu dürfen. Der Papst fragte, ob ich mich für den Frieden einsetze. Ich antwortete, daß ich es versuche, so gut ich könne, und fügte hinzu, ich sei inspiriert durch sein Vorbild. Er blieb die ganze Zeit sehr sanft und sehr freundlich. Da hatte ich also von überall hören müssen, meine Bombe sei ein Produkt des Teufels, und nun stand ich plötzlich im Hause Gottes und wurde mit so viel Respekt behandelt.

Respekt zollt man auch einem Teufel.

COHEN: Das ist nicht richtig. Aber ein Teufel wird gefürchtet. Ich will nicht gefürchtet werden.

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* Das Interview fand im Garten des Hauses von Sam T. Cohen in Los Angeles statt.

** 1980

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Erschienen im "Playboy" (Dezember 1981)