Interview mit Reinhold Messner 1990



Sie sagen, Sie steigen auf die Berge und gehen zum Südpol*, um nicht verrückt zu werden.

REINHOLD MESSNER: Richtig, ja.

Wie sieht die Verrücktheit aus, die Sie befürchten?

MESSNER: Ich würde im Zimmer hin und her gehen wie ein wildes Tier, das man eingesperrt hat. Ich würde nicht mehr klar denken können. Ich bin als Student, der eigentlich klettern wollte, nachts häufig aufgewacht, in Angstschweiß gebadet, weil ein bestimmter Gedanke dauernd durch meinen Kopf lief. Ich habe im Kreis gedacht. Die Gedanken haben sich hinten selbst angebissen. Ich habe furchtbar gelitten.

Aber Sie sind nicht verrückt geworden.

MESSNER: Hätte ich weiterstudiert statt auf den Himalaya zu gehen, hätte ich mich vermutlich erschossen.

Vielleicht hätten Sie eine andere Lösung gefunden.

MESSNER: Für mich ist die Lösung das Gehen. Ich habe mich freigelassen und bin auf die Berge gestiegen. Wenn ich klettere, bin ich konzentriert auf Tritte und Griffe, auf die Zeit, die ich einhalten muß, auf den Gipfel, den ich erreichen will. Ich denke dann nicht, sondern ich handle. Ich frage nicht: Welchen Sinn hat das Leben? Gibt es einen Gott? Was ist Liebe? Der Sinn entsteht durch das Tun, ganz gleich, durch welches. Ich könnte auch Bäume fällen.

Nur wären Sie damit bestimmt nicht berühmt geworden.

MESSNER: Daß ich berühmt bin, liegt daran, daß ich mehrere Fähigkeiten miteinander verknüpfen kann. Bergsteiger gibt es wie Sand am Meer. Eine Ausnahmeerscheinung unter den kletternden Affen bin ich geworden, weil ich auch noch gut reden kann. Ich packe die Leute.

Außerdem schreiben Sie Bücher.

MESSNER: Ich schreibe Dokumentarberichte.

Sie haben auch Gedichte geschrieben.

MESSNER: Ja, aber das waren so pubertäre Sachen. Das ist lang her.

Eine gewisse Vorliebe für das Poetische ist Ihnen geblieben. Am Nanga Parbat glaubten Sie, als »runde, durchsichtige Wolke« hinter sich herzuschweben. Am Mount Everest fühlten Sie sich »zerbrechlich wie eine Glühbirne«, erlebten einen »seelischen Orgasmus« und das »Ausschwingen in einem raum- und zeitlosen Allbewußtsein« .

MESSNER: Das ist schwierig. Um so etwas darzustellen, müßte man Sprachkünstler sein. Aber das bin ich nicht.

In der Antarktis fiel Ihnen Dante ein, der eine Eishölle beschreibt**, obwohl er nie einen Gletscher betreten hat.

MESSNER: Das hat mich wirklich erstaunt. Mir ist unbegreiflich, wie Dante solche Bilder erfinden konnte. Daneben stehe ich ziemlich erbärmlich da. Ich kann nur beschreiben, was ich gesehen habe.

Häufig beschränkt sich das auf die Schilderung der jeweils herrschenden Wetterlage.

MESSNER: Das Wetter ist für mich ein großes Problem. Für Sie mag das langweilig sein. Aber wenn ich bedenke, welcher Scheiß heute als Literatur verkauft wird, sterile, tausendfach aneinandergereihte Sätze, Sprachonanie, hinter der keine Erfahrung steht, dann halte ich das, was ich schreibe, noch immer für interessanter.

Was war in der Antarktis Ihre stärkste Erfahrung?

MESSNER: Die Erfahrung der Stille und der Unendlichkeit. Man sieht dort nicht weit, höchstens fünf Kilometer. Die Unendlichkeit wächst einem beim Gehen zu, denn der Horizont ist ein immer gleichbleibender Kreis, der mit jedem Schritt springt. In Worten ist das nicht auszudrücken, so wie man auch das Nichts nicht beschreiben kann.

Sie haben es trotzdem getan.

MESSNER: Ja, leider. Ich weiß, es ist widersinnig.

Sie haben sogar einen Ort für das Nichts gefunden.

MESSNER: Richtig, und dabei bleibe ich auch. Ich erlebe das Nichts am ehesten auf einem Achttausender. Wenn ich mich jahrelang vorbereite und all meine Willenskraft darauf konzentriere, zum Gipfel hinaufzukommen, dann überfällt mich am Umkehrpunkt dieses Gefühl. Ich stehe oben und denke: Wofür das ganze? Das ist ein tragischer Moment. Jeder Berg, den ich erklettert habe, ist ein zerstörter Traum. Aber das weiß ich inzwischen. Deshalb ist es nicht mehr so schlimm. Die letzten Achttausender habe ich nur noch so abgehakt, damit es eine runde Geschichte wird.

Ihre Autobiographie trägt den Titel »Die Freiheit, aufzubrechen, wohin ich will«.

MESSNER: Das ist eine Zeile von Hölderlin.

Aber frei sind Sie doch gar nicht.

MESSNER: Sie haben recht. Ich bin nicht frei, wenn ich meine Expeditionen mache. Ich gehorche einem inneren Zwang. Ich bin ein von mir Getriebener, ein Gehetzter, das gebe ich zu.

Ein Zeichen von Freiheit wäre gewesen, wenn Sie auf den letzten der vierzehn Achttausender, die Sie bestiegen haben, verzichtet hätten.

MESSNER: Das habe ich tatsächlich kurz überlegt. Der Buddhismus sagt, der Mensch wird nur frei durch den Verzicht. Das ist heute sehr aktuell, denn das wäre die Philosophie, mit der sich die Menschheit vielleicht noch retten könnte.

Dafür sind Sie ein schlechtes Beispiel.

MESSNER: In diesem Punkt, ja. Aber ich habe auf andere Weise gezeigt, daß man verzichten kann. Ich war ohne Sauerstoffmaske auf dem Mount Everest. Das hat man verstanden. Millionen von Menschen haben gesagt, eigentlich muß man ja nicht mit dem Auto fahren, sondern man kann auch zu Fuß gehen.

Sie meinen, die Leute lassen das Auto stehen, weil Sie ohne Sauerstoff auf dem Mount Everest waren?

MESSNER: Nein, aber im Unterbewußtsein ist etwas hängengeblieben, da bin ich ganz sicher. Die Menschen haben gespürt, daß es nicht nötig ist, immer mehr technische Tricks zu entwickeln, um leben zu können.

Das ist doch Unsinn, weil jeder weiß, welchen Aufwand Sie brauchen, um Ihre Abenteuer überhaupt realisieren zu können.

MESSNER: Der Aufwand bei meinen Vortragsreisen, die nötig sind, um meine Abenteuer zu finanzieren, ist wirklich enorm, das stimmt. Aber ich will ja kein Vorbild sein. Ich will auch die Menschen nicht ändern. Ich mache das nur für mich selbst. Ich bin mir der Lächerlichkeit meines Tuns immer bewußt. Im Grunde ist alles, was wir tun, lächerlich. Wir zerstören unsere Basis. Der Mensch zerstört diese Welt. Das sehe ich. Davon bin ich fest überzeugt. Das Ende der Menschheit ist nicht mehr fern. Wir werden in einem kollektiven Selbstmord zugrunde gehen. Die Menschen werden auf einen großen Haufen zusammenlaufen und sich aus Verzweiflung ins Wasser stürzen.

Erschreckt Sie das nicht?

MESSNER: Nein, ich bin damit einverstanden. Mein Ausweg ist die Aktion. Wenn ich tagelang durch die Antarktis laufe und in einen Schneesturm gerate und Angst bekomme, dann erlebe ich ganz massiv die Lächerlichkeit. Ich bin Atheist. Ich halte das Leben für eine Absurdität. Aber ich laufe nicht weg vor ihr, sondern ich laufe in sie hinein. Ein anderer fährt in die nächste Bar, wenn er es daheim nicht mehr aushält. Ich steige auf einen Berg hinauf.

Sie fliehen.

MESSNER: Okay, ich fliehe. Hätte ich die Fähigkeit, die Sinnlosigkeit zu ertragen, ohne etwas zu tun, dann wäre ich ein tibetanischer Mönch und würde in einer Höhle sitzen. Aber es gibt auch einen anderen Grund. Ich glaube, daß der Mensch nicht zum Sitzen geschaffen ist. Früher ist er auf die Berge gelaufen, um Pilze zu sammeln und Rehe zu jagen. Das Gehen liegt uns im Blut. Der Mensch ist kein Dauerhocker. Ich muß doch für meinen Wandertrieb irgendeine Entschuldigung haben.

Sie könnten ihm auch widerstehen.

MESSNER: Nein, das kann ich nicht.

Haben Sie es versucht?

MESSNER: Ich kokettiere immer wieder mit dem Gedanken, einmal eine Zeitlang nichts tun zu müssen, mich in die Wiese zu legen und in den Himmel zu schauen. Das wäre ganz unaufwendig. Aber dazu ist es zu früh. Geben Sie mir noch zehn Jahre Zeit.

In zehn Jahren sind Sie ein alter Mann.

MESSNER: Sechsundfünfzig.

Da wird Ihnen gar nichts anderes übrigbleiben als kürzerzutreten.

MESSNER: Was schlagen Sie vor?

Ich schlage vor, wir erheben das Denken zum Abenteuer.

MESSNER: Ich verstehe. Sie würden den Abenteurer gern körperlos sehen. Aber das geht nicht. Das Abenteuer ist rein geistig nicht möglich. Zum Abenteuer gehört die physische Todesnähe.

War Frank Kafka kein Abenteurer?

MESSNER: Kafka ist eine Ausnahme, weil er über seine verrückte Traumwelt den Zugang zu sich gefunden hat. Diesen Zugang habe ich nicht.

Weil Sie Ihre Träume zu wenig beachten.

MESSNER: Das stimmt nicht. Ich habe, bevor ich in die Antarktis ging, sehr interessant geträumt. Ich habe mich im Traum eingeklemmt in einer unendlichen Weite gefühlt.

In der Freiheit gefangen.

MESSNER: Ja, aber das hätte ich nicht geträumt, wenn ich nicht geplant hätte, aufzubrechen. Für mich sind Körper und Geist nicht voneinander zu trennen. Der Mensch hat nicht genug Phantasie, um allein durch das Denken zu Erkenntnissen zu gelangen. Er begreift nur, was er erlebt hat.

Nietzsche, den Sie sehr schätzen, wie man Ihren Büchern entnehmen kann, hat doch nicht selbst erlebt, was er etwa in »Also sprach Zarathustra« über das Bergsteigen schreibt.

MESSNER: Nein. Nietzsche hatte eine Vision, und er hatte die Gabe, sie umzusetzen. Im übrigen habe ich keine Probleme, wenn Sie Nietzsche als einen Abenteurer bezeichnen.

Oder Hölderlin.

MESSNER: Hölderlin hatte das große Glück, schizophren zu sein.

Das nennen Sie Glück?

MESSNER: Ja, das nenne ich Glück. Ich möchte die Momente, in denen ich, allein auf einem Gipfel, anfing, mit mir zu reden, nicht missen. Das war eine wesentliche Erfahrung. Ich habe mit meinem anderen Ich gestritten. Ich bedaure, daß man sogenannte Verrückte, die durch die Straßen gehen und mit sich sprechen, in Anstalten sperrt. Ich glaube, daß wir von diesen Menschen viel lernen könnten.

Gibt es Erfahrungen, die Sie noch machen wollen?

MESSNER: Ich bin noch nie abgestürzt. Also das fehlt mir. Ich bin 1980 auf dem Mount Everest in eine Spalte gefallen. Aber die war nur acht Meter tief. Ich wäre auch gern einmal eingesperrt. Mich würde interessieren, wie ich reagiere, wenn ich eine lange Zeit im Kerker verbringen müßte. Aber dazu müßte ich ein Verbrechen begehen. Ich könnte Sie zum Beispiel erschießen.

Haben Sie einen Revolver?

MESSNER: Nein.

Außerdem wäre Ihre mutwillig herbeigeführte Verhaftung eine Erfahrung, die nicht viel zählt.

MESSNER: Das ist wahr. Es ist etwas anderes, ob ich freiwillig oder ungewollt leide. Ich habe mir meine Leiden immer selbst ausgesucht. Ich bin nie in einem KZ gewesen. Das wäre noch eine Wunscherfahrung. Ich möchte wissen, wie lange ich durchhalten und wie selbstsüchtig oder brutal ich mich den Mithäftlingen gegenüber verhalten würde.

Hätten Sie gern einen Krieg erlebt?

MESSNER: Das glaube ich nicht. Mein Vater war im Zweiten Weltkrieg Soldat. Ich erinnere mich, daß mir als Kind die Gespräche über den Krieg immer zuwider waren. Ich suche nicht den Kampf Mensch gegen Mensch. Ich habe auch in der Bergliteratur mit der soldatesken Sprache, wie sie dort üblich war, aufgeräumt. Kennen Sie Dyhrenfurth?

Nein.

MESSNER: Das war ein Schweizer Bergsteiger und Wissenschaftler, der ein Buch geschrieben hat mit dem Titel »Der Krieg an der Nordfront«. Gemeint ist der Aufstieg zur Eiger-Nordwand, fürchterlich. Ich habe nie gegen den Berg gekämpft, sondern gegen den Widerstand in mir selbst. Der Berg ist nur ein Symbol. Ich brauche von Zeit zu Zeit diese Herausforderung, damit ich psychisch und geistig nicht träge werde.

Das heißt, Sie verblöden, wenn Sie nicht auf die Berge gehen.

MESSNER: Das wäre nicht auszuschließen. Damit kommen wir wieder zum Ausgangspunkt. Faust sagt, am Anfang war nicht das Wort, sondern die Tat. Deshalb mag ich den Goethe so gern. Das Wort, auch das Wort »Gott«, ist eine späte Erfindung. Die ersten Erkenntnisse hat der Mensch aus dem Tun geschöpft.

Goethe ist Ihnen auch aus anderen Gründen sympathisch.

MESSNER: Ja, weil er sich gegen die christliche Moral dazu bekennt, Egoist zu sein. Auch ich habe mit dem Christentum Schwierigkeiten.

Welche?

MESSNER: Mich stört, daß behauptet wird, Jesus wüßte den Weg und die Wahrheit, und wer ihm folge, der würde in einem anderen Daseinszustand dafür belohnt. Das ist eine Schweinerei, weil man damit den Menschen das Leben stiehlt. Man nimmt ihnen die Chance zur Selbsterkenntnis. Man nimmt ihnen ihre Gefühle, ihre Aggressionen, ihr Leiden. Ich möchte nicht abhängig sein von christlicher Nächstenliebe.

Aber das kann passieren.

MESSNER: Das passiert bei mir nicht.

Halten Sie sich für unverwüstlich?

MESSNER: Nein, aber ich werde mein Ende bewußt erleben. Ich werde nicht angewiesen sein auf das Mitleid der Menschen. Das Sterben wird mein wichtigstes Abenteuer.

Sie suchen den Tod.

MESSNER: Das nicht, aber ich sage, das Leben ist eingespannt zwischen Geburt und Tod. Diesen beiden Ereignissen ist alles untergeordnet, auch die Liebe, die den Tod für Momente, in einem Anflug von Begeisterung, aufheben kann. Ich finde die Liebe nicht uninteressant. Aber der Tod ist zweifellos das größere Thema.

Ein Toter kann nicht mehr lieben.

MESSNER: Eben.

Ja, aber was folgt daraus?

MESSNER: Daraus folgt, daß die Mutter, durch die wir geboren sind, eine göttliche Bedeutung bekommt. In meinem Fall ist das besonders prekär. Ich habe fünf Brüder und eine Schwester. Zwei Brüder sind tot. Unsere Mutter, eine einfache, gläubige Frau, die es schwer hatte, neun Kinder durchzubringen, hat uns, über alle Schwierigkeiten hinweg, bedingungslos, in der Mathematik sagt man ein-eindeutig, geliebt. Wäre ich ein Mörder geworden, hätte sie trotzdem gesagt, das ist mein Kind, und mich im Gefängnis besucht. Deshalb haben meine Brüder und ich Probleme mit Frauen. Wir verlangen von der Frau die gleiche bedingungslose Entscheidung. Nur meine Schwester lebt in einer normalen Ehe. Die Söhne sind alle ledig oder geschieden. Das wäre sicher ein Ansatzpunkt, wenn ich mich psychiatrisch behandeln ließe.

Aber das tun Sie nicht.

MESSNER: Nein, ich beobachte es, ich muß es nicht ändern. Inzwischen kann ich ganz locker darüber reden. Meine Mutter sagt triumphierend, aha, die Buben kommen nicht gut mit Frauen zurecht. Sie spielt damit, und ich lache darüber.

Ist das so komisch?

MESSNER: Es ist nicht komisch, aber es bedrückt mich auch nicht. Ich bin der Meinung, daß die Schwierigkeiten im Leben wichtiger sind als die Glücksmomente. Ich habe immer dann etwas gelernt, wenn es mich oder einen anderen etwas gekostet hat. Mein jüngerer Bruder ist 1970 durch meine Schuld umgekommen. Wir hatten gemeinsam den Nanga Parbat bestiegen. Er wurde höhenkrank und ist abgestürzt. Damals habe ich erkannt, daß ich verwundbar bin. Bis dahin hatte ich mich für unsterblich gehalten. Ich war so naiv gewesen, zu glauben, ich sei der unverwundbare Siegfried. Erst durch den Tod meines Bruders bin ich erwachsen geworden. Es hat dieses Todes bedurft. Mein Weiterkommen hat einem Menschen das Leben gekostet. Ein Moment der Tragödie war nötig, und die Tragödie ist nicht möglich ohne das Opfer.

Ihr Bruder mußte sterben, damit Sie begreifen, daß Sie vergänglich sind.

MESSNER: Ja, und meine einzige große Liebe mußte zerbrechen, damit ich begreife, der Mensch ist ein Einzelwesen.

Weltbewegende Einsichten sind das ja nicht gerade.

MESSNER: Haben Sie erwartet, daß Sie durch mich zu weltbewegenden Einsichten kommen?

Natürlich.

MESSNER: Da muß ich Sie leider enttäuschen. Ich kann nur meine Erfahrungen wiedergeben.

Wie haben Sie denn Ihre Probleme mit Frauen gelöst?

MESSNER: Indem ich aufgehört habe, mich für die Hälfte eines Paares zu halten. Ich lebe mit einer Frau. Wir haben eine gemeinsame Tochter. Trotzdem ist jeder vom anderen unabhängig. Mir sind Frauen am liebsten, die sich als Menschen fühlen. Ich bin auch nur ein Mensch. Ich bin kein Mann. Abgesehen von der Tatsache, daß ich keine Kinder bekommen kann, gibt es zwischen einer Frau und mir keinen Unterschied.

Könnten Sie Kinder bekommen, würden Sie auf das Klettern verzichten.

MESSNER: Das habe ich nicht gesagt.

Doch, in einem Interview, vor zehn Jahren.

MESSNER: Gut, es ist etwas Wahres dran. Die größte schöpferische Möglichkeit des Menschen ist das Austragen, Gebären und Großziehen von Kindern. Leider ist mir diese Erfahrung versagt. Ich glaube aber nicht, daß das der Grund ist, weshalb ich Abenteurer geworden bin.

In Ihrem Buch »Der gläserne Horizont« schreiben Sie: »Ich bin ein Narr, der mit seiner Sehnsucht nach Liebe und Zärtlichkeit auf die kalten Berge läuft.«

MESSNER: Klingt sehr poetisch.

Leiden Sie unter Mangel an Zärtlichkeit?

MESSNER: Nein, ich hole sie mir.

Wo?

MESSNER: Auf den kalten Bergen.

An anderer Stelle heißt es, Sie hätten an den Bergwänden Ihre Pubertät ausgelebt.

MESSNER: Das ist richtig. Ich bin ein Spätentwickler. Ich habe bis zu meinem neunzehnten Lebensjahr meinen Geschlechtstrieb nicht wahrgenommen, höchstens im Traum, unbewußt.

Wie ist das zu verstehen?

MESSNER: Ich hatte meinen ersten Erguß, während ich schlief. Manchmal erlebe ich das sogar heute noch. In der Antarktis ist es mir zweimal passiert. Das eine Mal war ich im Traum auf einen Baum geklettert, um einer Frau nachzujagen, die über die Äste kroch. Durch das Reibungsgefühl an der Rinde entstand wahrscheinlich die Pollution.

Stört es Sie, wenn man Witze über Sie macht?

MESSNER: Das hängt davon ab, wie gut die Witze sind.

Man hat Ihnen vorgeschlagen, Sie sollten, um Ihre Abenteuerlust zu befriedigen, gefesselt auf den Mount Everest oder in Stöckelschuhen durch die Sahara gehen.

MESSNER: Das finde ich dumm, weil es nicht logisch ist. Es gibt einen Yeti-Witz, den ich sehr mag. Da treffen sich zwei Yetis am Himalaya. Der eine sagt: Du, ich hab' den Messner gesehen. Darauf der andere: Gibt es den wirklich? Das halte ich für einen intelligenten Witz, weil er zeigt, daß meine Existenz genauso schwer zu beweisen ist wie die des Yeti.

Aber den Yeti haben Sie doch gesehen.

MESSNER: Ich habe die zoologische Basis des Yeti gesehen, also das Vorbild, nach dem die Legende entstanden ist. Es handelt sich um ein schwarzes Tier, das auf zwei Beinen geht und nachts pfeift.*** Ich bin ihm vor vier Jahren begegnet. Es ist auf mich zugekommen. In zehn Meter Entfernung ist es stehengeblieben. Die Hand hat es mir nicht geschüttelt. Ich hoffe, es war nicht das einzige Exemplar, das es noch gibt, weil ich dann meine Arbeit nicht fortsetzen könnte.

Welche Arbeit?

MESSNER: Ich will das Viech wiederfinden und fotografieren. Das Interesse ist groß. Bei mir ruft mindestens einmal pro Woche ein Geldgeber an und sagt, er würde das gern finanzieren. Aber ich kann jetzt nicht hin. Das Gebiet, in dem das Tier lebt, ist von den Chinesen gesperrt.

Was werden Sie statt dessen als nächstes tun?

MESSNER: Ich mache wieder eine Eiswanderung.

Das gleiche noch einmal?

MESSNER: Nein, diesmal gehe ich ohne Partner. Ich möchte sehen, wie lange ich es allein aushalten kann. Eine Steigerung muß es schon geben.

Sie könnten ja mit verbundenen Augen gehen.

MESSNER: Blödsinn.

Wieso ist das Blödsinn? Sie wandern blind durch die Unendlichkeit. Das wäre doch eine interessante Erfahrung.

MESSNER: Ja, aber dazu könnte ich auch zu Hause bleiben. Ein Blinder braucht nur daheim zu sitzen, weil er überall die Möglichkeit hat, die Unendlichkeit nicht zu sehen.

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*) Vom 13. November 1989 bis zum 12. Februar 1990 durchquerte Messner zusammen mit Arved Fuchs zu Fuß die Antarktis.

**) in »La divina commedia«, »Inferno«, vierunddreißigster Gesang

***) Laut Mitteilung des österreichischen Zoologen Peter Krott, der sich nach Erscheinen des Interviews bei mir meldete, ist hier die Himalayagemse (Nemorhaedus goral) beschrieben, die sich bei Bedrohung auf die Hinterbeine stellt und ein pfeifendes Geräusch von sich gibt.

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Erschienen am 30. November 1990 in der ZEIT