Kennen Sie den Witz mit dem Mann, der, von starkem Kopfschmerz geplagt, sein
Gehirn zu einem Arzt bringt, es dann aber nicht abholt mit der Begründung, er
brauche es nicht mehr, bei ihm sei eine Begabung zum Tenor entdeckt worden?
PLACIDO DOMINGO: Den Witz kenne ich nicht, aber ich weiß, was Sie meinen.
Ist an dem Vorurteil etwas richtig, die Tenöre seien die Dümmsten unter den
Sängern?
Domingo: Sicher gibt es dumme Tenöre, aber auch dumme Baritone. Allerdings ist
ein Tenor, der dumm ist, dieses in besonderem Maße. Denn auf der Bühne ist er
meistens der Held, und wenn er nicht genug Klugheit besitzt, diese Rolle von
seinem privaten Ego zu trennen, dann hält er sich auch im Leben für einen Helden.
Hinzu kommt der Erfolg, der ihn verblendet, bis er schließlich durch alles zusammen
so blöd wird, daß sein Kopf aufhört zu funktionieren. Er weiß dann nicht mehr,
wo er sich in Wahrheit befindet. Er sieht die Realität nicht. In früheren Zeiten
war es oft so, daß italienische Tenöre aus der Provinz direkt an die Metropolitan
Opera nach New York geholt wurden. Die fanden sich plötzlich in einer Riesenstadt
und hatten Riesenerfolg. Das konnten die nicht verkraften.
Ist das eine Anspielung auf Ihren Rivalen Luciano Pavarotti, der in Modena als
Sohn eines Bäckers aufwuchs?
DOMINGO: Nein, ich meine niemand bestimmten. Ich betrachte mich als Freund aller
Tenöre. Es gab zwar kürzlich diese Kontroverse mit Pavarotti, da stand im "Time-Magazine",
er habe gesagt, ich sei eine blasse Persönlichkeit mit einer unscharfen Stimme,
also das war schon recht delikat, das hat mich geärgert. Aber ich will es vergessen.
Ich könnte eine Menge über ihn sagen, aber ich bin nicht gerne ein Schwätzer.
Sich zur Wehr setzen heißt ja nicht schwätzen.
DOMINGO: Mister Pavarotti ist eifersüchtig. Er erträgt es nicht, daß ich jünger
bin. Ich werde im Januar vierzig. Er ist sechs Jahre älter. Aber ich kann ihm
nicht helfen. Was er neuerdings über mich redet, ist wirklich absurd. Ich bin,
wie jeder weiß, Spanier, und meine ganze Familie ist spanisch. Aber Herr Pavarotti
und seine Plattenfirma behaupten, meine Mutter stamme aus Illinois, und ich
sei nicht 1941, sondern 1936 geboren. Das ist natürlich kompletter Unsinn. Ich
lache darüber. Wenn es ihn glücklich macht, soll er mich meinetwegen für fünfundfünfzig
halten. Mir ist das egal.
Haben Sie mit ihm über die Sache gesprochen?
DOMINGO: Nein, denn ich gehe ihm aus dem Weg, seit das passiert ist. Ich meine,
die Art, wie er seine Publicity macht, ist so indiskutabel, da will ich nichts
mehr mit ihm zu schaffen haben. Außerdem ist ja wenig Gelegenheit, andere Tenöre
zu treffen, weil mehr als eine große Tenorpartie in einer Oper kaum vorkommt.
Kann es sein, daß Pavarotti, der 150 Kilo wiegt, Sie um Ihr besseres Aussehen
beneidet?
DOMINGO: Daß er so fett ist, daran ist er ja selbst schuld. Wenn Sie Fotos sähen,
wie er vor zwölf Jahren aussah, würden Sie staunen. Er war ganz dünn. Aber er
ißt zuviel. Würde ich es so machen wie er, würde ich genauso aussehen. Ich esse
sehr gerne, besonders die schweren Sachen, Soßen und Teiggerichte, und ich trinke
gern Bier. Aber ich habe kein Bier mehr angerührt seit letzten November. Man
muß sich disziplinieren. Ich war vor sechs jahren auf 110 Kilo. Dann habe ich
eine Diät gemacht. jetzt wiege ich einundneunzig. Das ist immer noch problematisch.
Ich möchte herunter auf fünfundachtzig, weil ich einen Film in Ägypten mache,
»Aida« mit Zeffirelli, da muß ich schlank sein.
Braucht die Stimme als Stütze nicht eine gewisse Fülle des Körpers?
DOMINGIO: Das ist nur eine Ausrede, um nicht abnehmen zu müssen. Ich singe viel
besser, seit ich weniger wiege. Ich atme leichter. Man muß nicht dick sein,
um singen zu können. Man muß stark sein. Man darf am Tag vor einer Vorstellung
nicht bis sechs Uhr früh ausgehen oder eine Party besuchen. Ich gehe zeitig
ins Bett und stehe so spät auf wie möglich.
Ist es nötig, sich sexuell einzuschränken?
DOMINGO: Mein Sexualleben ist nicht anders als das eines völlig normalen Menschen.
Ein Beamter, der morgens um neun in sein Büro muß, kann auch nicht jede Nacht
bei einer Frau sein. Man muß den Sex mit Vernunft betreiben.
Heißt das, Sie schonen sich, um auf der Bühne voll da sein zu können?
DOMINGO: Ich schone mich nicht. Ich bin vernünftig.
Die australische Sopranistin Joan Sutherland hat einmal gesagt, nichts sei erotischer
als die hohen, kraftvollen Töne einer männlichen Stimme. Haben Sie dafür eine
Erklärung?
DOMINGO: Darüber müssen Sie mit Frau Sutherland sprechen. Ich denke nicht an
Erotik, während ich singe. Ich denke an Liebe. Ich liebkose das Publikum mit
meiner Stimme. Ich gebe Zärtlichkeit. Wollen Sie das als erotisch bezeichnen?
Wie sonst?
DOMINGO: Okay, dann ist nichts so erotisch wie ein Abend auf einer Opernbühne.
Spielt dabei die Partnerin eine Rolle, mit der Sie singen?
DOMINGO: Natürlich ist ein Unterschied, ob ich mit Montserrat Caballé auf der
Bühne stehe, die zwar ein wunderschönes Gesicht hat, aber einen Körper wie eine
Tonne, oder mit, sagen wir, Renata Scotto, die auch körperlich eine schöne Frau
ist. Ich verhalte mich entsprechend den Möglichkeiten. Als ich einmal Montserrat
Caballé dabei überraschte, wie sie haufenweise Eis mit heißer Schokolade verzehrte,
sagte sie, sie sei nach der Vorstellung immer so hungrig. Das ist natürlich
nicht die richtige Art, schlank zu bleiben. Ich finde, man hat als Sänger heute
die Pflicht, sich in Form zu halten. Denn wenn man die Jugend dazu bringen will,
häufiger in die Oper zu gehen, dürfen nicht lauter dicke, alte Leute auf der
Bühne herumstehen. Es gibt, auch was das Alter betrifft, eine Grenze. Ich werde
noch zehn Jahre singen, dann bin ich fünfzig. Dann werde ich nur noch als Dirigent
auftreten. Ich bin auf das Ende meiner Sängerkarriere gut vorbereitet, weil
ich das Dirigieren studiert und auch schon ausgeübt habe. Mein Dirigenten-Debüt
war 1973 an der City Opera in New York. Ich will nicht als Greis immer noch
junge Helden spielen.
Auch dann nicht, wenn die Stimme noch da ist?
DOMINGO: Auch dann nicht. Ich habe letztes Jahr in Wien eine »Fledermaus« dirigiert
mit Hans Beirer. Der ist fast siebzig. Das finde ich furchtbar.
Aber was soll jemand machen, der nichts anderes gelernt hat als Singen?
DOMINGO: Der kann ja als Konzertsänger weitermachen.
Was ist für Sie intellektuell die größere Befriedigung, zu dirigieren oder zu
singen?
DOMINGO: Zu dirigieren.
Ist während des Singens der Verstand ausgeschaltet?
DOMINGO: Nein. Ich vergesse nie, daß ich mich auf einer Bühne befinde. Ich weiß
immer, es ist eine Rolle, die ich zu spielen habe. Nur manchmal, wenn alles
so läuft, wie ich wünsche, wenn die Stimme ganz da ist, dann kann ich für Augenblicke
so vollkommen mit der Figur verschmelzen, daß der Kopf wirklich leer ist. Dann
denke ich nur, was ich gerade zu sagen habe, an die Worte und an die Gefühle,
die ich zum Ausdruck bringe. Es gibt Sänger, die denken immer nur daran, ob
sie einen bestimmten Ton richtig herausbekommen, zum Beispiel Franco Corelli,
der denkt nur an die Stimme, der kann sich überhaupt nicht verlieren. Der steht
in einem Liebesduett von seiner Partnerin zehn Meter entfernt, ohne sie auch
nur anzusehen. So sehr ich ihn als Sänger bewundere, als Darsteller ist er nie
gut gewesen.
Vielleicht liegt das daran, daß er Angst hat, seine Stimme könnte versagen.
Er hat ja über diese Angst oft gesprochen.
DOMINGO: Ich weiß. Aber ich halte das für stark übertrieben. Ich habe herausgefunden,
daß die Angst vieler Sänger um ihre Stimme nicht wirklich Angst ist, sondern
bloß Eitelkeit. Denn was passiert schon, wenn etwas schiefgeht? Warum sind Sänger
wie Corelli so schrecklich ängstlich wegen einer einzigen Note? Ich glaube,
diese Hysterie wird manchmal erfunden, um sich interessanter zu machen. Wenn
jemand in jeder Sekunde alles gibt, was er hat, muß er nicht fürchten, daß ihn
das Publikum fallenläßt, nur weil er einmal kein hohes C hat. Natürlich ist
es schlecht, wenn man, wie Pavarotti das tut, seine ganze Publicity darauf aufbaut,
diese eine Note zu haben. Denn wenn sie so jemand dann einmal nicht hat, ist
es vielleicht das Ende seiner Karriere. Deshalb ziehe ich es vor, mich für einen
Künstler zu halten, der nicht wegen seiner hohen Töne geliebt wird. So kann
ich ganz entspannt sein. Wenn es einmal nicht so klappt an einem Abend, wird
das Publikum mir verzeihen, und wenn es mir nicht verzeiht, auch gut. Deshalb
verliere ich nicht das Leben.
Nein, nicht das Leben, aber die hohen Gagen.
DOMINGO: Das stimmt nicht. Ich werde nicht dafür bezahlt, diese eine Note zu
singen, sondern dafür, wie ich einen Charakter darstelle, für meine Intelligenz,
meine Stimme und auch diese Note. Wenn jemand nur für mein hohes C zahlt, singe
ich nicht.
Dann hätten Sie an der Metropolitan Opera, als Rudolf Bing dort der Chef war,
nicht singen dürfen. Denn für Bing war nichts so wichtig wie eine sichere Höhe.
Sie allein, so Bing, rechtfertige Spitzengagen.
DOMINGO: Ich habe an der Met vieles getan, was ich heute nicht mehr tun würde.
Ich habe dort 1974 eine Vorstellung des »Troubadour« gesungen, obwohl ich eine
furchtbare Erkältung hatte. Ich wollte absagen, aber man erlaubte es nicht.
Man zwang mich zu singen. Das war sehr grausam, nicht wegen des Mißerfolgs,
den ich glücklicherweise dann gar nicht hatte, denn das wäre nur ein Schaden
für mein Selbstbewußtsein gewesen, das geht vorüber, sondern weil ich den Verlust
meiner Stimme riskierte. Ich hatte zu dieser Zeit noch nicht die Kraft, nein
zu sagen. Heute wäre das anders.
In einem Interview mit dem Amerikaner Alan Rich sagten Sie, an diesem Abend
sei Ihnen klar geworden, daß manche Leute in die Oper gehen, so wie die alten
Römer ins Kolosseum gingen, um zu sehen, wie man die Christen den hungrigen
Löwen vorwarf.
DOMINGO: Das habe ich nicht gesagt. Das Zitat wurde falsch wiedergegeben. Ich
habe gar keinen Grund, das Publikum für so gefühllos zu halten. Ich bin in meiner
Karriere nie ausgebuht worden.
Auch nicht bei Ihrem Met-Debüt 1968, als Sie in Cileas »Adriana Lecouvreur«
für den kranken Corelli einsprangen? Darüber war zu lesen, Corellis Anhänger
hätten Sie mit lautem Protest empfangen.
DOMINGO: Im Gegenteil. Als der Sprecher ankündigte, daß anstelle von Corelli
nun ich singen würde, erlebte das Haus die größte Ovation, die es je hatte.
Was da geschrieben wurde, ist reine Erfindung.
Gab es an der Met überhaupt eine Claque für Corelli?
DOMINGO: Nein, eine Claque gibt es heute nur noch an der Mailänder Scala, was
furchtbar ist, aber unumgänglich. Man muß eine haben, nicht um Applaus zu bekommen,
sondern um gewisse Leute nicht gegen sich einzunehmen. Da gibt es einen Mann,
der kommt ganz offiziell, autorisiert vom Theater, den muß man bezahlen oder
ihm zumindest etwas zu trinken geben. Mich macht das verrückt. Ich sage immer:
Ich will Ihren Applaus nicht. Ich will meinen Erfolg vom Publikum haben. Aber
was soll ich machen? Die Claque hat Mailand ruiniert. Das Publikum hat dort
gar keine Lust mehr zu klatschen, weil alle denken, warum sollen wir klatschen,
wenn sowieso die Claque so viel Lärm macht? Das ist eine absolut automatische
Einrichtung geworden. Diese bezahlten Leute gehen zu jedem, sogar zu einem Sänger,
der da als Wozzeck auftritt, obwohl es in dieser Oper gar keine Arien gibt,
denen man applaudieren könnte.
Als Sie in Hamburg Ihren ersten Othello sangen, haben Sie an die Zuschauer,
die um Karten anstanden, Champagner verteilt. Könnte man das nicht als Bestechung
auffassen?
DOMINGO: Nein. Das habe ich auch in München gemacht. Diese Leute stehen oft
mehrere Tage. Die kommen zu jeder Vorstellung, in der ich singe. Das sind meine
Freunde. Wir haben eine nette Konversation miteinander. Ich rede mit denen,
beantworte Fragen. Das ist eine vollkommen harmlose Sache.
Fragen die auch, wieviel Sie verdienen?
DOMINGO: Wir sprechen über Kunst, nicht über Geld.
Wie hoch ist Ihre Abendgage?
DOMINGO: Das wechselt. Das hängt von den Umständen ab, von der Anzahl der Abende,
die ich singe. Es stört sehr, darüber zu sprechen. Ich verstehe die Neugier,
aber was herauskommt, ist manchmal sehr irreführend. Denn wenn man liest, Domingo
kassiert 25000 Mark für einen einzigen Auftritt, denken die Leute, das verdiene
ich netto und jeden Abend, also 25000 Mark mal 365, du lieber Gott! Die Wahrheit
ist, daß ich höchstens sechzehnmal im Jahr diese Gage bekomme. Meistens singe
ich für viel weniger, weil sich die Theater das gar nicht leisten können. In
Belgrad habe ich den Cavaradossi in »Tosca« für 4000 Mark gesungen. Als ich
in Hamburg den »Lohengrin« sang, verdiente ich 800 Mark pro Abend. Rolf Liebermann,
der damals dort Intendant war, sagte, ich sei der billigste Sänger, mit dem
er je zu tun gehabt habe, denn ich verlange fast gar nichts, aber das Theater
sei immer voll, wenn ich singe. Ich bin dann zu ihm gegangen und habe gesagt:
Seien Sie vorsichtig mit solchen Sätzen. Von da an ist meine Gage immer höher
geworden. Das ist ein Marktmechanismus. Das wächst von alleine. Aber Sie dürfen
nicht vergessen, dreißig Prozent gehen weg für die Steuer, zehn, manchmal fünfzehn
Prozent für den Agenten, und da ich, wenn ich gastiere, nicht in einem Loch
wohnen kann, ungefähr zweihundert Mark pro Tag für ein Zimmer.
Wieviel bleibt da übrig als Jahreseinkommen?
DOMINGO: Nehmen wir an, ich singe 60 Vorstellungen und bekomme pro Vorstellung
10000 Mark netto, das ergibt 600 000 Mark, eine Menge Geld, und ich gebe zu,
es macht Spaß, es zu haben.
Sie vergessen, was Sie mit den Schallplatten verdienen.
DOMINGO: Damit verdient man fast gar nichts. Mit Schallplatten sind im Jahr
maximal 40000 Mark zu verdienen, obwohl es die Arbeit ist, die ich am wenigsten
liebe. Ich singe nicht gerne in einem Studio. Ich brauche das Publikum.
Warum tun Sie es dann?
DOMINGO: Damit etwas bleibt für die Nachwelt. Wenn man ein Star ist, muß man
den Menschen, die nachher kommen, eine Erinnerung lassen. Außerdem ist es eine
gute Altersversorgung.
Heißt das, Sie planen schon jetzt Ihren Lebensabend?
DOMINGO: Ich bin ein Mensch, der vorausschaut.
In diesem Punkt unterscheiden Sie sich völlig von Pavarotti, über den sein Freund
und Plattenproduzent Terry McEwen gesagt hat, er rechne, wie alle zu Korpulenz
neigenden Menschen, nicht damit, alt zu werden. Das sei auch der Grund, warum
er so aus dem vollen schöpfe.
DOMINGO: Den Tag, an dem man stirbt, kann niemand voraussehen. Es gibt in Spanien
ein Sprichwort, das sagt, die zwei ungewissen Dinge im Leben seien der Tod und
wann man zu essen bekomme. Wenn Sie in Spanien jemand zum Mittagessen einlädt,
und Sie kommen pünktlich um eins, dann geschieht zuerst gar nichts, um zwei
Uhr bekommen Sie einen Drink, um halb vier fragen Sie den Gastgeber, wann denn
nun das Essen beginne, und erhalten die Antwort, das wisse er nicht, das sei
genauso ungewiß wie der Zeitpunkt des Todes. Auch korpulente Menschen sind manchmal
sehr alt geworden. Ich liebe das Leben, und weil ich es liebe, mache ich Pläne
für den Fall, daß ich, wie ich hoffe, sehr lange lebe.
Stört es Sie, wenn ich das als spießig empfinde?
DOMINGO: Nein, denn es ist nicht spießig. Ich bin auf künstlerischem Gebiet
vollkommen unökonomisch. Ich gebe stimmlich und gefühlsmäßig jeden Abend das
letzte, früher manchmal drei Abende hintereinander. 1500 Vorstellungen in achtzehn
Jahren: So viel hat vor mir noch niemand gesungen, nicht einmal Caruso in den
26 Jahren seiner Karriere. Ich habe über hundert Stunden auf Platten besungen
und war an dreißig Opernaufzeichnungen für das Fernsehen beteiligt. Außerdem
habe ich eine Reihe von Filmangeboten. Als Pavarotti das hörte, hat er sofort
auch einen Filmvertrag unterschrieben. Er macht mir jetzt alles nach. Aber mir
soll es recht sein. Eine gewisse Konkurrenz kann nicht schaden. Das ist wie
im Spitzensport. Ein Athlet will zuerst die 5000 Meter gewinnen, dann die 10000
Meter, dann die Marathonstrecke. Aber wenn niemand da ist, der gegen ihn antritt,
wird das kaum jemanden interessieren. Ich bin etwas besorgt darüber, daß heute
so wenig junge Tenöre da sind, denn, sehen Sie, im italienischen Fach gibt es
außer Pavarotti und mir nur noch José Carreras, der zur Spitze gezählt wird,
und der ist auch schon weit über dreißig.
Ist das für Sie nicht ein Vorteil?
DOMINGO: Auf diesen Vorteil kann ich verzichten. Für die Sache der Oper wäre
es besser, wenn es mehr Wettbewerb gäbe.
Waren Sie schon als Kind jemand, dem es Freude machte, seine Kräfte im Wettkampf
zu messen?
DOMINGO: Meine Kindheit war sehr geprägt von sportlichen Interessen. Ich wollte
Fußballer oder Torero werden. Ich war Torhüter in einer Knabenmannschaft. Daß
ich Musik liebte, war naheliegend, weil meine Eltern in einer Zarzuela-Truppe
auftraten. Das ist eine Art spanische Operette. Aber an das Singen als Beruf
dachte ich zunächst überhaupt nicht. Als eines Tages mein Freund zu mir sagte,
Placido, du kannst Oper singen, antwortete ich, er solle sich nicht über mich
lustig machen. Aber dann habe ich mich doch überreden lassen und bin zu einem
Vorsingen in die Oper gegangen. Wir wohnten damals in Mexico City. Ich wurde
sofort angenommen. In diesem Augenblick schwor ich mir: Jetzt mußt du der Größte
werden. Mein Ziel war, an der Met zu singen, bevor ich dreißig sein würde, und
ich sang dort mit siebenundzwanzig, und ein Jahr später hatte ich mein Debüt
an der Scala. Damit hatte ich alles erreicht, was ich wollte.
Worauf kann Ihr Ehrgeiz sich jetzt noch richten?
DOMINGO: Ich möchte ein paar Opern probieren, die ich noch nicht gesungen habe,
Wagner vor allem: Parsifal, Tristan.
Den Tristan hatten Sie schon für letztes Jahr angekündigt. Haben Sie Angst bekommen?
DOMINGO: Es ist noch zu früh. Ich habe die Partitur gelesen und erkannt, daß
ich dafür noch zu jung bin. Ich würde riskieren, das italienische Repertoire
aufgeben zu müssen. Da warte ich lieber noch ein paar Jahre.
Eine andere Lieblingsidee, die Sie hatten, war Don Giovanni.
DOMINGO: Ja, aber das war nur so ein verrückter Gedanke. Die Rolle ist ja für
Bariton, nicht für Tenor geschrieben. Ich war eine Zeitlang der Meinung, daß
ich mich besser als Bariton eignen würde. Ich dachte, mir fehlt die Höhe.
Es gibt Leute, die das noch heute denken.
DOMINGO: Unsinn. Ich habe als Tenor alle großen Partien gesungen. Die Italiener
haben vielleicht mehr Metall in der Stimme. Wir Spanier haben ein weicheres
Timbre, mehr Samt in der Mittellage. Das ist auf der einen Seite ein Nachteil,
weil Sie nie müde sein dürfen. Metall klingt immer, auch wenn Sie einmal nicht
so in Form sind. Auf der anderen Seite ist es ein Vorteil, weil ich mehr Spielraum
habe. Ich bin variabler. Ich kann die Farbe wechseln. Das ist für die dramatischen
Partien, zum Beispiel Othello, von großem Nutzen.
Als Othello brauchen Sie aber das hohe C nicht.
DOMINGO: Nein, aber ich brauche es in »Turandot«, ich brauche es in »Manon Lescaut«,
ich brauche es nicht in »Maskenball«, aber ich singe es trotzdem. Ich
könnte es singen in »La Bohème«, aber ich setze es meistens einen halben Ton
tiefer und singe ein H stattdessen. Ich werde es nächstes Jahr brauchen in »Norma«,
und ich bin zuversichtlich, daß ich es schaffen werde. Es gibt Partituren, wo
die Komponisten offengelassen haben, ob man es singt oder nicht singt. In manchen
Fällen ist es Tradition geworden, die ganze Arie eine halbe Note herunterzusetzen.
Caruso hat das hohe C nie gesungen. Er hat es auf manchen Platten, aber auf
der Bühne hat er es weggelassen. Wissen Sie, diese Note ist so ein Symbol geworden,
aber in Wirklichkeit bedeutet sie gar nichts. Kein Mensch merkt, wenn Sie einen
halben Ton tiefer singen, und es gibt niemanden, der das nicht tut, eingeschlossen
Herr Pavarotti, der in Amerika eine Fernsehsendung gemacht hat mit dem Titel
»Der König des hohen C«, aber dann lauter Arien sang, in denen es gar nicht
vorkam. Er hat es auch in »Bohème« nicht gesungen. Ich finde, man sollte nicht
sagen, daß man jedes hohe C singt, und dann tut man es gar nicht.
Gibt es Partien, in denen es unmöglich ist auszuweichen?
DOMINGO: Ja, das sind die Partien, die ich nicht singe, »Wilhelm Tell« von Rossini,
da sind vierzehn hohe Cs drin, Bellinis »Puritaner« oder »Die Regimentstochter«
von Donizetti. Es gibt Opern, für die es absolut notwendig ist, das hohe C zu
beherrschen. Mir ist das egal. Ich muß es nicht haben. Aber das Merkwürdige
ist, daß ich von Jahr zu Jahr besser werde. Mir passiert es in letzter Zeit
häufig, daß ich während einer Vorstellung fühle, ich könnte es singen, aber
dann ist es zu spät. Man muß es vorher wissen. Man muß mit dem Dirigenten vereinbaren,
ob man es singt oder wegläßt, denn wenn mitten in einer wunderschönen Passage
eine Note falsch kommt, zerstören Sie alles. Deshalb verzichte ich lieber einmal
zuviel als einmal zu wenig.
Wer sagt Ihnen vor Beginn einer Vorstellung, ob Sie zwei Stunden später das
hohe C singen können?
DOMINGO: Das sagt mir niemand. Das muß ich fühlen.
Gibt es da keine Anhaltspunkte?
DOMINGO: Nein, das ist Zufall. Was in einer Kehle vor sich geht, während Sie
singen, ist sehr schwer durchschaubar, und ich habe mich auch nie besonders
bemüht, es zu durchschauen. Ich weiß, was ein verdeckter und was ein offener
Ton ist, aber es interessiert mich nicht, welche Muskeln ich beim Singen bewege.
Es ist intuitiv. Ich möchte mir den Glauben an die Magie der Stimme bewahren.
Das ist auch der Grund, warum ich mich so selten von einem Arzt untersuchen
lasse. Ich mag es nicht, wenn jemand in meine Kehle hineinlangt. Manche Sänger
können nur auftreten, wenn sich ein Arzt in der Nähe befindet. Die reisen immer
mit ihren Ärzten, auch wenn sie vollkommen gesund sind. Ich bin das Gegenteil.
Ich brauche Ruhe, sonst gar nichts. Mir genügt es, wenn ich am Tag vor einer
Vorstellung viel schlafe und mit niemandem spreche.
Auch mit Ihrer Frau nicht?
DOMINGO: Doch, das Nötigste, aber flüsternd.
Caruso inhalierte die Dämpfe von Salzwasser, bevor er auftrat. Was machen Sie,
um sich fit zu halten?
DOMINGO: Es gab eine Zeit, da habe ich vor der Vorstellung und zwischen den
Akten einen Schluck Whisky mit Zucker genommen, später dann Honig statt Zucker
und wieder später Pernod statt Whisky. Heute trinke ich Wasser. Wenn man ausgeruht
ist, braucht man die Tricks nicht.
Beten Sie vor dem Auftritt?
DOMINGO: Ja, ich bete zur heiligen Cäcilia, der Schutzpatronin der Sänger. Ich
bitte sie, mir die Kraft zu geben, den Genius der Musik an das Publikum weiterzuleiten.
Ich trage immer ein Gebetbuch in meiner Tasche.
Glauben Sie an ein Jenseits?
DOMINGO: Ich bin mir nicht sicher.
Aber wo sonst soll die heilige Cäcilia Ihre Gebete hören?
DOMINGO: Moment, warten Sie! Ich will es Ihnen erklären. Es ist nicht so, daß
ich an gar nichts glaube. Nur, ich glaube nicht an die Hölle. Ich glaube, daß
der Teufel tot ist. Aber ich bin sicher, es gibt einen Himmel.
Und wohin kommen die Bösen?
DOMINGO: Nirgendwohin. Die haben keinen Platz. Die verschwinden.
Haben Sie eine Vorstellung, was mit Ihnen geschehen wird, wenn Sie tot sind?
DOMINGO: Das kann nur Gott entscheiden.
Schuyler Chapin, der bis 1975 Direktor der Met war, äußerte einmal einem Journalisten
gegenüber, er halte es für ganz ausgeschlossen, über Sie einen spannenden Artikel
zu schreiben. Dafür seien Sie ein zu netter Junge. Fassen Sie das als Kompliment
auf?
DOMINGO: Nein, das ist Dummheit. Wenn Sie die richtigen Fragen stellen, können
Sie eine Menge aus mir herausbekommen.
Welche Fragen?
DOMINGO: Fragen Sie mich nach meinen Hobbys. Ich bin ein fanatischer Golfspieler.
Ich schwimme gerne. Ich spiele Tennis. Ich liebe Autorennen. Wissen Sie, was
ich heute so traurig finde, ist, daß man durch die Presse so wenig erfährt über
die Sänger. Da wird immer geredet über den Tod der Oper. Aber nichts geschieht,
um sie lebendig zu halten. Man müßte mehr Werbung machen. Unlängst, als dieser
unglaublich ungekämmte Sänger aus Jamaika, ich komme jetzt nicht auf den Namen,
in Deutschland auftrat, wurden sofort Reporter zum Flughafen geschickt, und
am nächsten Tag stand es schon in der Zeitung. Aber wenn Birgit Nilsson nach
München kommt, da schreibt keiner, weil man denkt, die Oper sei etwas Seriöses
für die besseren Leute. Der deutsche Staat steckt Millionen in seine Opernhäuser.
Ich bin überzeugt, man könnte Privatgesellschaften finden, die Opern aufführen,
wenn man an diesem seriösen Image nicht so festhalten würde. Glauben Sie nicht,
man müßte etwas mehr tun für die Popularisierung der Oper?
Ich glaube, das Problem liegt woanders. Bob Marley, von dem Sie sprechen, macht
die Musik von heute. Opern, die modern und gleichzeitig populär sind, sucht
man vergeblich.
DOMINGO: Das stimmt. Deshalb habe ich mich auch immer geweigert, moderne Opern
zu singen. Die einzige Ausnahme war 1966 »Don Rodrigo« von Ginastera zur Eröffnung
der neuen City Opera in New York. Aber das konnte auch nur passieren, weil ich
die Partitur nicht rechtzeitig gelesen hatte. Ich mag diese moderne Musik nicht,
zum Beispiel Alban Bergs »Lulu«. Da gibt es die schönsten Passagen während des
Szenenwechsels, aber sobald die Sänger auftreten, ist auf einmal die Melodie
weg. Ich frage mich: Warum soll man dann überhaupt singen? Ich hatte ein Angebot
für Schönbergs »Moses und Aron«. Ich sage ganz ehrlich, als die Aufführung abgesagt
wurde, war ich erleichtert. Finden Sie es sinnvoll, diesen Sprechgesang mitzumachen?
Das ist vielleicht etwas für Masochisten. Als man Cesare Siepi, den berühmten
Bassisten, fragte, was er gegen die Komponisten von heute hätte, antwortete
er: Was haben die gegen uns? Aber es gibt ja ein großes Repertoire alter Opern,
die man aufführen könnte. Es ist so viel geschaffen worden, was nicht gespielt
wird.
Glauben Sie, daß die Menschen von heute etwas anfangen können mit den Inhalten
dieser Opern?
DOMINGO: Ich bin ganz sicher. Ich habe die Erfahrung gemacht, daß junge Leute
diese Geschichten lieben. Es ist nicht nötig, Opern zu schreiben über das wirkliche
Leben, denn das Leben ist so kompliziert und so schwierig, da will man nicht
auch noch im Theater daran erinnert werden. Die Menschen wollen keine Opern
über Terrorismus oder Krebs oder Drogensucht. Die wollen diese ganz simplen,
alten Dreiecksgeschichten über Liebe und Eifersucht, und da ist es auch ganz
egal, in welchem Milieu sich das abspielt. Das kann ruhig überholt sein. Jeder
Mensch braucht von Zeit zu Zeit die Verzauberung, um den Alltag vergessen zu
können, und diese Verzauberung gibt ihm die Oper.
Sie meinen, die Oper als eine Art Ersatztrip?
DOMINGO: Ja, aber auf diesen Trip kann man getrost gehen, weil er niemandem
schadet. Wenn Sie das mit einem Open-air-Konzert irgendeiner Popgruppe vergleichen,
da kommen 100 000 Menschen, aber die hören gar nicht der Musik zu, sondern rauchen
Hasch oder nehmen Drogen. Ich bin nicht gegen diese Musik, aber gegen das, was
sie auslöst. Wenn Musik berauschend ist, finde ich das sehr nützlich, aber wenn
sie dazu führt, daß man Rauschgift nimmt, ist sie gefährlich. Ich habe es nicht
nötig, irgendwelche Rauschmittel zu nehmen, denn ich habe genügend Aufregungen
auf der Bühne. In meinem Privatleben bin ich so, wie ich heiße, placido domingo,
ein ruhiger Sonntag. Ich versuche aus dem Leben etwas Positives zu machen. Es
gibt auch auf dem Theater sehr böse Menschen. Es gibt Kollegen, die kommen zu
einem und erzählen, ein anderer Tenor sei beim Publikum durchgefallen. Darauf
antworte ich, daß mich das nicht interessiert. Ich werde nicht besser, wenn
ein anderer schlecht ist. Ich freue mich, wenn jemand Erfolg hat, weil ich weiß,
wie wichtig er für mich selbst ist.
Können Sie beschreiben, was Sie empfinden, wenn im Zuschauerraum der Jubel losbricht?
DOMINGO: Das ist phantastisch. Ich finde es schade, daß heute in manchen Programmheften
steht, man solle die Vorstellung nicht mit Applaus unterbrechen. Besonders in
Amerika ist das üblich. Ich versichere Ihnen, kein Sänger fühlt sich gestört,
wenn ihm das Publikum nach einer Arie Ovationen bereitet. Früher, zu Verdis
Zeiten, ist es vorgekommen, daß eine bestimmte Stelle bis zu dreimal wiederholt
werden mußte. Natürlich hängt es davon ab, ob der Sänger die Kraft hat, eine
Arie zweimal zu singen. Ich habe es erst kürzlich in Wien wieder gemacht als
Cavaradossi, und ich schwöre Ihnen, es gab keine Wahl. Ich habe fünf Minuten
gewartet, aber der Jubel wollte kein Ende nehmen. Ich mußte es tun. Seit Caruso
und Gigli hat es eine solche Begeisterung in Wien nicht mehr gegeben. Ich mußte
weinen vor Rührung.
Konnten Sie trotzdem weitersingen?
DOMINGO: Ja, ich habe gelernt, meinen Atem unter Kontrolle zu halten, auch wenn
ich weine, seit mir in Madrid während einer Aufführung von Ponchiellis »La Gioconda«
vor lauter Tränen die Stimme wegblieb. Ich habe auch in Salzburg geweint bei
»Hoffmanns Erzählungen« und natürlich in »Traviata«. Praktisch weine ich jeden
Abend. Ich muß auch als Zuschauer jedesmal weinen. Manchmal ist es nur eine
Geste, manchmal ein Paukenschlag, manchmal das Cello, das meine Gefühle zur
Explosion bringt. Ich bin sehr sentimental veranlagt. Die Rollen, die ich am
meisten liebe, sind die, in denen ich wirklich leide, zum Beispiel Don José
in »Carmen« und natürlich Othello.
Leiden Sie auch außerhalb des Theaters?
DOMINGO: Sehr selten. Man kann das nicht fortsetzen im gewöhnlichen Leben.
Was würden Sie tun, wenn Sie dahinterkämen, daß Ihre Frau ein Verhältnis mit
einem anderen Mann hat? Als Don José müßten Sie sie ermorden.
DOMINGO: Ich bin eine zivilisierte Person, ich würde sie nicht ermorden. Ich
würde ihr vergeben oder mich scheiden lassen. Die Geschichten, die ich auf der
Bühne erlebe, haben mit der Realität nichts zu tun. Wir haben ja heute die freie
Ehe. Deshalb halte ich es für wichtig, daß die jungen Leute mehr in die Oper
gehen, damit sie sehen, wie streng in früheren Zeiten die Bräuche waren, und
ihre Freiheit nicht dazu verwenden, alles kaputtzuschlagen. Ich mußte bis zu
meinem 21. Lebensjahr jeden Abend um acht Uhr zu Hause sein. Ich durfte nicht
ausgehen. Meine Eltern waren meistens auf Reisen, aber ich hatte eine sehr strenge
Tante, die hat mich fast täglich verprügelt. Trotzdem liebte ich sie. Man darf
den Kindern nicht alles durchgehen lassen.
Stimmt es, daß Sie schon mit sechzehn Jahren geheiratet haben?
DOMINGO: Ja, stimmt. Das war meine erste Ehe. Mit siebzehn wurde ich Vater.
Wie war das möglich bei einer so strengen Erziehung?
DOMINGO: Das war ganz normal. Dieses Mädchen ging mit mir in dieselbe Schule.
Ich dachte, ich sei verliebt. Aber es war dann doch nicht die große Liebe. Schon
nach einem Jahr sind wir auseinander gegangen. 1959 lernte ich meine zweite
Frau kennen. Mit der bin ich noch heute zusammen.
Sind Sie ein treuer Gatte?
DOMINGO: Meine Frau sagt, wenn ich sie betrüge, dann betrügt sie auch mich.
Sie könnte, wenn sie wollte, jede Nacht einen anderen haben. Also halte ich
mich zurück, weil ich weiß, was auf dem Spiel steht.
Macht Ihnen das Schwierigkeiten?
DOMINGO: Es ist nicht immer einfach, denn wenn man einen öffentlichen Beruf
hat, lebt man wie in einem Schaufenster, und die Fans sind ja meist weiblich.
Die schreiben Briefe, bitten um Autogramme, schicken Blumen oder andere Gegenstände.
Ich habe eine ganze Kollektion von Schals aus allen möglichen Ländern, weil
sich die Leute Sorgen um meine Kehle machen. Manchmal bekomme ich auch Gedichte.
Etwas sehr Amüsantes ist mir in Wien passiert. Da kamen drei junge Mädchen in
meine Garderobe und fragten, ob sie mich nach der Vorstellung allein treffen
könnten. Ich bat meine Frau um Erlaubnis. Sie war einverstanden. Also habe ich
die Mädchen getroffen, aber alles, was geschah, war, daß sie mir ein paar Lieder
vorsingen wollten.
Hatten Sie mehr erwartet?
DOMINGO: Ich hatte gar nichts erwartet. Ich erzähle das nur, um Ihnen ein Beispiel
zu geben, was ich mit meinen Fans so alles erlebe.
Genießen Sie es, verehrt zu werden?
DOMINGO: Ich bin da sehr vorsichtig. Natürlich ist es nett zu hören, daß man
auf der Bühne ein Gott ist. Früher, wenn einer gut boxen konnte, hieß es gleich:
ein neuer Joe Louis. Heute ist er ein Muhammad Ali. Ein guter Tenor, sagt man,
singt wie Caruso. Aber das sind nur Worte. Das hat nichts zu bedeuten.
Könnten Sie sich vorstellen, daß man in hundert jahren über einen Tenor sagt,
er singt wie Domingo?
DOMINGO: Nein, ich glaube, Caruso wird bleiben. Die Voraussetzungen, ein Mythos
zu werden, sind heute nicht günstig. Wenn Caruso irgendwo auftrat, war das für
die ganze Stadt ein Ereignis. Heute steht auf dem Programmzettel ganz oben der
Regisseur, dann der Dirigent, aber die Sänger werden nur aufgezählt in der Reihenfolge
ihres Erscheinens. Da schreiben die Kritiker sechs Spalten über eine Opernpremiere,
aber nur fünf Zeilen über die Sänger. Je ausgefallener eine Inszenierung ist,
desto mehr wird geschrieben. Ich habe einmal in einer »Othello«-Inszenierung
gesungen, da sollte der Jago zu mir eine homosexuelle Beziehung haben. Für die
Journalisten wäre das sehr interessant gewesen. Aber ich hätte mich sehr gestört
gefühlt, denn ich liebe Frauen, nicht Männer. Also hatte ich mit dem Regisseur
eine Auseinandersetzung, und die Sache wurde bereinigt. Ich meine, wenn der
Jago schwul ist, dann darf er es mir nicht zeigen, sonst haue ich ihm eine herunter.
Haben Sie noch mehr solche Geschichten auf Lager?
DOMINGO: Im Moment nicht. Aber wenn Sie mir ein paar Tage zum Nachdenken geben,
fällt mir bestimmt noch was ein.
Kennen Sie die Anekdote über Franco Corelli, der während einer Aufführung von
»Turandot« Birgit Nilsson ins Ohr biß, weil sie im Duett mit ihm den Ton länger
gehalten hatte?
DOMINGO: Ich habe noch nie eine Sopranistin gebissen.
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Erschienen am 25. März 1982 im STERN in einer gekürzten Fassung