Was werden Sie tun, wenn Sie wieder zu Hause sind?*
PETER HANDKE: Ich dämmere vor mich hin.
Sie schreiben nicht?
HANDKE: Irgendwann muß das Dämmern ja aufhören, und dann werde ich wieder
was schreiben.
Wird das ein Theaterstück sein?
HANDKE: Ja, das wird ein Stück sein.
Können Sie schon etwas darüber erzählen?
HANDKE: Das wird ein ziemlich normales Stück, glaub' ich, ich weiß nicht...
Ich hab' mir bis jetzt immer unheimlich viele Notizen gemacht, bevor ich etwas
geschrieben hab'. Jetzt habe ich Lust, ein Stück zu schreiben, das nicht so
aus Notizen besteht und kleinen Beobachtungen, sondern aus einer großen Geste,
aus einem Überschwang, damit das nicht in so Einzelheiten auflösbar ist. Ich
weiß bis jetzt nur den Titel: "Die Unvernünftigen sterben aus".
Was muß geschehen, damit Sie es schreiben?
HANDKE: Ich glaub', es ist schon viel in mir drin, ich müßte mich nur konzentrieren,
aber im Moment bin ich dazu noch nicht fähig. Geschrieben hab' ich noch nichts,
aber ich hab' viel erlebt inzwischen.
Hat das Stück mit dem Selbstmord Ihrer Mutter zu tun?
HANDKE: Ja, unter anderem.
Womit noch?
HANDKE: Ich möchte noch ein letztesmal probieren, auf dem Theater etwas Genaueres,
Schöneres zu erreichen, aus einem Trotz heraus.
Schöner als was?
HANDKE: Ich meine, etwas Menschlicheres als es meine früheren Stücke waren,
etwas nicht so Behauptendes.
Was heißt "menschlich"?
HANDKE: Na, wie soll ich sagen, es wird wahrscheinlich sehr viel gefühlvoller,
unmittelbarer.
Als wir uns das letztemal trafen, erzählten Sie mir, wie der Roman "Die
Angst des Tormanns beim Elfmeter" entstand. Ist Ihnen das Buch noch immer
so nahe wie damals, oder ist es Ihnen inzwischen fremd geworden?
HANDKE: Fremd schon, aber es ist trotzdem lustig, das wieder zu lesen, weil
man sich an viele Sachen erinnert, was so passiert ist, was damals noch an
weißen Stellen im Bewußtsein war.
Können Sie beurteilen, ob Ihnen der Film von Wim Wenders auch dann gefallen
würde, wenn er nicht Ihr Buch zur Grundlage hätte?
HANDKE: Das habe ich mich auch die ganze Zeit gefragt, heute im Kino. Aber
ich habe es nicht geschafft, das von mir abzutrennen. Die privaten Sachen
sind halt so schwer, daß man sich da nicht raushalten kann.
Also können Sie nicht beurteilen, ob der Film gut ist.
HANDKE: Doch, das glaub' ich schon, daß das ein unheimlich reiner, unzerstörbarer
Film ist, da bin ich ganz sicher, daß man dem nichts anhaben kann. Ich find',
daß der eine unheimliche Kraft in sich hat. Das ist einer der wenigen Filme,
an dem nichts Versöhnliches ist, durch den alle Zellen erneuert werden im
Körper. Es ist auch so ein moralischer Film, der einen unheimlich anspornt,
sein Leben zu ändern, um das einmal ganz pathetisch zu sagen, weil es einfach
ein redlicher Film ist in jedem Ton, jedem Blick, das ist alles ganz bewußt,
und nichts ist geschwindelt. Fast alle anderen Filme, die ich kenne, sind
doch irgendwie immer geschwindelt. Ich gehe ja jetzt fast nicht mehr ins Kino,
weil ich einfach so weit ab lebe von einer Großstadt.
Sie wohnen in Kronberg bei Frankfurt. Warum sind Sie dort hingezogen?
HANDKE: Das war der Spielball des Schicksals. Ich würde viel lieber anderswo
leben, in Paris oder so. Ich möchte nur, daß mein Kind eine Zeitlang ein halbwegs
gesundes Leben führen kann, dann möchte ich alles verkaufen und in eine große
Stadt ziehen.
Ihr letztes Buch "Wunschloses Unglück" behandelt den Tod Ihrer Mutter,
aber es enthält nichts über die Beziehung, die Sie zu ihr hatten.
HANDKE: Deshalb steht ja am Schluß der Satz: "Später werde ich über das
alles Genaueres schreiben". Das ist so schwierig, das sind so persönliche
Dinge in mir, dazu braucht man Zeit, die zu objektivieren.
Sind das auch Schuldgefühle?
HANDKE: Ja, sicher.
Fühlen Sie sich verantwortlich?
HANDKE: Ja.
Und darüber wollen Sie schreiben?
HANDKE: Ich weiß noch nicht, ob das so wichtig ist, ob das nicht nur ein Gefühl
ist, oder ob es fundiert ist, das wird sich halt noch herausstellen.
Haben Sie "Wunschloses Unglück" nicht aus einem Gefühl geschrieben?
HANDKE: Doch. Aber Gefühle sind nur Gefühle, wenn sie genau sind, sonst sind's
keine Gefühle, sondern ein Schmarrn.
Es gibt Leute, die sagen, "Wunschloses Unglück" sei Ihr bisher bestes
Buch, weil es Ihr ernsthaftestes sei.
HANDKE: Das ist albern, dieses Gerede, daß man so Phasen hat, wo man endlich
ein ernsthafter Schriftsteller geworden ist und das erreicht hat, was man
immer wollte, nach jahrelangem Bohren. Ich glaub', da gehört alles dazu, was
ich geschrieben hab'. Ich hab' nie etwas geschrieben, was ich nicht ernst
gemeint hab' .
Hat Sie der Tod Ihrer Mutter verändert?
HANDKE: Sicher. Aber der Alkohol hat mich auch verändert, und Frauen haben
mich verändert, und das Kind, das ich hab' , hat mich verändert. Das kann
man nicht sagen, daß da jetzt so ein neuer Abschnitt beginnt.
Ist das Buch über diesen Tod ein Buch wie jedes andere oder mußten Sie es
schreiben als Schicksalsbewältigung?
HANDKE: Ich weiß nicht. Wenn ich jetzt diese Geschichte lese, kann ich das
gar nicht mehr so privat auffassen, weil ich einfach weiß, wieviel Anstrengung
ich in jeden einzelnen Satz gelegt hab'. Wenn ich da tagelang, an einen einzigen
Satz gefesselt, dasitze, da verflüchtigt sich das, was Sie schicksalhaft nennen,
verflüchtigt sich ins Denken und Fühlen, und alles wird klar, und diese Begriffe
treffen dann nicht mehr zu, diese privaten Begriffe. Bei der Lektüre dieser
Geschichte geht es mir halt so, daß ich das lese wie wenn man Dinge sieht,
die zur Welt gehören, nicht als wäre das jetzt so eine literarische Sache,
sondern ein Gegenstand, der aber nicht mehr aus der Welt zu schaffen ist,
der unverrückbar ist, irgendwie. Dieses Gefühl hatte ich aber auch bei den
früheren Büchern.
Manche Leute, die Sie kennen, meinen, Sie seien in Todesgefahr.
HANDKE: Das bin ich sicher.
Haben Sie Selbstmordgedanken?
HANDKE: Ich hab' keine Selbstmordgedanken ... oder doch: Natürlich hab' ich
Selbstmordgedanken.
Aber Sie spielen damit?
HANDKE: Nein, nein, ich spiele auch nicht damit, das sind aber eher Selbstmordgefühle
als Selbstmordgedanken ... Ich meine, ich kenne viele Leute, die viel konkreter
an Selbstmord denken, die sagen, ich möcht' mich aufhängen oder ich möcht'
mir eine Kugel durch den Kopf schießen oder ich möcht' mit dem Auto gegen
eine Mauer fahren. Ich denk' nur so abstrakt: Ich möchte abgeschafft sein.
Das ist ein großer Unterschied, ob man so abstrakt an Selbstmord denkt oder
konkret an die Handlung.
Warum denken Sie daran nicht?
HANDKE: Sollte ich? Sie stellen mich so als einen vom Schicksal Geschlagenen
hin. Ich bin, das kann ich wirklich sagen, ein ziemlich heiterer Mensch, der
nur ein bißchen ratlos ist manchmal.
Werden Sie gerne so gefragt oder ist Ihnen das peinlich?
HANDKE: Ich werd' schon gerne gefragt von Ihnen. Es kommt halt auf die Fragen
an, das ist doch ganz klar. Wenn eine Frau mich fragt, ob sie mir was Gutes
tun kann, dann freu' ich mich sehr. Doch, doch, ich werd' schon unheimlich
gern gefragt, muß ich sagen.
Tun Sie auch manchmal etwas nur aus Höflichkeit?
HANDKE: Ja, sehr oft, weil ich das wichtig finde. Ich bin, glaub' ich, ein
sehr höflicher Mensch.
Zum Beispiel auf der Frankfurter Buchmesse, die Ihnen doch ein Greuel ist?
HANDKE: Schaun Sie, Herr Müller, es ist einfach so, daß ich sehr isoliert
lebe und dann über jede Abwechslung froh bin. Ich bin unheimlich froh, wenn
ich auf die Buchmesse komme und wenn da Schnaps steht und wenn die Fernsehkameras
laufen, ob das jetzt mir gilt oder nicht, ist völlig egal.
Aber Sie könnten sich doch die Abwechslung, die Sie brauchen, auch selbst
verschaffen, um nicht davon abhängig zu sein, was Ihnen geboten wird.
HANDKE: Na, ich fahr' ja auch viel herum, relativ viel, in verschiedene Länder,
aber da fühl' ich mich dann auch immer ganz fehl am Platz. Letzten Sonntag
bin ich zum Frankfurter Bahnhof gefahren, um mir Zeitungen zu kaufen, da hab'
ich mich richtig unangenehm gefühlt, da sieht man die Zugschilder, Basel SBB,
da denke ich, Scheiß-Basel, dort möcht' ich jetzt auch nicht sein, und in
Frankfurt möcht' ich auch nicht sein, und diese Rolltreppe zur Post raufzugehen,
das ist auch was ganz Widerliches... Das ist halt so meine Situation: Ich
bin nicht gern dort, wo ich hin will, und auch nicht gern dort, wo ich herkomm',
und auch nicht gern da, wo ich bin. Das ist schon schwierig.
In unserem ersten Gespräch erzählten Sie mir, Sie hätten für Ihre Romane und
Theaterstücke spezielle künstliche Sehweisen entwickelt. Hat sich das inzwischen
erledigt?
HANDKE: Ja ja, das hat sich völlig erledigt, das ist vollkommen abgetan. Natürlich
kommt es noch vor, aber ich finde es dann so retrospektiv. Ich messe dem nicht
mehr diese Wichtigkeit zu, weil ich halt inzwischen gelebt hab', wahrscheinlich,
und weil mir mehr zugestoßen ist, aber natürlich auch, weil ich darüber geschrieben
hab', das gehört ja auch zum Leben, das Schreiben.
Sie sind unter den jungen Autoren der einzige, der mit fast jedem Buch auf
der Bestsellerliste steht...
HANDKE: Ja, weil es einfach besser ist, was ich schreibe, weil das Welten
von dem entfernt ist, was andere schreiben. Was ich schreibe, das ist halt
Weltliteratur.
Spaß beiseite...
HANDKE: Meine Bücher und Stücke sind halt einfacher, ungenierter, weitaus
entschiedener und selbstbewußter als andere, nicht so literarisch.
Interessiert Sie, was Thomas Bernhard schreibt?
HANDKE: Das hat mich sehr interessiert, früher, und zwar insofern, als diese
Literatur meine eigene Isolation formalisiert hat. Inzwischen ist es halt
so, daß ich kein monomaner Schriftsteller mehr bin. Was ich schreibe, kommt
halt nicht aus einem Gemütszustand oder Gefühlszustand, den ich verabsolutiere,
sondern da kommen viele Gemütszustände vor, die alle ihren Platz haben. Ich
bin halt, glaub' ich, so ein ganz normaler Schriftsteller, wie ich mich auch
für einen ziemlich normalen Menschen halte, wie der Fontane oder der Gottfried
Keller, so ein normaler Schriftsteller bin ich, kein monomanischer oder exzessiver.
Ich hab' nicht die Fähigkeit, eine Eigenschaft von mir rauszunehmen und die
dann zu verabsolutieren oder nur aus einer einzigen Eigenschaft zu bestehen,
sondern in mir gibt es viele widersprüchliche Dinge, und die versuch' ich
halt ganz klar darzustellen, das Spiel dieser verschiedenen Gefühle und Gedanken
miteinander, und dadurch entsteht halt ein Eindruck von Verbindlichkeit, dadurch
ist es halt nachvollziehbarer über einen literarischen Kreis hinaus. Der Thomas
Bernhard hat viel Erfolg bei Literaturkritikern, was eventuell daher rührt,
daß durch das, was er schreibt, die Existenz der Literaturkritiker befriedigt
wird in diesem miesen Gefühl, Literaturkritiker zu sein. Das ist ja, glaub'
ich, auch ein existentielles Gefühl, kein nur feuilletonistisches, sondern
wahrscheinlich wirklich eine Verzweiflung.
Sie haben sich verändert.
HANDKE: Ja, das hängt damit zusammen, um das ganz lasch mal zu sagen, daß
ich Kafka heute nicht mehr so gerne lese wie Robert Walser. Diese einheitliche,
groteske Welt, diese, kurz gesagt, traurige, depressive Welt eines Kafka,
die entspricht mir nicht mehr. Diese Monomanie ist halt völlig aufgebrochen
bei mir, die kann ich nicht nachvollziehen. Diese monomanen Schriftsteller
wie Céline oder Kafka oder Thomas Bernhard, von denen hab' ich mich halt unheimlich
entfernt, um das Wort "unheimlich" wieder mal zu verwenden und dann
ein für allemal wegzulassen... Für mich ist es wichtig, daß es eine Lebenslust
gibt, nicht nur eine deklamierte, sondern eine präzisierte, und die hab' ich
halt manchmal, und die möcht' ich halt formulieren... So, und jetzt fragen
Sie einmal den Wim was!"**)
--------------------
*) Das Interview, ursprünglich
geplant als Doppelinterview mit Wim Wenders und Peter Handke, fand aus Anlaß
der Uraufführung des Films "Die Angst des Tormanns beim Elfmeter"
von Wenders in München statt.
**) Wim Wenders saß während des gesamten Gesprächs still neben Handke.
------------------
Erschienen in: André Müller, "Entblößungen", Goldmann,
1979