Das Haus Altenmarkt 6 hat einen kleinen Garten, der in drei Terrassen zu einem
steilen Naturweg abfällt. Schon von weitem sehe ich: Handke sitzt in einem grünen
Holzstuhl auf der Veranda und hält sein Gesicht in die Sonne. Seine Frau, die
Schauspielerin Libgart Schwarz, hat noch die Lockenwickler im Haar. Sie legt,
als sie das Auto kommen hört, hastig ihr Strickzeug weg und läuft in das Haus.
Handke kommt mir entgegen. Er hat eine schwarze Hose an, eine dazu passende
Anzugweste, ein bunt gemustertes Hemd, grüne Wollsocken, keine Schuhe. Er trägt
eine dunkle Brille. Sein Gesicht ist braungebrannt. An der Nase schält sich
die Haut.
Zur Begrüßung sagt er: "Sie sind das also."
Dann knöpft er langsam sein Hemd auf, so daß das weiße T-Shirt, das er darunter
trägt, zum Vorschein kommt, und knöpft es, ebenso langsam, sofort wieder zu.
"Wollen Sie etwas trinken?"
Aus dem Haus hört man die zweijährige Tochter Amina schreien. Sie wird in den
Garten gebracht. Jetzt erst merke ich, wie still es hier ist. Die Luft ist glasklar.
Die wenigen Geräusche prägen sich ein: Vogelgezwitscher, das Lachen und Weinen
des Kindes, Böllerschießen, Glockengeläute, ab und zu der Lärm eines vorbeifahrenden
Traktors.
Handke bringt roten Holundersaft. Wir setzen uns. Er legt die Beine auf die
Holzbrüstung, die die Veranda zum Garten begrenzt.
"Sind Sie hier geboren?" frage ich.
Er zeigt auf gegenüberliegende Mauerreste, an die ein neues Haus angebaut ist.
"Das war das Haus meines Großvaters. Da bin ich geboren."
"Warum sind Sie jetzt hier?"
Handke antwortet stockend, leise, monoton, unterbricht sich oft, macht lange
Pausen zwischen den Sätzen.
"Wir haben keine Wohnung. Von Düsseldorf sind wir weggegangen, und jetzt
haben wir irgendwo eine Wohnung gesucht, die wird aber erst im Herbst fertig,
bei Frankfurt irgendwo. Für das Kind, weil wir ein kleines Kind haben, hab'
ich gedacht, ich geh' zu meiner Mutter* inzwischen, bis die Wohnung fertig
ist... In Düsseldorf, da haben wir in so einer Straße gewohnt, wo alle Wohnungen
ein bißchen ähnlich ausgeschaut haben. Zwei Jahre haben wir nicht dort gewohnt,
da war ich zum Teil in Berlin, zum Teil in Paris, und dann ist meine Frau zurückgekommen
in die Wohnung, und da war die halt ein bißchen staubig von außen, und die Gardinen
sind halt anders gehangen als in den anderen Wohnungen. In den anderen Wohnungen
sind sie gerade gehangen, ich weiß nicht..."
Er ruft: "Wie war das, Libgart? Wie war das mit den Gardinen in Düsseldorf?"
Die Frau, die sich mit dem Kind weggesetzt hat, ruft zurück: "Ja, die sind
schon hin und wieder gewaschen worden von der Hausmeisterin."
"Ja, die waren halt staubig", sagt Handke, "und die Fenster waren
halt schmutzig, und da ist halt der Mietvertrag nicht verlängert worden, obwohl
wir gerade 4000 Mark reingesteckt hatten, um das Bad zu erneuern, da haben sie
uns gekündigt für den 31. Dezember, und das fand ich nicht zumutbar, daß man
da mitten im Winter noch ausziehen soll, und dann hab' ich halt einen Brief
geschrieben, daß ich nicht ausziehen würde bis zum 31. März, und dann haben
sie das halt zur Kenntnis genommen."
Ich krame meine auf mehrere Zettel notierten Fragen hervor. Es ist eine lange
Liste.
"Libgart!" ruft Handke noch einmal hinüber. "Sagst, wenn die
Amina schreit, gell?"
Aber dann kümmert er sich um die Frau und das Kind nicht mehr.
Was war Ihre letzte Arbeit?
HANDKE: "Chronik der laufenden Ereignisse", ein Film, den wir in Köln
gedreht haben, wo zwei Leute vom Land in die Stadt kommen, um da was zu erleben,
eine Allegorie auf die politischen Vorgänge in der Bundesrepublik vor zwei Jahren,
personalisiert durch zwei Kinohelden. Der Film fängt an wie ein Kinofilm und
verwandelt sich dann in einen Fernsehfilm. Zwei Leute wollen etwas erleben und
erleben immer nur vermittelt durch das Fernsehen was, so daß sie in der Stadt,
wo sie ankommen, immer mehr abgeschnitten werden von Beziehungen zu Menschen
und dann eben Gewalt ausüben, um Beziehungen zu kriegen zu anderen Menschen,
weil sie deprimiert sind, aus Verzweiflung, weil sie keine Erlebnisse haben
... Sie haben schon Kontakte zu Frauen, aber diese Frauen bestehen aus Posen,
und wie sie sich verhalten, das ist sehr bestimmt durch das, wie es erwartet
wird, daß sie sich verhalten.
Kann man sagen, Ihre Stücke handeln von Kontaktschwierigkeiten?
HANDKE: Das kommt natürlich dazu, Mißverständnisse, die sind aber für mich Spielanlässe
und Versuche, miteinander zu reden. Ich find' nicht, daß das Reden verhindert
wird, wenn man sich ab und zu mißversteht, das gehört zum Leben dazu, man würde
was ausschließen, wenn man nicht auch Mißverständnisse reinbrächte in so ein
Bild von einem Lebenslauf, wie ich ihn beschreibe. Es ärgert mich immer, wenn
man denkt, der Mensch, der das geschrieben hat, verzweifelt an der Kommunikation,
wenn man so alte Volkshochschulhüte ausgräbt und mir die aufsetzen will.
Über Ihr letztes Stück, "Der Ritt über den Bodensee", ist das ja auch
gesagt worden.
HANDKE: Ja, dabei ist das gar kein Stück über Kommunikationsschwierigkeiten,
sondern es ist einfach ein Stück über Gefühle, über die Liebe und wie man die
zueinander äußert, über tägliche Verhaltensweisen, wenn man was einkauft, wenn
man über das Sterben was erzählen will, wie man sich da äußert. Das ist einfach
ein ziemlich realistisches Stück. Angefangen hat es damit, daß ich Lust hatte,
einmal Dialoge zu schreiben. Mir haben immer schon die Dialoge von Karl Valentin
unheimlich gut gefallen. Da spricht einer, und der andere spricht zur gleichen
Zeit, und dann versuchen sie noch einmal anzufangen: "Sprechen Sie doch
zuerst ... " und so weiter. Solche Dialoge wollte ich schreiben. Am Schluß
hört das dann auf, das Reden, weil sie einfach nicht weiterkommen. Das sollte
in einer Art von Erstarrung enden, einer Art Todesangst, wo die Figuren ganz
egozentrisch werden, so wie es der Tschechow geschrieben hat, nur halt abstrakter.
Zunächst war das nur ein formaler Vorgang. Das hat mir gefallen. Aber dann war
mir das halt zuwenig, da war vom Leben nichts drin. Und da habe ich in einem
Zeitraum von zwei Monaten, das war in Paris, mich selbst und was um mich vorging
beobachtet, beinahe hysterisch, so daß ich nur noch Bewegungen sah und Gesten
und Verhaltensweisen. Da wird man ganz irr ... Es ist ja auch eine Ehegeschichte.
Es ist ein Stück aus mehreren Schichten, aus Beobachtungen, die man gemacht
hat, ohne sich was Bestimmtes vorgenommen zu haben. Dann setzt man sich hin,
ohne zu wissen, worum es eigentlich geht, und fängt ein Stück an, aus Assoziationen,
die man ganz genau kontrolliert, wo man gar nicht weiß, wie es enden wird. Das
ist wie eines langen Tages Reise in die Nacht oder so ähnlich.
Woher stammt der Titel des Stückes?
HANDKE: Aus einem Gedicht von Gustav Schwab, "Der Reiter und der Bodensee".
Das handelt davon, wie ein Reiter, ohne es zu wissen, über den zugefrorenen
Bodensee galoppiert. Als ihm die überstandene Gefahr bewußt wird, sinkt er leblos
vom Pferd. So geht es auch den Personen in meinem Stück. Sie werden sich laufend
im nachhinein bewußt, was sie gemacht haben, erleben ständig irgendwelche Bewußtseinsprozesse,
machen aber trotzdem weiter, bis sie wieder einen Schlag kriegen durch eine
neue Konstellation.
Warum haben Sie für die Personen Namen von Filmstars gewählt?
HANDKE: Die Namen symbolisieren verschiedene Rollenverhalten. Henny Porten ist
verächtlich zu Heinrich George. Der kompensiert das bei Elisabeth Bergner, die
sich ihm unterwirft in einer Art Warenhausliebe. Dafür verhält sich die Bergner
dann zu Emil Jannings, der als Potentat auftritt, wie ein Diva. Die Personen
stehen zueinander wie Gewächsverbindungen, die sich verflechten. Aus reinen
Nervenschwankungen kommt es immer wieder zu objektiven Herrschaftsverhältnissen.
Das Stück bildet die herrschenden Verhältnisse ab.
Also ist es ein politisches Stück?
HANDKE: Ich bin nicht erpicht, politische Lobesworte zu kriegen. Das ist heute
so eine blöde Mode, zu sagen, das ist politisch und das ist privat. Die Literatur,
die ich mache, kann man nicht als explizit politisch bezeichnen. Der "Kaspar",
das war noch so ein Stück, das kam einem Schema von dem, was politisch ist,
sehr entgegen, wo jeder Volkshochschuldozent gleich sagt, aha, das hat diese
und jene Bedeutung. Beim "Ritt über den Bodensee" geht das nicht mehr.
Da habe ich auch verwirrende, widersprüchliche Sachen hineingenommen, Überreste
von Träumen, unbewältigten, ungeklärten Geschichten. Es ist halt so, daß es
ein sehr konstruktivistisches Stück ist über etwas, was ich selber täglich erfahre,
mir formuliere oder klarzumachen versuche, es aber dann ganz künstlich zusammensetze
ohne die Absicht, die Leute, die in dem Stück vorkommen, zu kritisieren, sondern
nur mit der Absicht, zu zeigen, was ich selber an mir bemerke, was ich gern
anders hätte an mir oder an den Leuten, mit denen ich umgehe, irgendwelche Verhaltensweisen,
über die ich erschrecke. Es gibt so Momente, wo Erlebnisse unglaublich erschreckend
werden, weil sie einem klar werden, und dann will man sie formulieren. Aus solchen
Erlebnissen, wo ich plötzlich etwas durchschaue oder wo ich glaube, etwas erkannt
zu haben, was man auch mitteilen kann, was nicht nur privat ist, aus solchen
einzelnen Beobachtungsformen ist das Stück zusammengesetzt, nicht nachgespielt
einer Realität, sondern konstruiert, aus vielen verschiedenen Bereichen zu einer
Theaterrealität zusammengesetzt, die natürlich nicht auf das Theater zurückgeht,
sondern auf das, was ich erlebe. Ich denke dann immer, wenn ich das in eine
objektive sprachliche Geschichte verwandelt habe, daß mir das trotzdem wieder
zustoßen könnte. Es ist nicht so, daß ich glaube, mir könnte das dann nicht
mehr passieren.
Und dann würden Sie genauso wie beim erstenmal wieder erschrecken?
HANDKE: Was heißt erschrecken! So was braucht mich nicht nur zu erschrecken,
das kann mir auch lustig vorkommen. So ein Moment, wo man irgendwas entdeckt,
ist ja auch ein Moment der Komik.
Aber es ändert sich nichts?
HANDKE: Das weiß ich überhaupt nicht. Ich würde schon gern wollen, daß sich
was ändert. Sie drängen mich da in so eine kritische Position, als ob ich dauernd
etwas kritisieren sollte. Ich würde lieber leben ohne solche Vorbehalte, die
man hat mir gegenüber.
Erzählen Sie etwas über die Entstehung Ihres letzten Romans, "Die Angst
des Tormanns beim Elfmeter".
HANDKE: Da hatte ich zuerst nur den Titel, der hat so eine Atmosphäre erzeugt,
die mir einfach Lust gemacht hat, zu schreiben. In einem Film, den ich vor ein
paar Tagen gesehen habe, da hat einer gesagt: "It's so nice to walk in
California". Das ist auch so ein Satz, von dem gehen Vorstellungen aus,
Sehnsüchte. So war das auch mit der Angst des Tormanns beim Elfmeter. Da ging
auch so eine Welt davon aus, etwas, das ich versucht habe einzuholen, das kann
man nicht formulieren, sonst würde man so doof zu deuten anfangen ... Ich bin
dann extra in den Ort gefahren, wo das spielt, an der burgenländischen Grenze,
in der Absicht, die Geschichte zu schreiben, und habe das, was da passiert,
vorvollzogen und mir unglaublich viele Notizen gemacht. Da habe ich alle Einzelheiten
notiert, wie zum Beispiel "Truthähne in Obstgärten sitzen auf Drahtkäfigen"
, so sinnliche Einzelheiten, auch ein paar Träume und wie es in dem Ort ausschaut,
wie das Schwimmbad aussieht, wo so Zigarettenschachteln, vom Tau beschlagen,
im Gras liegen... Ich habe diese Reise nur gemacht, um diese Geschichte zu erzählen,
aber was dann in die Geschichte passieren würde, wußte ich nicht. Das Schreiben
war auch so eine Fahrt von Satz zu Satz, von Absatz zu Absatz, aber ich wußte
überhaupt nicht, wohin.
Peter Hamm hat geschrieben, Sie zeigten nie die Ursachen, sondern immer bloß
Sachen.
HANDKE: Ich habe halt keine Schemata, die vielleicht in einer soziologischen
Beschreibung statthaft sein können. Ich glaube, wenn man Literatur macht, hat
das immer mit Verwirrungen und sinnlichen Abweichungen und viel mehr mit Phänomenen
und Menschen zu tun als mit Ursachen. Die anderen Literaten, anderen Leute,
die schreiben in Deutschland, Literaten kann man ja nicht mehr sagen... die
zeigen weder Ursachen noch Sachen, die deklamieren einfach nur irgendwelche
Ursachen, die ihnen vorexpliziert wurden von irgendwelchen soziologischen Systemen,
aber daß sie selber eine begriffliche Anstrengung unternehmen würden beim Schreiben,
das ist nun überhaupt nicht der Fall im Gegensatz zu meinem Schreiben. Ich glaube,
wenn man überhaupt etwas lernen kann aus meinen Stücken im Gegensatz zu diesen
links-posierenden Autoren, die nichts lernen können... Aber ich möchte das nicht
so scharf sagen, mir ist eigentlich auch nicht so zumute. Ich habe nur von mir
selbst den Eindruck, daß ich nichts antizipiere, wenn ich schreibe. Wenn ein
Schriftsteller von vorne weg ein Schema hat, was zu erkennen, was er von vornherein
schon erkannt hat, das finde ich eine ganz verächtliche Sache. Es scheint mir,
daß es in Westdeutschland eine pure Mode von einer kritischen Haltung gibt,
die überhaupt keine Einzelheiten zeigt, überhaupt keine Anstrengung mehr macht,
Literatur aus sich selbst herzustellen. Ich bilde mir ein, mich anzustrengen
bei jeder Beobachtung, die ich mache. Natürlich gibt es Sekundärquellen, die
Anlässe sein können zur Erkenntnis, von denen man ausgehen kann, die einem helfen,
zu irgendwelchen Eindrücken, Erlebnissen, Erfahrungen und sinnlichen Schreckgegenständen
zu kommen, aber ich würde es eben ganz schlimm finden, wenn jemand, der schreibt,
nach irgendwelchen Modellen oder Schemata vorgeht, das finde ich das Verächtlichste,
das es gibt. Ein Schriftsteller darf sich an überhaupt nichts halten, was schon
vor ihm formuliert worden ist. Er darf schon davon ausgehen, aber er darf eben
nichts antizipieren, also etwas, das schon erkannt ist, in einem Ritual von
Erkenntnis bloß wiederholen. Das meiste... was heißt das meiste, alles, was
an sogenannter kritisch-linker Literatur in Westdeutschland gemacht wird, ist
eben nur ein Ritual von Erkenntnis und keine wirkliche Anstrengung, Erkenntnis
zu gewinnen. Wichtig ist, daß jemand, der schreibt, auch eine fixe Idee hat,
während er schreibt. Diese Leute haben eben keine fixe Idee.
Denken Sie beim Schreiben daran, für wen Sie schreiben?
HANDKE: Ich denke nicht daran, aber ich bin mir schon bewußt, daß ich für eine
bestimmte Zielgruppe schreibe, daß das Leute lesen werden, die einer bestimmten
Gesellschaftsschicht angehören, einer Schicht von noch nicht ganz Technokraten,
Leuten, die noch nicht ganz technokratisiert sind. Sicher schreibe ich für Intellektuelle,
bilde mir aber nicht ein, daß diese Intellektuellen eh alles schon wissen, wie
man immer sagt. Ich bilde mir ein, weil ich mich eben auf meinen beschränkten
Erfahrungsbereich spezialisiert, nein, konzentriert habe, daß ich in diesem
Bereich, in meiner Art zu erleben, genauer Bescheid weiß und daß ich anderen
was beibringen kann, auch wenn die sich als Intellektuelle bezeichnen.
Ist das nicht anmaßend?
HANDKE: Ich glaub', daß Anmaßung zur Natur des Schriftstellers gehört, daß der
eben so einen gewissen Wahn hat, so einen gewissen Hochmut haben muß, nein,
nicht haben muß, sondern daß er den sich erwerben muß. Was er von Natur haben
muß, ist dieser Wahn, diese Anmaßung, daß er glaubt, daß seine eigenen Geschichten
so wichtig sind, daß sie anderen etwas beibringen können.
Wichtig allein schon dadurch, daß er sie aufschreibt?
HANDKE: Nein, so einfach ist das ja nicht, daß ich das, was ich erlebe, einfach
so hinschreibe. Es gibt so einen gewissen Moment, wo eine Sache, die nur unbewußt
war, plötzlich bewußt wird. Ich glaube, daß man bei anderen auch diesen Moment
auslösen kann, eben dadurch, daß man das, was man erlebt hat, beschreibt, um
es objektiv nachvollziehbar zu machen. Man hält das natürlich schon für absolut
notwendig, was man schreibt. Sonst soll man eben aufhören zu schreiben. Sie
können das ja ruhig als eine Illusion bezeichnen. Aber das wird einem niemand
austreiben können, wenn man eben kein anderes Bedürfnis hat als zu schreiben
und so ein Spannungsverhältnis haben möchte und ohne das nicht existieren möchte,
dann wird es eben durch das Sein, durch die Existenz schon so, daß man das für
notwendig hält, was man macht, so wie ein Maurer das für notwendig hält, was
er macht, einfach dadurch, daß er ein Maurer ist, und da wird einfach kein rationales
oder pseudorationales Argument dagegen ankommen können.
Wann begannen Sie, sich für einen Schriftsteller zu halten?
HANDKE: Am Anfang war das Schreiben ja nur eine Pose, erst allmählich sind Pose
und Bedürfnis eins geworden bei mir. Zuerst ist es eine Art Anti-Haltung, bloße
Negation, daß man den Beruf, den man anfängt, in meinem Fall den juristischen
Beruf, einfach negieren möchte, nicht in die vorgeschriebene Bahn einsteigen
möchte, aus Negation etwas anderes will. Ich hatte schon mit siebzehn diese
Pose des Schreibens, die jeder hat, nur war sie bei mir halt intensiver als
bei den anderen, aber echt war das nicht. Meine Lehrer sagten, ich solle Jura
studieren, da hätte ich Zeit genug, nebenbei Literatur zu machen, und ich hab'
dann auch ein paar Semester Jura studiert in Graz, aber was ich da nebenbei
so geschrieben habe, das war nur eine leere Geste, darin kam die Sehnsucht nach
einem anderen als mir vorgemachten Leben zum Ausdruck. Deswegen ist es auch
ein gesellschaftlich produziertes Bedürfnis, daß viele Leute, wenn sie jung
sind, schreiben wollen. Das ist unglaublich politisch bestimmt, daß sie kein
ihnen von anderen vorgezeichnetes Leben nachvollziehen wollen. Das ist ein Widerstand
gegen etwas, der sich dann als ein Posieren zeigt. Die "Publikumsbeschimpfung",
das ist mir erst jetzt klar geworden, war eine Beschreibung meiner Befreiung.
Nachdem mein erster Roman, "Die Hornissen", angenommen worden war
und ich dachte, jetzt ist mein Leben nicht vorbestimmt, habe ich mich unglaublich
frei gefühlt. Der Ausdruck dieser Befreiung, das Glück darüber, nicht so leben
zu müssen, wie ich gesollt hätte, das war dieses Stück, das ja ein ganz spielerisches
Stück ist.
Können Sie sich ausmalen, wie Ihr Leben geworden wäre ohne diese Befreiung?
HANDKE: Dann wäre ich halt Jurist geworden und würde heute ganz müde am Feierabend
so ein paar Geschichten schreiben, das wären halt sehr traurige, eher emotionale
Geschichten, das ist ja ganz klar. Früher habe ich ja viel depressivere Sachen
geschrieben, viel mehr literarische, weil noch viel Sehnsucht nach Literatur
in mir war, die von der realen Existenz nicht erwidert wurde. Jetzt schreibe
ich nicht mehr, was man so Literatur nennt, sondern einfach Äußerungen. Ich
fühl' mich jetzt nicht mehr in so einer doofen Rolle, daß ich denke, ich bin
einer, der schreibt. Das hat früher irgendwie etwas leicht Lächerliches an sich
gehabt. Jetzt ist es halt schon selbstverständlich geworden. Ich schreib' jetzt
immer mehr das, was ich selber gern lesen möchte, Fitzgerald, Robert Walser,
Patricia Highsmith, einfache Geschichten, da kann ich alles sagen ohne die literarischen
Attitüden, die in Deutschland fast alle einnehmen, ob sie links oder rechts
oder liberal sind. Die schreiben nie von sich selber oder was sie sehen und
spüren, da sind immer nur so nicht ganz durchschaute literarische Modelle dahinter,
die sie einfach ungeniert ... nein, nicht ungeniert, das wäre ja schon wenigstens
etwas, sondern ganz geniert übernehmen, ob das jetzt der Biermann ist oder all
dieses Zeug, das kann ich überhaupt nicht vertragen. Ich find' das unglaublich
zickig, was da heute geschrieben wird, ob das jetzt konkrete oder sprachlich
bestimmte oder sozialistische Literatur ist.
Am wenigsten können Sie mit denen, die politisch links stehen, anfangen.
HANDKE: Ja, das hat aber einen rein privaten, neurotischen Grund, daß ich auf
alles, was mit theoretischer Revolution zu tun hat, einfach nur mit Aversion
reagieren kann, das hat mit dem Milieu zu tun, aus dem ich komme. Das Leiden
an der Welt, das habe ich schon, aber das äußert sich bei mir in rein emotionalen
Aggressionen gegenüber gewissen sozialen Zuständen, so daß ich dann nur noch
aus Emotionen bestehe.
Eine Ideologie brauchen Sie nicht.
HANDKE: Ich hab' schon so eine Sehnsucht gehabt, mich zu identifizieren mit
Ideologien, und daraus sind auch Pseudoaktionen entstanden, aber daß das zum
Gefühl wurde, war nicht der Fall. Man braucht schon so ein Bezugssystem, man
hat ein Bedürfnis danach, auch ich hab' immer noch ein Bedürfnis, an was zu
glauben, aber mir ist's nicht gelungen, wirklich nicht, irgendwie ist das blöd...
Deshalb sehn' ich mich auch manchmal danach, so ein Dichter in der DDR zu sein,
schon immer dort gewesen zu sein, dann hätte ich so ein System. Hier bei uns
gibt es ja kein Bezugssystem, deshalb ist einem auch so oft so langweilig hier.
Ich hab' mir oft gedacht, wenn man das so formulieren könnte wie im Märchen:
Lieber noch als marxistisch würde ich katholisch sein. Das kommt daher, daß
ich auf dem Land war als Kind, an der österreichisch-jugoslawischen Grenze,
und diese slowenischen Litaneien gehört hab' mit ihrer pathetischen Monotonie.
Da hab' ich heute noch ein erhabenes Gefühl, wenn ich das höre.
Woran arbeiten Sie jetzt gerade?
HANDKE: Seit einem halben Jahr habe ich nichts mehr geschrieben. Das ist immer
so, daß ich fünf, sechs Monate überhaupt nichts tue, bis ich dann wieder anfange,
diese fixe Idee zu kriegen, wo ich alles, was ich erlebe, auf das, was ich schreibe,
beziehe. Jetzt bin ich gerade in so einem Zwischenbereich, wo ich langsam unzufrieden
werde und unglaublich Lust bekomme, wieder etwas zu schreiben.
Können Sie es sich leisten, so lange nichts zu machen?
HANDKE: Als ich "Die Hornissen" geschrieben hab', da war so ein Lektor,
der hat gesagt, davon würde ich nie leben können. Aber ich wollte schon damals
nichts anderes machen als schreiben. Heute ist es so, daß ich durch die Stücke
genug verdiene, um leben zu können.
Wieviel im Monat?
HANDKE: Drei- bis viertausend Mark ungefähr."
Halten Sie sich für einen Menschen, der Glück gehabt hat, oder führen Sie Ihren
Erfolg auf Ihre Willensstärke zurück?
HANDKE: Willensstärke und Willensschwäche, das sind so Begriffe, die von der
kapitalistischen Gesellschaft erzeugt worden sind. Mir ist schon bewußt, daß
ich unglaubliches Glück gehabt hab'. Ich hab' einige Freunde, bei denen schmerzt
es mich immer noch, weil sich die einfach nicht verwirklichen können, die sind
einfach nicht geltungssüchtig genug. Wenn man mit denen redet, spürt man, daß
es zu denen gehört hätte, das auszudrücken, was sie erleben, und es ist unheimlich
traurig, daß das alles so reprivatisiert wird. Eine gewisse Schamlosigkeit braucht
man zum Schreiben. Was das betrifft, bin ich immer unheimlich egoistisch gewesen.
Ich war schon zu Hause der Typ, der da alle tyrannisiert hat. Aber dann gibt
es Momente, wo man mit jemanden zusammen ist und schon eine Geste genügt, daß
man weiß, was in dem vorgeht, und da wird man ganz offen und versinkt sofort
selber zu Asche als eigenes Ich.
Ist das Schreiben für Sie ein sinnlicher Vorgang?
HANDKE: Ja, das ist unglaublich sinnlich, weil man nachher mit geschärften Sinnen
herumgeht, man sieht und hört besser, spürt alles besser, kann sich besser berühren.
Ich werde immer so wach vom Schreiben. Ohne Schreiben könnte ich gar nichts
erleben. Wenn ich etwas geschrieben hab', bin ich so fähig, was zu erleben,
nachher. Bevor ich geschrieben hab', bin ich immer so mürrisch und so unfähig,
was zu erleben, aber während ich schreibe, merke ich, was ich alles noch nicht
erlebt habe, was für Möglichkeiten es noch gibt im Leben. Das ist ja eigentlich
eine utopische Tätigkeit, das Schreiben. Da wird man so empfindlich Menschen
gegenüber, nicht sich selbst gegenüber, da ist man ziemlich gleichgültig und
abgestumpft, aber die anderen Leute, die nimmt man dann so stark wahr als Leute
und Menschen.
Sie machen den Eindruck, als hätten Sie nie Probleme.
HANDKE: Ja, man hat ja keine großen Probleme, wenn man schreibt, weil man weiß,
man kann die Probleme ausbeuten, die man hat, und dann sind es gar keine Probleme
mehr.
Und wenn Sie nicht schreiben?
HANDKE: Dann bin ich ein sehr passiver Mensch, lebe wochenlang ganz stumpfsinnig
ohne irgendeine Idee. Stumpfsinn ist ein großer Teil meines Lebens.
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*) Handkes Mutter, Maria, habe ich nur kurz gesehen, als sie mit der Einkaufstasche
ins Dorf ging. Mir fiel auf, daß sie nicht einmal einen Blick auf uns warf,
geschweige denn grüßte. Handke sagte, sie habe "ihr eigenes Leben"
und mit dem, was er täte, also auch mit Interviews, nichts zu tun. Drei Monate
später, im Oktober 1971, nahm sie sich, 51-jährig, mit einer Überdosis Schlaftabletten
das Leben.
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Erschienen in: André Müller, "Entblößungen", Goldmann,
1979