(als sie am Hamburger Thalia-Theater in Franz Molnars „Olympia“ gastierte)
WESSELY: Was wollen Sie eigentlich?
Sie kennenlernen.
WESSELY: Haben Sie eine bestimmte Vorstellung?
Nein.
WESSELY: Man hat bestimmt nicht die richtige Vorstellung von mir. Da gibt's
viele Gründe, warum das vielleicht langsam eine Summe geworden ist, nachdem
ich vielleicht nicht mehr ganz jung bin und ein beschriebenes Blatt bin und
in sehr bewegten Zeiten gearbeitet hab' und eine Familie beim Theater hab',
da ist es selbstverständlich, daß gewisse Dinge, zu denen man schweigt, einer
Frau aufgeladen werden.* Sehr gescheite Leut' haben einmal gesagt,
es geht immer an den Frauen aus. Das ist ganz natürlich...
Sind Sie mißtrauisch?
WESSELY: Nicht mißtrauisch, nein, das gar nicht, das wäre ganz falsch, wenn
Sie das schrieben. Nur scheu vielleicht, ich war schon immer ein bißchen scheu,
die Scheu hab' ich von meiner Tante geerbt, Josefine Wessely, die Hofschauspielerin
war, und dann hab' ich auch eine Kusine, die heißt auch Josefine und war auch
beim Theater, die ist zufällig am selben Tag geboren wie meine Schwester,
die aber schon tot ist. Und dann sind da noch meine drei Töchter und mein
Mann und mein Schwager, die sind auch alle beim Theater. Darf ich Ihnen sagen,
mich langweilt's, dauernd diese Geschichten erzählen zu müssen. Mein Mann
erzählt sie ganz gerne, der ist da ganz unbefangen, plaudert drauflos, auch
meine Mädeln**, die legen Wert darauf, daß sie dieses Medium Interview beschreiten.
Ich habe ja lange Zeit einen Filmweg gehabt, wo das auch gemacht wurde, Reklame,
die einem nicht immer gepaßt hat, da ist vieles geschrieben worden, zum Beispiel
mein Geburtsdatum. In Deutschland bin ich erst 1908 geboren, das schaut so
aus, als ob ich so dumm wäre und mich um ein Jahr zurückdrehen würde. Deutschland
feiert mich 1908, aber ich sage natürlich die Wahrheit und bin 1907 geboren.
Das sind so Dinge, die so kleine Legenden ergeben haben. Man ist oft an mich
herangetreten, ich solle meine Erinnerungen schreiben, aber seitdem die Knef
dieses fabelhafte Buch*** gemacht hat, schenk' ich mir das. Man müßte ja selber
schreiben, und soweit bin ich noch nicht, ich sag's ehrlich, soviel Zeit hab'
ich noch nicht, auch nicht den Impetus. Ich hab' es versucht ein, zweimal,
aber ich weiß nicht... Die Knef kann das besser. Das ist kein Hochmut, ich
war immer so, ich hab' mein Urprivatestes immer für mich behalten. Nachdem
drei Kinder und der Mann und der Schwager beim Theater sind, bin ich doch
traditionsgebunden. Mit der Josefine war's leichter, weil die schon 1887 gestorben
ist... Aber wen interessiert denn das alles? Wer soll denn das lesen? Für
wen wollen Sie denn das schreiben? Ein älterer Mann am Theater, das ist vielleicht
interessanter, oder drei junge Menschen, aber wenn da auch noch die alte Mutter
dazukommt... Wissen Sie, das ist eine angeborene Eigenschaft von mir, sich
nicht für so wichtig zu halten. Ich halte das, was man produziert, für wichtiger
als das, was man privat ist. Es ist auch nicht gut, immer alles so zu zerdiskutieren...
(nimmt einen Schluck Kaffee...) Sehen Sie, dieser Kaffee, der unberühmte,
nicht der berühmte, herrlich, da ist alles erfaßt, durchdacht, wunderbar...
Aber im Leben, da verschiebt sich ja alles so, man wandelt sich ja, man sieht
die Dinge nach zwanzig Jahren ganz anders. Ich hasse diese Festlegungen. Einmal
sagt man, ich bin eine Gefühlsschauspielerin, in Wirklichkeit hasse ich jede
Sentimentalität. Aber was nützt es denn, wenn ich das sage? Ich gebe zu, ein
gewisser Interessenkreis bleibt vielleicht vernachlässigt. Aber so bin ich
nun einmal. Es ist eine Scheu, den Schauspielerberuf so wichtig zu nehmen.
Dieser Beruf ist doch nur eine Auswirkung, zum Beispiel eines Autors. Das
liegt tief in mir drin. Meine Leitbilder waren alle so. Die Helene Thimig
hat mir einmal gesagt, auch der Reinhardt habe so ungern etwas Schriftliches
aus der Hand gegeben. Dem hab' ich mich angeschlossen. Zum Torberg hab' ich
einmal gesagt, ich hab' es verströmen lassen...
Ist Ihnen der Beruf wichtiger als die Familie?
WESSELY: Nein, aber das eine geht immer auf Kosten des andern. Wenn ich mich
mehr um die Familie kümmere, bleibe ich dem Beruf etwas schuldig. Wenn ich
hundertprozentig der Beruf bin, hat die Familie den Nachteil. So ist das.
Das bin zutiefst ich. Es kommt ja auch vor, daß einen der Beruf nicht befriedigt.
Das passiert zwischendurch, wenn man en suite spielt, daß man diese gewissen
Phasen hat... Das hat nur einer herrlich beantwortet, Gründgens, als er gefragt
wurde: Was denken Sie sich, wenn Sie den Mephisto spielen? Der konnte das
definieren, dieses Unausprechbare, ich kann es nicht, ich käme in ein Dozieren,
darum gebe ich auch keine Interviews. Was soll ich denn in so einem Interview
sagen? Meine Pläne sind oft nicht konkret, das ist bei mir nicht wie bei einer
Sängerin, die sagen kann, übermorgen singe ich an der Met, mache das und das,
nein, so ist es bei mir nie gewesen, ich bin eine manchmal Zögernde im Entschluß,
manchmal sagt man dann, ich sei schwierig, aber das ist oft ganz falsch, das
stimmt manchmal alles nicht so haarscharf...
Sie spielen im Hamburg die Fürstin Eugenie in Molnars „Olympia“, eine komische
Rolle....
WESSELY: Ja, ich hab' dem Gobert**** mit Kniefall gedankt, daß er mir
die Gelegenheit gab. In Wien***** kommen solche Stücke wie "Bunbury"
oder "Olympia" ja nur alle zehn Jahre, und das wird dann von der
hinreißenden Alma Seidler oder von Adrienne Gessner oder von der altersmäßig
nachwachsenden Nicoletti gespielt. Da haben sie mich dann immer in die schweren
Rollen gedrängt. Aber es kommt auch von mir selbst. Komisch bin ich ja nicht,
ich bin keine Komikerin im engen Sinne, aber ich komme schon aus dem Humor,
so habe ich ja begonnen, als Lustspiel-Soubrette, ich glaub' schon, daß ich
ihn hab', den Humor, zumindest liebe ich ihn. Ich lache gern. Ich bin gern
unter heiteren Menschen. Aber ich kann auch sehr gut allein sein, immer schon,
als Mädel schon, und ich hab' auch gewisse Grenzen der Impressionsaufnahme,
das hab' ich schon sehr früh erkannt, ich hab' nie einen Urlaub verkauft,
also nie Theater gespielt, anstatt mich zu erholen. Ich hab' immer den Sinn
gehabt für die Pause, um wieder zu mir zu kommen. Ich kenne die Grenzen meiner
physischen Kraft oder meine Verantwortung dem Publikum gegenüber, je nachdem,
wie Sie es nennen wollen. In einem so reichen Leben, da kommen oft mehrere
bewegende Dinge gleichzeitig auf einen zu, das kann man sich nicht aussuchen.
1907 bin ich geboren in der Monarchie, dann hab' ich in der Volksschule den
ersten Krieg erlebt, dann hab' ich die erste Demokratie erlebt... Schaun Sie,
wie weit soll ich ausholen in so einem Interview? Ich bin sonst gar nicht
gern schwatzhaft. In der Schnelligkeit oft, da fragt dann einer, sagen S'
mir, Frau Wessely, was denken Sie über Fußball, und dann kommt raus, ja, die
Frau Wessely hat von den Regeln ka Ahnung, als ob ich eine dumme Gans wär.
Das laß ich mich nicht gerne nennen von jemandem, der keine Zeit hat. Da krieg'
ich einen solchen Zorn, daß ich zwei Jahre lang überhaupt nichts mehr sage.
Meine Kinder sagen immer, Mammi, schließ dich nicht so ab, red' mit den Jungen,
und dann mach ich's, und dann kommen die entzückendsten Begegnungen privat
zustande, was aber geschrieben wird, ist etwas ganz anderes, und dann dichten
sich die Leute, die einem nicht gut gesinnt sind, Romane zusammen. Da ziehe
ich mich dann zwei, drei Jahre wieder zurück wie ein Igel. Darum geht mir
dieser Ruf voraus, daß ich eine Verschlossene bin. Aber es ist mir auch nicht
wichtig, ich kümmere mich auch nicht darum. Dazu bin ich eine zu besessene
Schauspielerin immer gewesen... Haben Sie schon Ihren Kaffee? Zucker? Ich
nehm' meinen Kunststoff, damit ich schlank bleib'... Zwei Zucker? Zwei
ganze? So? (Wirft zwei Stück Würfelzucker in meine Tasse...) Wissen Sie, es
ist manchmal nicht sehr angenehm, wenn man so anspruchsvoll ist, sich selbst
gegenüber. Ich meine diesen hohen Maßstab, den man an sich legt, weil man
anders nicht kann, weil das eben das Lebensgefühl ist, das man hat. Der Hans
Weigel hat einmal geschrieben, den Maßstab, den ich an mich selber anlege,
den wende ich auch an anderen an. Dabei bin ich gar nicht so kritisch, das
ist ganz falsch, ich bin ganz liebend, wenn ich ins Theater gehe als Zuschauer,
und ich gehe sehr gern ins Theater, ich könnte davon leben, ins Theater zu
gehen. Das Theater ist doch das Leben. Es kann ein Dilettant auf der Bühne
stehen und glänzend erfüllen, was der Dichter gesagt hat, das gibt es auch,
wie im Leben. Es gibt doch auch Lebenskünstler, die in keiner Weise perfekt
sind und trotzdem das Leben schmeißen, glänzend, so daß man gern hinschaut...
Sind Sie eine Perfektionistin?
WESSELY: Das weiß ich nicht. Das hängt vom Autor ab, von der Stadt, hauptsächlich
vom Autor.
Auf
der Bühne wirken Sie oft so resolut und zugleich resignierend.
WESSELY: Vielleicht gefällt mir das, obwohl... Resignierend bin ich nicht,
deprimiert kann ich schon sein, aber Resignation erlaubt mir meine Religion
nicht. Ich glaub', das ist angeboren. Meine Eltern haben den Krieg mitgemacht,
wir waren nur zwei Mädeln, unser Vater war eingerückt im Ersten Weltkrieg, wir
haben alles verloren, was er aufgebaut hatte... Da können Sie nachlesen bei
Reinhold Schneider über die Todessehnsucht im Menschen, die doch wahrscheinlich
in jedem vorhanden ist. Da gibt's so gescheite Leut', die das wunderbar
formuliert haben, so gescheit bin ich nicht.
Was bedrückt Sie am meisten?
WESSELY: Wenn Menschen unglücklich sind, und man ihnen nicht helfen kann.
Ist die Welt gerecht?
WESSELY: Ja, wie soll ich das sagen? Da müßte man von Politik mehr verstehen.
Wir haben doch einen Beruf, der uns hineinzieht in das Leid der Menschen, das
führt natürlich zu einer gewissen Begrenzung, so daß wir dann, wenn wir einmal
rauskommen aus dem künstlichen Licht, sehr gern den blauen Himmel sehen und uns
an diesen Dingen aufbauen, die jedem Menschen zustehen und die sich jeder holen
kann... Ich glaub' an das Individuum, an die Kraft des Einzelnen, auch in
schwersten Zeiten. Da kann jeder einmal eine Fehlentscheidung treffen, das hat
er dann mit seinem Gewissen abzumachen. Wir sind doch so gezwungen, uns zu
konzentrieren. Ich bin kein Mann, kein Intendant oder sonstwas, ich muß meine
ganze Kraft verwenden, um den Kreis zu erfüllen, den ich lebe. Aber ich will
nicht, daß diese Antworten dann prätentiös herauskommen. Ich hasse das
Prätentiöse, das man so hinschmeißt, das Anmaßende...
Sind Sie kontrolliert auf der Bühne?
WESSELY: Verlieren darf ich mich nicht, sonst geht gar nichts. Josef Jarno, der
Theaterdirektor, hat gesagt, das ist wieder einmal eine Besessene... Ach, Gott,
über sich was sagen, das ist so schwer, wenn man das nicht so gut macht wie die
Knef. Das hasse ich so, dieses Gescheiterln über sich, dieses
So-alles-Besprechen. So gesehen gehöre ich vielleicht zu den Primitiven, obwohl
ich meine Rollen ganz auseinandernehme und einem Regisseur was anbieten kann.
Ich konnte mit den kompliziertesten gut zusammenarbeiten, konnte mit
Kortner******, mit den verschiedensten. Ich hab' es sehr gern, immer neue
Regisseure zu haben. Ich bin nicht so, daß ich immer mit dem gleichen arbeiten
will.
Was ist das Wesen Ihres Berufes?
WESSELY: Kampf, von früh bis abends.
Muß man nicht auch eine gewisse Neigung zum Exhibitionismus haben?
WESSELY: Nein, ich bestimmt nicht.
Verstecken Sie sich in Ihren Rollen?
WESSELY: Auch das nicht. Es gibt ja zwei Arten von Sich-Öffnen. Entweder man
tut es gerne oder man muß es tun, um aus dem Mitgefühl heraus eine tragische
Figur darstellen zu können. Aber natürlich bin immer ich es, die oben steht. Da
gibt es zwei Sätze von Reinhardt, die kann ich Ihnen zitieren. Die erste
Station eines Schauspielers ist, daß er sich selber findet. "Ich liebe
dich.“ "Ich hasse dich." Das kann man nicht einfach so sagen, das
glaubt man einem Schauspieler nur, wenn es aus einem Wissen kommt. Der zweite
Schritt ist, daß man die Person, die man ist, der Gestaltung unterordnet, daß
man in eine Gestalt hineinschlüpft. Aber zuerst muß man sich selber kennen.
Einen anderen Menschen kann man nur spielen, wenn man sich selbst schon
gefunden hat.
Haben Sie sich schon einmal geschämt in einer Rolle?
WESSELY: Ja, einmal, bei einer Fehlentscheidung im Film.
Bereuen Sie das?
WESSELY: Ich weiß nicht. Ich bin meinem Leben gegenüber so dankbar.
Gab es eine Zeit, in der Sie sich sagten: Ich will nicht mehr?
WESSELY: Ja, nach dem Krieg vielleicht…
Was war die schönste Zeit?
WESSELY: Alles war schön, ohne Kommentar...
In Ihrem beruflichen Leben?
WESSELY: Nein, aber ich hatte ja auch mein Mutterleben... Eine gewisse
Generation kennt mich ja nur vom Film, was aber ganz falsch ist. Ich war auf
dem Theater längst durchgesetzt, bevor ich zum Film kam. Ich bin ja nicht der
Typus, der sich ganz auf sein Frausein verlassen konnte, keine so genannt
schöne Frau. Ich hab' auf der Schauspielschule die Iphigenie vorgesprochen und
hab' mich dabei sehr komisch gefunden, aber ich war halt angeregt von der Figur,
weil ich in der Schule darüber einen Aufsatz geschrieben hatte. Ich hatte eine
sehr musische Lehrerin, die war mein Vorbild damals.
Heute sind Sie selbst Vorbild...
WESSELY: Ich weiß nicht. Für so klug halt' ich mich nicht. Andererseits bin ich
auch nicht so primitiv, daß ich ein Dummerl bin. Dagegen muß ich mich wehren.
Behandelt man Sie als Dummerl?
WESSELY: Ja, ein bissel schon, wenn man zum Beispiel sagt, ich sei naiv.
Naivität ist doch Unwissenheit, das trifft nicht auf mich zu. Es gibt ja auch
ganz große Naive, schaun Sie sich die ganz großen Bildhauer an... Jetzt kommen
wir endlich auf das richtige Thema. Geholt habe ich mein Material eigentlich
aus den anderen Künsten, als junger Mensch. Jung sein ist ja sehr schwer, auch
wenn man Erfolg hat. Finden Sie nicht, daß das Jungsein sehr schwer ist? Ich
frag' Sie, Sie sind doch mittendrin, Sie sind doch ein junger Mensch, ist das
nicht schwer? Na, das ist doch schwer, also für uns war es wahnsinnig schwer,
weil alles verarmt war und niemand zu essen hatte. Wir haben nicht einmal einen
schwarzen Kaffee gehabt. Mein Vater war so ein Mensch, himmelhoch jauchzend, zu
Tode betrübt. Wie der Krieg gekommen ist und alles verloren war, bekam er dann
Lebensangst, die hab' ich vielleicht geerbt. Mein erster großer
Kindheitseindruck war das Wort "Weltkrieg", da war ich sieben Jahre
alt, aber das hab' ich schon vollkommen erfaßt, sprachlich, darum wundern Sie
sich nicht, wenn ich sag, ich hol's aus dem Wort. Dann kam die Zertrümmerung
der Monarchie, das darf man ja auch nicht vergessen. Zuerst waren wir fünfzig
Millionen, jetzt nur noch sieben. Zwei Kriege mitgemacht zu haben, das ist
schon einschneidend... Also die Lebensangst hab ich vom Vater. Vor jedem
Schulbesuch hatte ich Lampenfieber, und dann bin ich ausgerechnet in diesen
Beruf gegangen! Aber daß ich jemals zum Film komm', hätte ich nie gedacht. Ich
war doch so ein rundes Durchschnittsgesicht. Ich wollte nur gut sein, einen
Satz so gut sprechen wie die Großen, ja, gut wollte ich sein, nicht berühmt, das
ist vielleicht typisch österreichisch, daß man Angst hat vor der Fallhöhe, aus
der man wieder hinabstürzen kann. Wie heißt es bei Raimund? Da bleib' ich
lieber ein armer Gärtner. Das ist ganz stark in meiner Familie... Heute spielt
die Fallhöhe nicht mehr so eine Rolle. Jetzt bin ich schon so alt, die Angst
hab' ich jetzt für meine Kinder, daß die ihr Leben meistern innerhalb des
Berufes, damit etwas wird aus unserem Stand. Dieser Beruf hat doch viel
draufgekriegt, seit es den Film gibt. Das wurde doch früher gar nicht so
hochgespielt, wenn man Schauspielerin war, daß man da so hineingeleuchtet hat
mit dem Teleobjektiv in das Private, in die Intimsphäre, daß jeder gleich weiß,
ob man ein Kind kriegt. Deshalb bin ich froh, daß ich so alt bin und daß das
vorbeigegangen ist an mir, trotz der Fehlentscheidungen, die ich getroffen
hab'...
Fühlen Sie sich manchmal überfordert?
WESSELY: Ja, wenn mir Unrecht geschieht.
Was meinen Sie?
WESSELY: Nach dem Krieg, 1945, als man mir bestimmte Filme vorwarf, die ich im Krieg
gemacht hatte, ohne mich zu fragen, wie es dazu gekommen war, da hat man nicht
gesehen, wer ich war. Da habe ich mich dann ein bissel zurückgezogen... So,
jetzt haben Sie mich dort, wo Sie mich hinhaben wollten... An sich bin ich ja
gar nicht mißtrauisch, nur, wenn ich wo hineinfall', wenn ich spür', daß einer
was hinten hält. Da hab' ich einen sechsten Sinn, so was entgeht mir nicht.
Ich halte nichts hinten.
WESSELY: Man war doch damals innerlich ganz wer anderer... Aber jetzt wollen
wir Schluß machen, bitte! Wenn Sie jetzt schreiben, ich sei eine mißtrauische
Person, täte es mir sehr leid, daß ich zu dem Interview ja gesagt hab'. Da
müßte ich sofort aufstehen und gehen, wenn Sie das sagen... (Steht auf, dämpft
ihre Zigarette aus, setzt sich wieder...) Man kann sich doch nicht aussuchen,
mit welchen Leuten man zu tun hat beim Film oder Theater. Man steht ja unter
einer gewissen Pflicht einem Betrieb gegenüber. Da lese ich, die Wessely kann
sich ihre Rollen aussuchen. Das ist doch ganz falsch. Wenn man in einem Betrieb
drinsteht, wenn man fest engagiert ist, kann man doch gar nicht wählen. Darum
bin ich ja so gerne alleine, weil ich da wählen kann... Aber Narziß bin ich
keiner, das dürfen Sie auch nicht glauben. Komplexe habe ich keine, weil ich
eine sehr gute Lehrerin gehabt hab', in Geografie, Geschichte, Singen und
Deutsch, die das Musische in mir geweckt hat. Das ist entscheidend, wenn man so
jemandem begegnet mit elf Jahren... Nein, mißtrauisch bin ich nicht, aber scheu
bin ich geworden, weil falsche Bilder von mir gezeichnet wurden, einmal
negative, dann überschwengliche. Wenn mir jemand was tut, heilen die Wunden
schwer, wenn falsche Bilder von mir kursieren. In der Schule hat man über mich
g'sagt, die ist sehr intelligent und sensibel. Heute sind diese Begriffe
verschoben. Nur in England gibt es das heute noch, daß man, wenn man jemanden
heiratet, im College nachfragen kann, wie der dort abschnitt, das finde ich
herrlich, auch die moralischen Qualitäten kann man nachfragen. Intelligenz
kommt ja von interlegere, das heißt hineinlesen. Ich lese etwas, und dann singe
ich es auf dem Theater…
Warum lächeln Sie?
WESSELY: Weil ich nachdenke, weil ich nicht wieder wen zitieren will, der
gescheiter als ich ist. Aber warum nicht? Warum nicht zitieren? Wenn man so
empfindet und man liest es wo und man sagt sich, der hat's getroffen, da geh'
ich in die Knie, weil ich den bewundere, weil er die Formulierungskraft hat.
Meine Aufgabe ist es ja, zu interpretieren, nicht zu schöpfen. Das einzige
Schöpferische an mir ist, daß ich einen Dichter, Goethe zum Beispiel, lebendig
machen kann... (klatscht in die Hände...) Da freut man sich. Da denke ich
jedesmal, wenn mir das gelingt bei einem schon toten Autor, Gott, der tät sich
freuen, daß er so lang lebt. Ja, das denk' ich dann. Vielleicht ist es auch
eine Sehnsucht, daß man hier und da wer anderer sein kann oder ethisch höher
stehen kann in einer Rolle, höher als man selbst ist im Leben. Kunst
verdichtet. Die Dichte macht's aus. Da kann mich auch eine Schauspielerin fesseln,
die ganz anders als ich ist, manchmal sogar eine Dilettantin, die als Mensch
eine Ausstrahlung hat, die mich unterhält oder amüsiert. Der Mensch an sich, in
seinen Bedrohungen, der interessiert mich. Nicht tragisch ist ja überhaupt
nichts auf der Welt. Nur einfühlen muß man sich. Als meine Tante noch lebte,
hatte die Sentimentale, die sich ihr ganzes Leben damit abgibt, Theater zu
spielen, mitzufühlen mit anderen, sich zu entäußern, indem sie etwas von ihrem
Leben aufgibt, das ist dann im Film anders geworden. Aber was wollt' ich denn
sagen? Jetzt bin ich abgekommen, jetzt hab' ich das Ziel verloren... (trommelt
mit den Fäusten auf ihre Knie...) Ich les' irrsinnig gern, das wollt' ich
sagen, weil da nur das Wort ist, das Wort ohne Geste. Ich muß ja am Theater so
oft die Zergangenen spielen, der Ausdruck stammt von Kerr, oft liegt mir das
gar nicht, weil ich selber gar keine Zergangene bin. Ich bin kein Narziß, ich
bin nicht verliebt in mich, aber das stört mich schon, daß ich in ein Bild
gedrängt worden bin. Ich hab' sehr gern auch unsympathische Frauen gespielt,
denn so ist das Leben, und da fängt die Kunst an: daß man für etwas brennt, was
nicht unbedingt den Beifall der vielen hat. Von daher kommen meine Widerstände
gegen das Fernsehen, weil man da einer Masse genügen soll und die Stimmzahl
entscheidet, ob man ja zu mir sagt, ich aber nicht weiß, wer das ist, der da ja
oder nein sagt. 1963 habe ich in dem Stück "Schnee" von Paul Willems
eine alte Frau gespielt, die einmal geliebt hat und die den Mann immer noch
liebt, aber der spuckt sie an, da hat man gesagt, was, so was spielst du, wo
dich ein Mann anspuckt? Da macht man sich unbeliebt, das sind dann die Grenzen
zwischen dem Publikum und dem Künstler... Daß ich einen Filmweg gemacht hab',
ist ein Wunder. Bis ich soweit war, daß mein Gesicht aufgeht, das hat lange
gedauert, und im Film kommt ja alles aus dem Gesicht. Das Spiel der Hände, das
hat man mir in den Kritiken immer schon zugestanden, das hat gefallen, das ist
sicher angeboren, aber das Gesicht, das war ganz zu.
Haben Sie einmal mit dem Gedanken gespielt, Ihren Beruf aufzugeben?
WESSELY: Ja, nach dem Krieg, da wollte ich aufhören, um kochen zu lernen.
Kochen würde ich gerne können, weil ich eine schlechte Ehefrau bin. Ich bin
nicht unbegabt für den Haushalt, aber ich hab's ja nicht nötig, weil ich ja
eine Hilfe habe, die Goschi...
Und wenn Sie die nicht hätten?
WESSELY: Dann müßte es eben ich tun. Wenn ich muß, kann ich alles. Das ist
vielleicht das Hervorstechende: Wenn ein eisernes Muß da ist, dann kommt auch
die Anregung, die Inspiration. Ich bin zum Theater gegangen, weil dieses Muß da
war, ich bin da nicht hingegangen, um Geld zu verdienen, ich war sehr
überrascht, daß das dann geschah. Ich staune noch über das, was mir widerfährt
in der Welt. Meine älteste Tochter hat einmal zu mir gesagt, Mammi, die sagen
immer, du gehörst noch einer Generation an, die staunen kann. Drum kann ich
auch Klassiker spielen, da muß man staunen können und lieben können, um so
etwas richtig zu spielen. Drum hab' ich auch "Liebelei" spielen
können, das süße Mädel, aber so, daß die nicht gleich als eine Geschlagene, als
Tragödie hereinkommt... (schlägt sich mit der Hand auf den Mund...) Aber ich
red‘ so viel. Ich hab' mich nicht gern, wenn ich so drauflosrede. Ich hör' mich
nicht gern, ich hab' mich nicht selber so gern, aber ich kann mich irrsinnig
freuen über Bestätigungen, wenn man doch eine gewisse Allgemeinheit
zufriedenstellt oder amüsiert oder bewegt. Ich mach' schon gern Freud'. Aber
ich hasse dieses Überbewerten, diese Überbewertung des Schauspielers, ich mag's
nicht, wenn ich's an anderen sehe, ich halte einen Arzt, einen schöpferischen,
für wichtiger, Schnitzler... ! Mein Gott, was ich rede! Jetzt erzählen S' doch
etwas von sich! Welcher Jahrgang sind S' denn?
1946.
WESSELY: Haha, ganz jung, ein Mann, der fangt doch erst zwischen dreißig und
vierzig an, bis dorthin ist er ein Kind, ein Jüngling, wenn er sich auch schon
reif fühlt, geistig. Aber das Schöne, das kommt erst später, die Bestätigung. Ja,
es ist schwer, jung sein. Haben Sie's schwer? Ich bin mit fünfzehn an die
Akademie gekommen, zu jung, um die Ängste ermessen zu können, ich war ja ein
störrisches Kind, aber die Disziplin, die hatte ich immer, die ist mir
angeboren, deshalb konnte ich auch mit den sogenannten schwierigen Regisseuren
sehr gut. Kortner! Mit dem hab' ich nie raufen müssen, das sind alles Legenden,
Frau Seidler hat gerauft, aber ich nicht, er hat sich vor mir gefürchtet, ich
mich noch mehr vor ihm, aber gerauft haben wir nie, nicht eine Minute. Wenn er
gesagt hat, ich soll ein Gesicht machen, wenn er mich auf einen Typ festlegen
wollte, hab' ich nur gesagt: Kortner! Mahnend. Und nie mehr hat er so was
gesagt. Er war zum Lieben, weil er genauso schwach war wie alle und gezittert
hat, und wenn man das erkannt hat, dann ist es gegangen, nur Mißtrauen durfte
man keines haben, aber mißtrauisch bin ich ja nicht, das wäre nicht gut, wenn
Sie schrieben, daß ich mißtrauisch bin ... So jetzt drehen Sie aber Ihren Käs'
ab.... (zeigt auf das Tonband...) Jetzt machen wir Schluß.
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*) Während des ganzen Interviews war Paula Wessely anzumerken, daß sie befürchtete, nach ihrer Arbeit während des Nationalsozialismus befragt zu werden. 1941 spielte sie die weibliche Hauptrolle in dem NS-Propagandafilm „Heimkehr“.
**) Christiane Hörbiger, Elisabeth Orth, Maresa
Hörbiger
***) Hildegard Knef, „Der geschenkte Gaul“, erschienen
1970
****) Boy Gobert (1925 - 1986), von 1969 bis 1980 Intendant des Hamburger Thalia-Theaters
*****) Paula Wessely war von 1953 bis zu ihrem Tod (2000) Ensemblemitglied des Wiener Burgtheaters.
******) Fritz Kortner (1892 - 1970), österreichischer Schauspieler und Theaterregisseur
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Erschienen in: André Müller, „Entblößungen“, 1979