Interview mit Paula Wessely 1971

(als sie am Hamburger Thalia-Theater in Franz Molnars „Olympia“ gastierte)



WESSELY: Was wollen Sie eigentlich?

Sie kennenlernen.

WESSELY: Haben Sie eine bestimmte Vorstellung?

Nein.

WESSELY: Man hat bestimmt nicht die richtige Vorstellung von mir. Da gibt's viele Gründe, warum das vielleicht langsam eine Summe geworden ist, nachdem ich vielleicht nicht mehr ganz jung bin und ein beschriebenes Blatt bin und in sehr bewegten Zeiten gearbeitet hab' und eine Familie beim Theater hab', da ist es selbstverständlich, daß gewisse Dinge, zu denen man schweigt, einer Frau aufgeladen werden.* Sehr gescheite Leut' haben einmal gesagt, es geht immer an den Frauen aus. Das ist ganz natürlich...

Sind Sie mißtrauisch?

WESSELY: Nicht mißtrauisch, nein, das gar nicht, das wäre ganz falsch, wenn Sie das schrieben. Nur scheu vielleicht, ich war schon immer ein bißchen scheu, die Scheu hab' ich von meiner Tante geerbt, Josefine Wessely, die Hofschauspielerin war, und dann hab' ich auch eine Kusine, die heißt auch Josefine und war auch beim Theater, die ist zufällig am selben Tag geboren wie meine Schwester, die aber schon tot ist. Und dann sind da noch meine drei Töchter und mein Mann und mein Schwager, die sind auch alle beim Theater. Darf ich Ihnen sagen, mich langweilt's, dauernd diese Geschichten erzählen zu müssen. Mein Mann erzählt sie ganz gerne, der ist da ganz unbefangen, plaudert drauflos, auch meine Mädeln**, die legen Wert darauf, daß sie dieses Medium Interview beschreiten. Ich habe ja lange Zeit einen Filmweg gehabt, wo das auch gemacht wurde, Reklame, die einem nicht immer gepaßt hat, da ist vieles geschrieben worden, zum Beispiel mein Geburtsdatum. In Deutschland bin ich erst 1908 geboren, das schaut so aus, als ob ich so dumm wäre und mich um ein Jahr zurückdrehen würde. Deutschland feiert mich 1908, aber ich sage natürlich die Wahrheit und bin 1907 geboren. Das sind so Dinge, die so kleine Legenden ergeben haben. Man ist oft an mich herangetreten, ich solle meine Erinnerungen schreiben, aber seitdem die Knef dieses fabelhafte Buch*** gemacht hat, schenk' ich mir das. Man müßte ja selber schreiben, und soweit bin ich noch nicht, ich sag's ehrlich, soviel Zeit hab' ich noch nicht, auch nicht den Impetus. Ich hab' es versucht ein, zweimal, aber ich weiß nicht... Die Knef kann das besser. Das ist kein Hochmut, ich war immer so, ich hab' mein Urprivatestes immer für mich behalten. Nachdem drei Kinder und der Mann und der Schwager beim Theater sind, bin ich doch traditionsgebunden. Mit der Josefine war's leichter, weil die schon 1887 gestorben ist... Aber wen interessiert denn das alles? Wer soll denn das lesen? Für wen wollen Sie denn das schreiben? Ein älterer Mann am Theater, das ist vielleicht interessanter, oder drei junge Menschen, aber wenn da auch noch die alte Mutter dazukommt... Wissen Sie, das ist eine angeborene Eigenschaft von mir, sich nicht für so wichtig zu halten. Ich halte das, was man produziert, für wichtiger als das, was man privat ist. Es ist auch nicht gut, immer alles so zu zerdiskutieren... (nimmt einen Schluck Kaffee...) Sehen Sie, dieser Kaffee, der unberühmte, nicht der berühmte, herrlich, da ist alles erfaßt, durchdacht, wunderbar... Aber im Leben, da verschiebt sich ja alles so, man wandelt sich ja, man sieht die Dinge nach zwanzig Jahren ganz anders. Ich hasse diese Festlegungen. Einmal sagt man, ich bin eine Gefühlsschauspielerin, in Wirklichkeit hasse ich jede Sentimentalität. Aber was nützt es denn, wenn ich das sage? Ich gebe zu, ein gewisser Interessenkreis bleibt vielleicht vernachlässigt. Aber so bin ich nun einmal. Es ist eine Scheu, den Schauspielerberuf so wichtig zu nehmen. Dieser Beruf ist doch nur eine Auswirkung, zum Beispiel eines Autors. Das liegt tief in mir drin. Meine Leitbilder waren alle so. Die Helene Thimig hat mir einmal gesagt, auch der Reinhardt habe so ungern etwas Schriftliches aus der Hand gegeben. Dem hab' ich mich angeschlossen. Zum Torberg hab' ich einmal gesagt, ich hab' es verströmen lassen... 

Ist Ihnen der Beruf wichtiger als die Familie?

WESSELY: Nein, aber das eine geht immer auf Kosten des andern. Wenn ich mich mehr um die Familie kümmere, bleibe ich dem Beruf etwas schuldig. Wenn ich hundertprozentig der Beruf bin, hat die Familie den Nachteil. So ist das. Das bin zutiefst ich. Es kommt ja auch vor, daß einen der Beruf nicht befriedigt. Das passiert zwischendurch, wenn man en suite spielt, daß man diese gewissen Phasen hat... Das hat nur einer herrlich beantwortet, Gründgens, als er gefragt wurde: Was denken Sie sich, wenn Sie den Mephisto spielen? Der konnte das definieren, dieses Unausprechbare, ich kann es nicht, ich käme in ein Dozieren, darum gebe ich auch keine Interviews. Was soll ich denn in so einem Interview sagen? Meine Pläne sind oft nicht konkret, das ist bei mir nicht wie bei einer Sängerin, die sagen kann, übermorgen singe ich an der Met, mache das und das, nein, so ist es bei mir nie gewesen, ich bin eine manchmal Zögernde im Entschluß, manchmal sagt man dann, ich sei schwierig, aber das ist oft ganz falsch, das stimmt manchmal alles nicht so haarscharf... 

Sie spielen im Hamburg die Fürstin Eugenie in Molnars „Olympia“, eine komische Rolle....

WESSELY:  Ja, ich hab' dem Gobert**** mit Kniefall gedankt, daß er mir die Gelegenheit gab. In Wien***** kommen solche Stücke wie "Bunbury" oder "Olympia" ja nur alle zehn Jahre, und das wird dann von der hinreißenden Alma Seidler oder von Adrienne Gessner oder von der altersmäßig nachwachsenden Nicoletti gespielt. Da haben sie mich dann immer in die schweren Rollen gedrängt. Aber es kommt auch von mir selbst. Komisch bin ich ja nicht, ich bin keine Komikerin im engen Sinne, aber ich komme schon aus dem Humor, so habe ich ja begonnen, als Lustspiel-Soubrette, ich glaub' schon, daß ich ihn hab', den Humor, zumindest liebe ich ihn. Ich lache gern. Ich bin gern unter heiteren Menschen. Aber ich kann auch sehr gut allein sein, immer schon, als Mädel schon, und ich hab' auch gewisse Grenzen der Impressionsaufnahme, das hab' ich schon sehr früh erkannt, ich hab' nie einen Urlaub verkauft, also nie Theater gespielt, anstatt mich zu erholen. Ich hab' immer den Sinn gehabt für die Pause, um wieder zu mir zu kommen. Ich kenne die Grenzen meiner physischen Kraft oder meine Verantwortung dem Publikum gegenüber, je nachdem, wie Sie es nennen wollen. In einem so reichen Leben, da kommen oft mehrere bewegende Dinge gleichzeitig auf einen zu, das kann man sich nicht aussuchen. 1907 bin ich geboren in der Monarchie, dann hab' ich in der Volksschule den ersten Krieg erlebt, dann hab' ich die erste Demokratie erlebt... Schaun Sie, wie weit soll ich ausholen in so einem Interview? Ich bin sonst gar nicht gern schwatzhaft. In der Schnelligkeit oft, da fragt dann einer, sagen S' mir, Frau Wessely, was denken Sie über Fußball, und dann kommt raus, ja, die Frau Wessely hat von den Regeln ka Ahnung, als ob ich eine dumme Gans wär. Das laß ich mich nicht gerne nennen von jemandem, der keine Zeit hat. Da krieg' ich einen solchen Zorn, daß ich zwei Jahre lang überhaupt nichts mehr sage. Meine Kinder sagen immer, Mammi, schließ dich nicht so ab, red' mit den Jungen, und dann mach ich's, und dann kommen die entzückendsten Begegnungen privat zustande, was aber geschrieben wird, ist etwas ganz anderes, und dann dichten sich die Leute, die einem nicht gut gesinnt sind, Romane zusammen. Da ziehe ich mich dann zwei, drei Jahre wieder zurück wie ein Igel. Darum geht mir dieser Ruf voraus, daß ich eine Verschlossene bin. Aber es ist mir auch nicht wichtig, ich kümmere mich auch nicht darum. Dazu bin ich eine zu besessene Schauspielerin immer gewesen... Haben Sie schon Ihren Kaffee? Zucker? Ich nehm' meinen Kunststoff, damit ich schlank bleib'...  Zwei Zucker? Zwei ganze? So? (Wirft zwei Stück Würfelzucker in meine Tasse...) Wissen Sie, es ist manchmal nicht sehr angenehm, wenn man so anspruchsvoll ist, sich selbst gegenüber. Ich meine diesen hohen Maßstab, den man an sich legt, weil man anders nicht kann, weil das eben das Lebensgefühl ist, das man hat. Der Hans Weigel hat einmal geschrieben, den Maßstab, den ich an mich selber anlege, den wende ich auch an anderen an. Dabei bin ich gar nicht so kritisch, das ist ganz falsch, ich bin ganz liebend, wenn ich ins Theater gehe als Zuschauer, und ich gehe sehr gern ins Theater, ich könnte davon leben, ins Theater zu gehen. Das Theater ist doch das Leben. Es kann ein Dilettant auf der Bühne stehen und glänzend erfüllen, was der Dichter gesagt hat, das gibt es auch, wie im Leben. Es gibt doch auch Lebenskünstler, die in keiner Weise perfekt sind und trotzdem das Leben schmeißen, glänzend, so daß man gern hinschaut...

Sind Sie eine Perfektionistin?

WESSELY: Das weiß ich nicht. Das hängt vom Autor ab, von der Stadt, hauptsächlich vom Autor.

Auf der Bühne wirken Sie oft so resolut und zugleich resignierend.

WESSELY: Vielleicht gefällt mir das, obwohl... Resignierend bin ich nicht, deprimiert kann ich schon sein, aber Resignation erlaubt mir meine Religion nicht. Ich glaub', das ist angeboren. Meine Eltern haben den Krieg mitgemacht, wir waren nur zwei Mädeln, unser Vater war eingerückt im Ersten Weltkrieg, wir haben alles verloren, was er aufgebaut hatte... Da können Sie nachlesen bei Reinhold Schneider über die Todessehnsucht im Menschen, die doch wahrscheinlich in jedem vorhanden ist. Da gibt's so gescheite Leut', die das wunderbar formuliert haben, so gescheit bin ich nicht.

Was bedrückt Sie am meisten?

WESSELY: Wenn Menschen unglücklich sind, und man ihnen nicht helfen kann.

Ist die Welt gerecht?

WESSELY: Ja, wie soll ich das sagen? Da müßte man von Politik mehr verstehen. Wir haben doch einen Beruf, der uns hineinzieht in das Leid der Menschen, das führt natürlich zu einer gewissen Begrenzung, so daß wir dann, wenn wir einmal rauskommen aus dem künstlichen Licht, sehr gern den blauen Himmel sehen und uns an diesen Dingen aufbauen, die jedem Menschen zustehen und die sich jeder holen kann... Ich glaub' an das Individuum, an die Kraft des Einzelnen, auch in schwersten Zeiten. Da kann jeder einmal eine Fehlentscheidung treffen, das hat er dann mit seinem Gewissen abzumachen. Wir sind doch so gezwungen, uns zu konzentrieren. Ich bin kein Mann, kein Intendant oder sonstwas, ich muß meine ganze Kraft verwenden, um den Kreis zu erfüllen, den ich lebe. Aber ich will nicht, daß diese Antworten dann prätentiös herauskommen. Ich hasse das Prätentiöse, das man so hinschmeißt, das Anmaßende...
 
Sind Sie kontrolliert auf der Bühne?

WESSELY: Verlieren darf ich mich nicht, sonst geht gar nichts. Josef Jarno, der Theaterdirektor, hat gesagt, das ist wieder einmal eine Besessene... Ach, Gott, über sich was sagen, das ist so schwer, wenn man das nicht so gut macht wie die Knef. Das hasse ich so, dieses Gescheiterln über sich, dieses So-alles-Besprechen. So gesehen gehöre ich vielleicht zu den Primitiven, obwohl ich meine Rollen ganz auseinandernehme und einem Regisseur was anbieten kann. Ich konnte mit den kompliziertesten gut zusammenarbeiten, konnte mit Kortner******, mit den verschiedensten. Ich hab' es sehr gern, immer neue Regisseure zu haben. Ich bin nicht so, daß ich immer mit dem gleichen arbeiten will.

Was ist das Wesen Ihres Berufes?

WESSELY: Kampf, von früh bis abends.

Muß man nicht auch eine gewisse Neigung zum Exhibitionismus haben?

WESSELY: Nein, ich bestimmt nicht.

Verstecken Sie sich in Ihren Rollen?

WESSELY: Auch das nicht. Es gibt ja zwei Arten von Sich-Öffnen. Entweder man tut es gerne oder man muß es tun, um aus dem Mitgefühl heraus eine tragische Figur darstellen zu können. Aber natürlich bin immer ich es, die oben steht. Da gibt es zwei Sätze von Reinhardt, die kann ich Ihnen zitieren. Die erste Station eines Schauspielers ist, daß er sich selber findet. "Ich liebe dich.“ "Ich hasse dich." Das kann man nicht einfach so sagen, das glaubt man einem Schauspieler nur, wenn es aus einem Wissen kommt. Der zweite Schritt ist, daß man die Person, die man ist, der Gestaltung unterordnet, daß man in eine Gestalt hineinschlüpft. Aber zuerst muß man sich selber kennen. Einen anderen Menschen kann man nur spielen, wenn man sich selbst schon gefunden hat.

Haben Sie sich schon einmal geschämt in einer Rolle?

WESSELY: Ja, einmal, bei einer Fehlentscheidung im Film.

Bereuen Sie das?

WESSELY: Ich weiß nicht. Ich bin meinem Leben gegenüber so dankbar.

Gab es eine Zeit, in der Sie sich sagten: Ich will nicht mehr?

WESSELY: Ja, nach dem Krieg vielleicht…

Was war die schönste Zeit?

WESSELY: Alles war schön, ohne Kommentar... 

In Ihrem beruflichen Leben?

WESSELY: Nein, aber ich hatte ja auch mein Mutterleben... Eine gewisse Generation kennt mich ja nur vom Film, was aber ganz falsch ist. Ich war auf dem Theater längst durchgesetzt, bevor ich zum Film kam. Ich bin ja nicht der Typus, der sich ganz auf sein Frausein verlassen konnte, keine so genannt schöne Frau. Ich hab' auf der Schauspielschule die Iphigenie vorgesprochen und hab' mich dabei sehr komisch gefunden, aber ich war halt angeregt von der Figur, weil ich in der Schule darüber einen Aufsatz geschrieben hatte. Ich hatte eine sehr musische Lehrerin, die war mein Vorbild damals.

Heute sind Sie selbst Vorbild...

WESSELY: Ich weiß nicht. Für so klug halt' ich mich nicht. Andererseits bin ich auch nicht so primitiv, daß ich ein Dummerl bin. Dagegen muß ich mich wehren.

Behandelt man Sie als Dummerl?

WESSELY: Ja, ein bissel schon, wenn man zum Beispiel sagt, ich sei naiv. Naivität ist doch Unwissenheit, das trifft nicht auf mich zu. Es gibt ja auch ganz große Naive, schaun Sie sich die ganz großen Bildhauer an... Jetzt kommen wir endlich auf das richtige Thema. Geholt habe ich mein Material eigentlich aus den anderen Künsten, als junger Mensch. Jung sein ist ja sehr schwer, auch wenn man Erfolg hat. Finden Sie nicht, daß das Jungsein sehr schwer ist? Ich frag' Sie, Sie sind doch mittendrin, Sie sind doch ein junger Mensch, ist das nicht schwer? Na, das ist doch schwer, also für uns war es wahnsinnig schwer, weil alles verarmt war und niemand zu essen hatte. Wir haben nicht einmal einen schwarzen Kaffee gehabt. Mein Vater war so ein Mensch, himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt. Wie der Krieg gekommen ist und alles verloren war, bekam er dann Lebensangst, die hab' ich vielleicht geerbt. Mein erster großer Kindheitseindruck war das Wort "Weltkrieg", da war ich sieben Jahre alt, aber das hab' ich schon vollkommen erfaßt, sprachlich, darum wundern Sie sich nicht, wenn ich sag, ich hol's aus dem Wort. Dann kam die Zertrümmerung der Monarchie, das darf man ja auch nicht vergessen. Zuerst waren wir fünfzig Millionen, jetzt nur noch sieben. Zwei Kriege mitgemacht zu haben, das ist schon einschneidend... Also die Lebensangst hab ich vom Vater. Vor jedem Schulbesuch hatte ich Lampenfieber, und dann bin ich ausgerechnet in diesen Beruf gegangen! Aber daß ich jemals zum Film komm', hätte ich nie gedacht. Ich war doch so ein rundes Durchschnittsgesicht. Ich wollte nur gut sein, einen Satz so gut sprechen wie die Großen, ja, gut wollte ich sein, nicht berühmt, das ist vielleicht typisch österreichisch, daß man Angst hat vor der Fallhöhe, aus der man wieder hinabstürzen kann. Wie heißt es bei Raimund? Da bleib' ich lieber ein armer Gärtner. Das ist ganz stark in meiner Familie... Heute spielt die Fallhöhe nicht mehr so eine Rolle. Jetzt bin ich schon so alt, die Angst hab' ich jetzt für meine Kinder, daß die ihr Leben meistern innerhalb des Berufes, damit etwas wird aus unserem Stand. Dieser Beruf hat doch viel draufgekriegt, seit es den Film gibt. Das wurde doch früher gar nicht so hochgespielt, wenn man Schauspielerin war, daß man da so hineingeleuchtet hat mit dem Teleobjektiv in das Private, in die Intimsphäre, daß jeder gleich weiß, ob man ein Kind kriegt. Deshalb bin ich froh, daß ich so alt bin und daß das vorbeigegangen ist an mir, trotz der Fehlentscheidungen, die ich getroffen hab'...

Fühlen Sie sich manchmal überfordert?

WESSELY: Ja, wenn mir Unrecht geschieht.

Was meinen Sie?

WESSELY: Nach dem Krieg, 1945, als man mir bestimmte Filme vorwarf, die ich im Krieg gemacht hatte, ohne mich zu fragen, wie es dazu gekommen war, da hat man nicht gesehen, wer ich war. Da habe ich mich dann ein bissel zurückgezogen... So, jetzt haben Sie mich dort, wo Sie mich hinhaben wollten... An sich bin ich ja gar nicht mißtrauisch, nur, wenn ich wo hineinfall', wenn ich spür', daß einer was hinten hält. Da hab' ich einen sechsten Sinn, so was entgeht mir nicht.

Ich halte nichts hinten.

WESSELY: Man war doch damals innerlich ganz wer anderer... Aber jetzt wollen wir Schluß machen, bitte! Wenn Sie jetzt schreiben, ich sei eine mißtrauische Person, täte es mir sehr leid, daß ich zu dem Interview ja gesagt hab'. Da müßte ich sofort aufstehen und gehen, wenn Sie das sagen... (Steht auf, dämpft ihre Zigarette aus, setzt sich wieder...) Man kann sich doch nicht aussuchen, mit welchen Leuten man zu tun hat beim Film oder Theater. Man steht ja unter einer gewissen Pflicht einem Betrieb gegenüber. Da lese ich, die Wessely kann sich ihre Rollen aussuchen. Das ist doch ganz falsch. Wenn man in einem Betrieb drinsteht, wenn man fest engagiert ist, kann man doch gar nicht wählen. Darum bin ich ja so gerne alleine, weil ich da wählen kann... Aber Narziß bin ich keiner, das dürfen Sie auch nicht glauben. Komplexe habe ich keine, weil ich eine sehr gute Lehrerin gehabt hab', in Geografie, Geschichte, Singen und Deutsch, die das Musische in mir geweckt hat. Das ist entscheidend, wenn man so jemandem begegnet mit elf Jahren... Nein, mißtrauisch bin ich nicht, aber scheu bin ich geworden, weil falsche Bilder von mir gezeichnet wurden, einmal negative, dann überschwengliche. Wenn mir jemand was tut, heilen die Wunden schwer, wenn falsche Bilder von mir kursieren. In der Schule hat man über mich g'sagt, die ist sehr intelligent und sensibel. Heute sind diese Begriffe verschoben. Nur in England gibt es das heute noch, daß man, wenn man jemanden heiratet, im College nachfragen kann, wie der dort abschnitt, das finde ich herrlich, auch die moralischen Qualitäten kann man nachfragen. Intelligenz kommt ja von interlegere, das heißt hineinlesen. Ich lese etwas, und dann singe ich es auf dem Theater…

Warum lächeln Sie?

WESSELY: Weil ich nachdenke, weil ich nicht wieder wen zitieren will, der gescheiter als ich ist. Aber warum nicht? Warum nicht zitieren? Wenn man so empfindet und man liest es wo und man sagt sich, der hat's getroffen, da geh' ich in die Knie, weil ich den bewundere, weil er die Formulierungskraft hat. Meine Aufgabe ist es ja, zu interpretieren, nicht zu schöpfen. Das einzige Schöpferische an mir ist, daß ich einen Dichter, Goethe zum Beispiel, lebendig machen kann... (klatscht in die Hände...) Da freut man sich. Da denke ich jedesmal, wenn mir das gelingt bei einem schon toten Autor, Gott, der tät sich freuen, daß er so lang lebt. Ja, das denk' ich dann. Vielleicht ist es auch eine Sehnsucht, daß man hier und da wer anderer sein kann oder ethisch höher stehen kann in einer Rolle, höher als man selbst ist im Leben. Kunst verdichtet. Die Dichte macht's aus. Da kann mich auch eine Schauspielerin fesseln, die ganz anders als ich ist, manchmal sogar eine Dilettantin, die als Mensch eine Ausstrahlung hat, die mich unterhält oder amüsiert. Der Mensch an sich, in seinen Bedrohungen, der interessiert mich. Nicht tragisch ist ja überhaupt nichts auf der Welt. Nur einfühlen muß man sich. Als meine Tante noch lebte, hatte die Sentimentale, die sich ihr ganzes Leben damit abgibt, Theater zu spielen, mitzufühlen mit anderen, sich zu entäußern, indem sie etwas von ihrem Leben aufgibt, das ist dann im Film anders geworden. Aber was wollt' ich denn sagen? Jetzt bin ich abgekommen, jetzt hab' ich das Ziel verloren... (trommelt mit den Fäusten auf ihre Knie...) Ich les' irrsinnig gern, das wollt' ich sagen, weil da nur das Wort ist, das Wort ohne Geste. Ich muß ja am Theater so oft die Zergangenen spielen, der Ausdruck stammt von Kerr, oft liegt mir das gar nicht, weil ich selber gar keine Zergangene bin. Ich bin kein Narziß, ich bin nicht verliebt in mich, aber das stört mich schon, daß ich in ein Bild gedrängt worden bin. Ich hab' sehr gern auch unsympathische Frauen gespielt, denn so ist das Leben, und da fängt die Kunst an: daß man für etwas brennt, was nicht unbedingt den Beifall der vielen hat. Von daher kommen meine Widerstände gegen das Fernsehen, weil man da einer Masse genügen soll und die Stimmzahl entscheidet, ob man ja zu mir sagt, ich aber nicht weiß, wer das ist, der da ja oder nein sagt. 1963 habe ich in dem Stück "Schnee" von Paul Willems eine alte Frau gespielt, die einmal geliebt hat und die den Mann immer noch liebt, aber der spuckt sie an, da hat man gesagt, was, so was spielst du, wo dich ein Mann anspuckt? Da macht man sich unbeliebt, das sind dann die Grenzen zwischen dem Publikum und dem Künstler... Daß ich einen Filmweg gemacht hab', ist ein Wunder. Bis ich soweit war, daß mein Gesicht aufgeht, das hat lange gedauert, und im Film kommt ja alles aus dem Gesicht. Das Spiel der Hände, das hat man mir in den Kritiken immer schon zugestanden, das hat gefallen, das ist sicher angeboren, aber das Gesicht, das war ganz zu.

Haben Sie einmal mit dem Gedanken gespielt, Ihren Beruf aufzugeben?

WESSELY: Ja, nach dem Krieg, da wollte ich aufhören, um kochen zu lernen. Kochen würde ich gerne können, weil ich eine schlechte Ehefrau bin. Ich bin nicht unbegabt für den Haushalt, aber ich hab's ja nicht nötig, weil ich ja eine Hilfe habe, die Goschi... 

Und wenn Sie die nicht hätten?

WESSELY: Dann müßte es eben ich tun. Wenn ich muß, kann ich alles. Das ist vielleicht das Hervorstechende: Wenn ein eisernes Muß da ist, dann kommt auch die Anregung, die Inspiration. Ich bin zum Theater gegangen, weil dieses Muß da war, ich bin da nicht hingegangen, um Geld zu verdienen, ich war sehr überrascht, daß das dann geschah. Ich staune noch über das, was mir widerfährt in der Welt. Meine älteste Tochter hat einmal zu mir gesagt, Mammi, die sagen immer, du gehörst noch einer Generation an, die staunen kann. Drum kann ich auch Klassiker spielen, da muß man staunen können und lieben können, um so etwas richtig zu spielen. Drum hab' ich auch "Liebelei" spielen können, das süße Mädel, aber so, daß die nicht gleich als eine Geschlagene, als Tragödie hereinkommt... (schlägt sich mit der Hand auf den Mund...) Aber ich red‘ so viel. Ich hab' mich nicht gern, wenn ich so drauflosrede. Ich hör' mich nicht gern, ich hab' mich nicht selber so gern, aber ich kann mich irrsinnig freuen über Bestätigungen, wenn man doch eine gewisse Allgemeinheit zufriedenstellt oder amüsiert oder bewegt. Ich mach' schon gern Freud'. Aber ich hasse dieses Überbewerten, diese Überbewertung des Schauspielers, ich mag's nicht, wenn ich's an anderen sehe, ich halte einen Arzt, einen schöpferischen, für wichtiger, Schnitzler... ! Mein Gott, was ich rede! Jetzt erzählen S' doch etwas von sich! Welcher Jahrgang sind S' denn?

1946.

WESSELY: Haha, ganz jung, ein Mann, der fangt doch erst zwischen dreißig und vierzig an, bis dorthin ist er ein Kind, ein Jüngling, wenn er sich auch schon reif fühlt, geistig. Aber das Schöne, das kommt erst später, die Bestätigung. Ja, es ist schwer, jung sein. Haben Sie's schwer? Ich bin mit fünfzehn an die Akademie gekommen, zu jung, um die Ängste ermessen zu können, ich war ja ein störrisches Kind, aber die Disziplin, die hatte ich immer, die ist mir angeboren, deshalb konnte ich auch mit den sogenannten schwierigen Regisseuren sehr gut. Kortner! Mit dem hab' ich nie raufen müssen, das sind alles Legenden, Frau Seidler hat gerauft, aber ich nicht, er hat sich vor mir gefürchtet, ich mich noch mehr vor ihm, aber gerauft haben wir nie, nicht eine Minute. Wenn er gesagt hat, ich soll ein Gesicht machen, wenn er mich auf einen Typ festlegen wollte, hab' ich nur gesagt: Kortner! Mahnend. Und nie mehr hat er so was gesagt. Er war zum Lieben, weil er genauso schwach war wie alle und gezittert hat, und wenn man das erkannt hat, dann ist es gegangen, nur Mißtrauen durfte man keines haben, aber mißtrauisch bin ich ja nicht, das wäre nicht gut, wenn Sie schrieben, daß ich mißtrauisch bin ... So jetzt drehen Sie aber Ihren Käs' ab.... (zeigt auf das Tonband...) Jetzt machen wir Schluß.

------------------------------

*) Während des ganzen Interviews war Paula Wessely anzumerken, daß sie befürchtete, nach ihrer Arbeit während des Nationalsozialismus befragt zu werden. 1941 spielte sie die weibliche Hauptrolle in dem NS-Propagandafilm „Heimkehr“.

**) Christiane Hörbiger, Elisabeth Orth, Maresa Hörbiger

***) Hildegard Knef, „Der geschenkte Gaul“, erschienen 1970

****) Boy Gobert (1925 - 1986), von 1969 bis 1980 Intendant des Hamburger Thalia-Theaters

*****) Paula Wessely  war von 1953 bis zu ihrem Tod (2000) Ensemblemitglied des Wiener Burgtheaters.

******) Fritz Kortner (1892 - 1970), österreichischer Schauspieler und Theaterregisseur

------------------------

Erschienen in: André Müller, „Entblößungen“, 1979