Interview mit Otto von Habsburg 1990



Muß ich Sie mit "Kaiserliche Hoheit" ansprechen?

OTTO VON HABSBURG: Wie Sie wollen.

Sie sind jetzt Parlamentarier*, also Volksvertreter, aber Sie wurden erzogen zum Herrscher.

HABSBURG: Richtig.

Ist das kein Widerspruch?

HABSBURG: Nein, absolut nicht. Schaun Sie, erstens einmal liegt meine Erziehung ja weit zurück, ich hab' inzwischen alles mögliche andere miterlebt. Ich hab' sehr viele Höhen und Tiefen erlebt, ich war ständig in einer Evolution, und ich muß Ihnen ehrlich sagen, ich hab' mich immer für das parlamentarische und das demokratische Leben sehr interessiert. Ich bin Berufspolitiker von Geburt, und ich habe nie dieses rigorose Herrschertum so gesehen wie es einige sehen, sondern ich war immer, sagen wir, ziemlich beweglich, politisch. Ich bin wie ein Fisch ins Wasser gesprungen.

Ihr Vater repräsentierte als letzter Kaiser von Österreich** und König von Ungarn die Idee des Vielvölkerstaats. Kann das Habsburgerreich Vorbild für ein geeintes Europa sein?

HABSBURG: Ja, absolut. Der reichische Gedanke setzt sich fort im Europa-Gedanken. Das europäische Reich wird kommen. Davon bin ich fest überzeugt.

Wird an seiner Spitze ein Kaiser stehen?

HABSBURG: Nein, bitteschön, das weiß ich nicht. Die Frage der Form ist nicht das Entscheidende. Es kommt auf den Inhalt an, wobei natürlich vollkommen klar ist, daß es irgendein Symbol geben muß. Eine Fahne haben wir schon. Die ist sehr schön.

Was verstehen Sie unter »reichisch«?

HABSBURG: Reichisch bedeutet, daß es einen übernationalen Staat geben wird.

Mit kirchlicher Weihe?

HABSBURG: Ja, bitte, faktisch ist es doch jetzt schon so. Das Treffen von de Gaulle und Adenauer 1962 in der Kathedrale vom Reims war doch schon ein sakraler Akt.

Stimmt es, daß Ihr Einzug ins Europäische Parlament von einem Ihrer Parteifreunde als Wiedergeburt des Heiligen Römischen Reiches bezeichnet wurde?

HABSBURG: Ja, das hat der Franz Josef Strauß gesagt.

Haben Sie ihm widersprochen?

HABSBURG: Nein, überhaupt nicht.

Aber das heißt doch, daß Sie die Monarchie als Staatsform zumindest mit Sympathie betrachten.

HABSBURG: Schaun Sie, Monarchien und Republiken hat es in der Geschichte immer wieder gegeben, wobei man sagen muß, daß die republikanischen Phasen relativ kurz ausfielen. Wenn Sie mich fragen, ob ich Monarchist oder Republikaner bin, kann ich nur sagen, ich bin keines von beidem. Ich bin Legitimist. Ich trete für Regierungen ein, die dadurch legitimiert sind, daß sie im Volk eine breite Zustimmung haben.

In Österreich gibt es nach letzten Erhebungen fünfzehn Prozent Monarchisten. In Ungarn wollten Sie zwar nicht als König, aber als Staatspräsident kandidieren.

HABSBURG: Nein, bitte, so war es nicht. Man hat das an mich herangetragen. Es gibt Leute in Ungarn, die daran dachten, sehr viele Leute. Ich war unlängst erst wieder dort. Man begegnet mir mit wilder Begeisterung, es ist wirklich unglaublich. Wenn ich öffentlich spreche, sind immer Tausende Menschen da. Die Säle sind voll. Ich muß aber sagen, daß ich auch in der Rolle, die ich als Europa-Abgeordneter spiele, restlos zufrieden bin.

Ihre kürzlich verstorbene Mutter, Kaiserin Zita***, würde das nicht gern hören.

HABSBURG: Sie hat es gewußt.

Aber sie hat bis zuletzt an ihrem Thronanspruch festgehalten.

HABSBURG: Das ist richtig.

Sie hat, als sie 1918 abdanken sollte, erklärt, lieber wolle sie sterben als aufzugeben.

HABSBURG: Ja. Aber sie war ja damals regierende Kaiserin, was ich in diesem Sinn nie gewesen bin.

Wie hat sie reagiert, als Sie 1961 auf Ihr Thronrecht verzichtet haben?

HABSBURG: Sie hat stark geschluckt. Es hat sie bestimmt nicht gefreut, aber sie hat nicht dagegen geredet. Ich habe ihr expliziert, was meine Gründe waren.

Sie wollten nach jahrzehntelanger Verbannung in Ihre Heimat zurück.

HABSBURG: Das weniger. Ich wollte in die aktive Politik, was für einen Thronprätendenten wahnsinnig schwer, um nicht zu sagen unmöglich ist.

In Ihrem Buch "Soziale Ordnung von morgen" schreiben Sie, »die Erblichkeit der monarchischen Funktion« finde »ihre tiefste Rechtfertigung darin, daß durch den Erbgang der Monarch seine Stelle nicht dieser oder jener Gruppe, sondern allein dem Willen des Allmächtigen verdankt«. Dies sei »der wahre Sinn des Gottesgnadentums«.

HABSBURG: Ich bewundere, was Sie alles gelesen haben.

Die Frage ist, können Sie, ohne sich zu versündigen, auf etwas verzichten, wofür Gott Sie bestimmt hat?

HABSBURG: Schaun Sie, man ist nicht von Gott bestimmt, ein Monarch zu sein. Das Gottesgnadentum bedeutet eine Verpflichtung. Gott wählt nicht aus.

Aber das haben Sie doch geschrieben. Der Monarch sei erwählt durch die Geburt.

HABSBURG: Ja, durch den Zufall der Geburt.

Durch den »Willen des Allmächtigen«.

HABSBURG: Ja, gut, aber wenn der Herrscher die Stelle nun nicht mehr hat...

Bleibt er trotzdem, so sagen Sie, auserwählt.

HABSBURG: Nein, schaun Sie, wenn man eine Schlacht zu Pferd nicht gewinnen kann, muß man heruntersteigen und zu Fuß weiterkämpfen.

Obwohl der Allmächtige Sie auf das Pferd gesetzt hat?

HABSBURG: Ja, denn ich bin doch irgendwie aus der Berufung entlassen worden. Ich muß jetzt versuchen, meine Ideen, die sich ja nicht geändert haben, dort zu vertreten, wo sie heute vertretbar sind.

Der zentrale Gedanke Ihres politischen Handelns ist die Verteidigung des katholischen Christentums. Sie sehen ein religiöses Zeitalter voraus. Sie sagen, daß ein religiös nicht gebundener Politiker...

HABSBURG:  ... irgendwie nicht in Ordnung ist.

Das haben Sie bei früheren Gelegenheiten schon schärfer gesagt.

HABSBURG: Gut, man kann es auch Katastrophe nennen. Ich halte Religion bei einem Politiker für etwas sehr Wichtiges, weil nur ein gläubiger Politiker weiß, daß die Macht, die er ausübt, von Gott kommt und daß er sich für seine Taten verantworten muß an höherer Stelle. Er ist nicht unbeschränkt frei. Welche verheerenden Folgen es hat, wenn diese Bremsung der Macht nicht mehr besteht, haben wir ja gesehen.

Man könnte auch Beispiele für verheerende Folgen des Glaubens finden.

HABSBURG: Ja, natürlich.

Religionskriege, Inquisition, Hexenverbrennung ...

HABSBURG: Die Inquisition war eine staatliche Einrichtung, das ging nicht von der Kirche aus****, und Hexenverbrennungen haben im katholischen Raum nicht in so großem Stil stattgefunden, sondern eher bei den Calvinern. In Ungarn wurde keine einzige Hexe verbrannt.

Wollen Sie die Kirche als ein Muster an Toleranz hinstellen?

HABSBURG: Nein, bestimmt nicht. Ich kritisiere auch vieles. Menschliche Institutionen sind nie vollkommen, weil der Mensch nicht perfekt sein kann.

Wie läßt sich das Grauen, das er anrichtet, mit Ihrem Gottvertrauen in Einklang bringen?

HABSBURG: Schaun Sie, in das göttliche Geheimnis werden wir nie eindringen.

Will Gott das Böse?

HABSBURG: Er läßt es zu. Es ist offenbar nötig. Trotzdem müssen wir unser Bestes tun, es zu bekämpfen. Wir haben doch heute gar keine andere Wahl, denn wir sitzen alle im selben Boot. Entweder wir werden in diesem Boot überleben oder gemeinsam untergehen.

Für einen Christen, so haben Sie einmal erklärt, wäre das gar nicht so schlimm, denn der Mensch sei auf der Welt für das Leben danach.

HABSBURG: Ja, gut, aber ich muß doch versuchen, das Schöne auch auf der Welt zu erhalten.

Vielleicht will Gott unseren Untergang.

HABSBURG: Na bitte, dann wird er schon wissen, warum. Ich meine, der Mensch überschätzt sich natürlich ein bissel. Das letzte Wort hat er nicht. Aber wenn er nach bestem Wissen und Gewissen das Richtige tut, wird Gott sich nicht lumpen lassen.

Was würden Sie, wenn Sie Macht hätten, als erstes verfügen?

HABSBURG: Sie meinen, wenn ich etwas zu sagen hätte?

Ja, und wenn Sie es durchsetzen könnten.

HABSBURG: Ich würde eine konstitutionelle Ordnung immer für nötig halten. Von oben würde ich nichts dekretieren.

Im Europawahlkampf haben Sie sich für einen »sittlichen Umweltschutz« ausgesprochen.

HABSBURG: Ja, wir erleben doch heute einen ungeheuren Kulturverfall. Ich denke nur an die Rauschgiftplage. Auch gegen die Legalisierung der Abtreibung ließe sich manches sagen. Ich halte das ganz einfach für Mord. Der Standpunkt der Kirche ist in dieser Frage vollkommen klar, und der gilt auch für mich, denn die kirchlichen Vorschriften sind doch bestimmt zu unserem Vorteil gemacht.

Lehnen Sie auch die Pille ab?

HABSBURG: Selbstverständlich. Aber ich weiß, daß es da andere Auffassungen gibt, und ich respektiere das auch. Wenn man sich der eigenen Grundsätze sicher ist, braucht man ein Gespräch nicht zu fürchten. Ich rede mit jedem. Ich habe in meinem ganzen Leben nur eine einzige Konversation abgelehnt, das war 1933, als Hitler mich sprechen wollte. Ich hatte ein Jahr zuvor "Mein Kampf" gelesen. Die Tragödie der Weimarer Republik war doch, daß dieses Buch niemand gelesen hatte. Sonst hätte man gewußt, wohin die Fahrt geht.

Hätten Sie eine Unterredung mit Hitler nicht schon aus Standesgründen verweigern müssen?

HABSBURG: Nein, ganz bestimmt nicht. Dazu werde ich Ihnen folgendes sagen. Das ist der Unterschied zwischen mir und zum Beispiel Herrn Augstein. Augstein hat mich einmal gefragt, wie ich dafür eintreten konnte, daß jemand Bundeskanzler wird, der Sohn eines Metzgers ist. Gemeint war Franz Josef Strauß. Ich habe geantwortet, daß die Herkunft für mich keine Rolle spielt.

Gut, das war später. Vor dem Zweiten Weltkrieg haben Sie sich noch allgemein als Majestät anreden lassen. In Ihrem berühmten Brief an den österreichischen Bundeskanzler Kurt Schuschnigg, in dem Sie sich selbst als Kanzler empfehlen, um Österreich vor Hitler zu retten, nennen Sie sich den legitimen Kaiser und appellieren an den Offizierseid, den Schuschnigg noch auf den Kaiser geleistet hatte.

HABSBURG: Ja, aber das ändert nichts daran, daß ich jemanden um seiner selbst willen schätze, ganz gleich, wo er herkommt.

Halten Sie die republikanische Staatsform in Österreich für legitim?

HABSBURG: Inzwischen schon.

Seit wann?

HABSBURG: Ich würde sagen, seit 1945, weil sie damals vom Volk als Realität akzeptiert worden ist. Zwischen den Kriegen war das eine sehr fragwürdige Sache, denn die Republik ist ja nicht durch Volksabstimmung, sondern sozusagen durch Handstreich entstanden.

Haben politische Umwälzungen von solcher Tragweite nicht notgedrungen revolutionären Charakter?

HABSBURG: Nein, absolut nicht.

Sind Revolutionen überflüssig?

HABSBURG: Ja, und sie sind auch vermeidbar. Es gibt ein typisches Beispiel. Wir haben doch in Frankreich 1968, weiß Gott, eine revolutionäre Situation gehabt. Hätte de Gaulle das nicht zu einem Ende gebracht, indem er es unter der Gewalt seiner persönlichen Autorität erdrückte, wäre daraus eine wirkliche Revolution geworden. Es kommt sehr auf Personen an. Die französische Revolution von 1792 hätte es nicht gegeben, wäre damals in Versailles anstelle Ludwigs, des Sechzehnten, Charles de Gaulle gesessen.

Hätte sich auch der Untergang Habsburgs durch fähigere Personen vermeiden lassen?

HABSBURG: Natürlich.

Wann haben Sie akzeptiert, daß die Herrschaft verloren ist?

HABSBURG: Das habe ich in dem Moment akzeptiert, als ich verstand, daß es sinnvoll gewesen war, sich, was den Machterhalt betrifft, falsch zu verhalten. Österreich-Ungarn war doch im 19. Jahrhundert das, was Tomas Masaryk mit Recht einen lebenden Anachronismus nannte. Heute zeigt sich, daß man gelegentlich den Mut haben muß, ein Anachronismus zu sein, nämlich dann, wenn höhere Interessen wichtiger sind als das eigene Überleben. Österreich-Ungarn hat seine Mission erfüllt, indem es gelungen ist, die alte übernationale Idee über das seichte, nationalistische 19. Jahrhundert in eine bessere Zukunft zu retten.

Wie haben Sie das Ende erlebt?

HABSBURG: Als wir Schönbrunn verlassen mußten, war ich noch klein. Aber ich erinnere mich gut an den Aufzug der Kadetten aus Wiener Neustadt. Diese Kindereinheiten waren heraufgekommen, um meinen Vater zu schützen.

Wurde geweint?

HABSBURG: Ja, Leute haben geweint.

Nicht auch Ihre Eltern?

HABSBURG: Nein, nicht in so einem Augenblick. Da mußte man Haltung zeigen.

Ihr Vater, Kaiser Karl, ist 1922 auf Madeira gestorben.

HABSBURG: Ja, er war noch sehr jung.

Sie haben ihn den Märtyrerkaiser genannt.

HABSBURG: Bitte, ich habe das vielleicht einmal gesagt, weil der Ausdruck in Österreich damals verwendet wurde.

In Rom plant man jetzt seine Seligsprechung.*****

HABSBURG: Zu diesem Thema werden Sie von mir keine Äußerung hören. Ich habe mich da immer herausgehalten. Das ist eine rein religiöse Frage. Mich da einzumischen, fände ich unanständig.

Welches war das größte Verdienst Ihres Vaters?

HABSBURG: Er wollte den Frieden.

Ja, nur leider zu spät.

HABSBURG: Nein, schaun Sie, Österreich ist doch in den Ersten Weltkrieg getrieben worden. Gewollt hat es ihn nicht.

Aber es hat ihn angefangen.

HABSBURG: Ja, aber man muß auch die Gründe sehen: die von den Russen gesteuerte Panslawismus-Bewegung, die Ermordung des Thronfolgers, die Österreich provozieren sollte. Auch die allgemeine Kriegslust in der Bevölkerung hat zweifellos eine Rolle gespielt. Die Leute sind doch mit Begeisterung in den Krieg gezogen.

Sie versuchen dauernd, das Haus Habsburg in Schutz zu nehmen. Haben Ihre Vorfahren nicht auch Fehler begangen?

HABSBURG: Aber natürlich haben sie Fehler begangen. Jeder macht Fehler. Die Heilige Schrift sagt, jeder Gerechte sündigt am Tag sieben Mal. Nur Tote sündigen nicht, und da unsere Familie eine sehr lebendige war, hat sie selbstverständlich sehr oft gesündigt.

In den zahlreichen Büchern, die Sie über Ihre Ahnen geschrieben haben, ist davon kaum die Rede.

HABSBURG: Gut, aber ich bin ja, sagen wir, kein Historiker im wissenschaftlichen Sinne. Ich habe diese Bücher geschrieben, weil ich glaube, daß man aus der Geschichte lernen kann. Das hat schon Treitschke gesagt. Die Geschichte ist wie ein Kleiderständer, an dem man gewisse Ideen, die gültig bleiben, aufhängen kann.

Eine wesentliche Erkenntnis, zu der Sie gelangt sind, ist, daß Europa der Gefahr aus dem Osten nur durch die Wiedervereinigung des einst von der k. u. k. Monarchie beherrschten Donauraumes begegnen könne. Die Schlacht auf dem Kahlenberg, in der Österreich 1683 die Türken besiegte, vergleichen Sie mit dem Staatsvertrag, durch den es sich 1955 von den Russen befreite.

HABSBURG: Ja, inzwischen haben sich auch die Ungarn und Tschechen befreit.

Wo ziehen Sie die Grenze Europas?

HABSBURG: Darauf sage ich Ihnen ganz klar, solange die Sowjetunion noch besteht, ist die russische Grenze das Ende Europas. Vom europäischen Haus zu sprechen und, wie Herr Weizsäcker****** das macht, die Sowjetunion einzubeziehen, halte ich für einen gravierenden Fehler. Aber der Herr Weizsäcker darf ja alles sagen. Es gibt Leute, die sind schon mit einem Heiligenschein auf die Welt gekommen.

Daß die Sowjetunion zu Europa gehört, sagen auch andere, zum Beispiel Hans-Dietrich Genscher.

HABSBURG: Schaun Sie, Genscher ist von Natur ein Opportunist.

Über Willy Brandt haben Sie sich ähnlich geäußert.

HABSBURG: Ja ich habe ihn als ein lebendes Symbol all dessen, was in unserer Gesellschaft faul ist, bezeichnet. Aber ich bin nicht nachtragend. Ich trage niemandem nach, was ich über ihn sage.

Wie denken Sie über Gorbatschow?

HABSBURG: Ich bin der Ansicht, dieser Mann wird völlig falsch eingeschätzt. Er versteht es, sich positiv darzustellen. Aber man darf nicht vergessen, er kommt aus dem Parteiapparat. Er hat in diesem Apparat seine Karriere gemacht, und er hat ihm treu gedient bis hin zu antisemitischen Ausbrüchen, die er geschrieben hat, um Stalin einen Gefallen zu tun. Wenn ein Deutscher irgendwann in seinem Leben einen judenfeindlichen Artikel geschrieben hat, ist es für ihn auf ewig aus und vorbei. Bei Gorbatschow wird das zugedeckt mit dem Mantel unchristlicher Nächstenliebe. Man hat versäumt, rechtzeitig Hitlers "Mein Kampf" zu lesen. Man sollte heute, bevor es zu spät ist, Gorbatschows frühere Schriften lesen.

Wollen Sie Gorbatschow mit Hitler vergleichen?

HABSBURG: Nein, bitteschön, diese Parallele ziehe ich nicht.

Helmut Kohl hat ihn mit Goebbels verglichen.

HABSBURG: Das ist etwas anderes. Wenn man mit Goebbels verglichen wird, kann man sogar geschmeichelt sein. Goebbels war zweifellos eines der größten propagandistischen Genies, die es gegeben hat, denn ihm ist es gelungen, einem normalerweise intelligenten Volk eine elende Ware, wunderbar verpackt, als Qualität zu verkaufen.

Und das tut jetzt Gorbatschow?

HABSBURG: Bitte, ein bißchen, ja, denn er verkauft etwas als Reform, was in Wirklichkeit keine ist. Die Veränderungen im Osten sind doch nicht sein Verdienst, sondern er ist durch die Umstände und die Politik Reagans dazu gezwungen worden. Die Sowjetunion ist das letzte große Kolonialreich unserer Zeit. Ein Kolonialkrieg steht zweifelsohne bevor. Dafür darf der Westen sich nicht als Hilfstruppe benutzen lassen. Wenn dieser Krieg einmal vorbei ist und die Kolonien ihr Recht auf Selbstbestimmung errungen haben, so daß es ein freies Georgien, ein Usbekistan, ein Armenien gibt, habe ich nichts dagegen, Rußland wieder nach Europa hereinzunehmen.

Leben wir nicht in einer Zeit, in der auch die Kontinente zusammenwachsen?

HABSBURG: Nein, schaun Sie, kulturell bleiben schon Unterschiede.

Besonders mit Asien haben Sie Schwierigkeiten.

HABSBURG: Pardon, das stimmt nicht ganz. Ich mag die Japaner sehr gern, und ich bewundere die Chinesen.

In einem Vortrag, den Sie 1959 gehalten haben, stellen Sie den "christlich-abendländischen Lebensstil" als einen "im Menschlichen von anderen unerreichten Höhepunkt" dar, warnen vor einem "asiatischen Drang nach Westen" und wenden sich gegen jene, die sich das, wie Sie sagen, "angeblich so tief geistige Asien" zum Vorbild nehmen.

HABSBURG: Sie wissen mehr über mich als ich selbst.

Europa, so fordern Sie, muß wieder die Führungsrolle in der Welt übernehmen.

HABSBURG: Ja, aber nicht in dem Sinn, daß man die Kolonien wieder einführt, sondern daß es auf den Gebieten der Kultur und der Geistigkeit zu sich selber findet, um den anderen als Beispiel zu dienen. Europa hat doch der Welt schon sehr viel gebracht.

Auch sehr viel Negatives.

HABSBURG: Natürlich, das gehört ja dazu.

Es hat zum Beispiel eine an Perfektion von anderen unerreichte Methode zur Menschenvernichtung entwickelt.

HABSBURG: Ja, schauerlich.

Macht Sie das nicht verzweifelt?

HABSBURG: Nein, wissen Sie, daß der Mensch irgendwo einen schlechten Zug in sich hat, ist doch selbstverständlich. Ich habe kein idealistisches Menschenbild. Aber ich sage mir, daß wir die Möglichkeit haben, das Böse zu überwinden. Es gibt Prüfungen. Es gibt Herausforderungen. Das Schöne ist, daß man diese Herausforderungen bestehen kann. Ich bin, bitteschön, so Gott will, gegen die Verzweiflung gefeit.

Beneidenswert!

HABSBURG: Ja, denn ich habe meinen Glauben, der mich vor der Verzweiflung bewahrt.

Was empfinden Sie für einen Menschen, der diesen Glauben nicht hat?

HABSBURG: Ich empfinde uneingeschränkte Bewunderung.

Weil er es trotzdem aushält zu leben?

HABSBURG: Ja, weil es absurd ist. Mir tun diese Leute unendlich leid, denn, schaun Sie, jemand, der an Gott glaubt, hat doch ein sehr schönes, einfaches, lustiges Leben.

Gab es nie Momente, in denen Sie wankend wurden?

HABSBURG: Bitte, vielleicht schon, ein-, zweimal, am ehesten in den Tagen nach dem Zusammenbruch Frankreichs, als es so aussah, als wäre nun Hitler der Herr der Welt. Hätte er damals die richtige Politik gemacht, wäre er es ja wirklich geworden. Da habe ich Gott gefragt, was es bedeuten soll, aber respektvoll, in der Form des Gebets. Es ist doch so, daß auch negative Kräfte ihre Funktion haben können, weil sie uns davor bewahren, satt und selbstzufrieden zu werden.

Davor bewahrt einen Menschen, dem dem Ihre Frömmigkeit fehlt, schon der Gedanke, daß, wie Sie sagten, das Leben absurd ist.

HABSBURG: Natürlich.

Ernst Jünger, den Sie gelegentlich gern zitieren, schreibt, nur Dummköpfe seien befreit vom Zweifel.

HABSBURG: Dann bin ich ein Dummkopf.

Sie zweifeln nie?

HABSBURG: Nein, schaun Sie, daran, daß Gott existiert, habe ich nie gezweifelt. Als Politiker betrachte ich mich als Werkzeug Gottes, weil ich an Gottes Hand in der Geschichte glaube. Wir haben es doch erlebt, daß er in Notzeiten Menschen schickt, die eine schlechte Entwicklung wieder zum Guten wenden. Denken Sie an De Gasperi, an Churchill, an Adenauer. Manchmal sind das auch nur Personen, die als Reserve bleiben, zum Beispiel Strauß. Wenn Sie den Fall von Churchill nehmen, so ist ganz klar, daß er ohne Hitler nicht der geworden wäre, als der er jetzt dasteht. Hätte Hitler nach seinem Sieg über Frankreich nicht den Fehler gemacht, maßlos zu werden, wäre Churchill gar nicht zum Zug gekommen.

Kannten Sie Churchill?

HABSBURG: Ja, ich bin ihm mehrmals begegnet. Ich habe mich bei ihm, wie auch bei Roosevelt, dafür eingesetzt, Österreich nach dem Krieg nicht den Russen zu überlassen. Ganz Wien sollte doch in sowjetische Hände fallen. Das habe ich mit Mühe verhindern können.

Hat man es Ihnen gedankt?

HABSBURG: Im Gegenteil. Man hat mich zum Staatsfeind erklärt und jahrelang nicht ins Land gelassen. Österreich ist der einzige westliche Staat, in dem bis heute Sippenhaftung besteht. Ich darf dort, nur weil ich Habsburger bin, nicht als Bundespräsident kandidieren. Aber ich muß Ihnen sagen, daß ich das wirklich nicht tragisch nehme. Ich geniere mich zwar ein bißchen...

Für Österreich?

HABSBURG: Ja, aber es gibt so viel auf der Welt, wofür man sich schämen müßte.

Was empfanden Sie, als letztes Jahr Ihre Mutter unter großer Beteiligung der Bevölkerung in der Kapuzinergruft beigesetzt wurde?

HABSBURG: Mich hat gefreut, zu sehen, welche Gefühle gegenüber unserer Familie noch immer bestehen.

Es sah fast so aus, als sei die Monarchie wiederauferstanden.

HABSBURG: Jedenfalls hat sich gezeigt, daß ein gewisses Geschichtsbedürfnis wieder vorhanden ist. Die Leute verdrängen nicht mehr ihre Vergangenheit.

Sogar die Regenbogenpresse, in der Sie sonst nicht erscheinen...

HABSBURG: Gott sei Dank.

... hat über das Ereignis berichtet.

HABSBURG: Das ist nicht zu vermeiden.

Haben Sie eine Erklärung für das Interesse so vieler Menschen an den Geschichten über die Adelshäuser?

HABSBURG: Schaun Sie, zum einen ist es sicher eine Flucht aus der Wirklichkeit. Zum anderen drückt sich darin das Bedürfnis aus, daß in der Politik wieder mehr menschliche Formen kommen. Unsere Staaten sind doch heute ein bißchen unmenschlich geworden. Sie werden repräsentiert durch riesige Verwaltungssilos. In denen gibt es nicht einmal Parteienverkehr. Die Menschen wollen ein persönliches Verhältnis zu den Regierenden haben, so wie ich es zum Beispiel bei den arabischen Herrschern gesehen habe. Die fahren durch Monate in ihrem Land herum, und wenn am Straßenrand irgend jemand ein Zeichen macht, bleibt das Auto stehen, und der König spricht mit den Leuten.

In Rußland gibt es jetzt eine Bewegung, die das Zarentum wieder einführen will.

HABSBURG: Ja, es ist ungeheuer.

Halten Sie das für realistisch?

HABSBURG: Und wie! Man hat doch in Spanien gesehen, was alles möglich ist.

Vielleicht werden Sie doch noch Kaiser.

HABSBURG: Nein, schaun Sie, ich bin jetzt siebenundsiebzig. Außerdem muß ich Ihnen ganz ehrlich sagen, daß ich in einer solchen Rolle nicht glücklich wäre. Ein Monarch darf doch zum Beispiel nie seine Meinung sagen. Als Parlamentarier kann ich das Maul aufmachen, wo und wann immer ich will. Ich danke Gott, daß ich nicht Kaiser bin.

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*) Otto von Habsburg, Mitglied der bayerischen CSU, war von 1979 bis 1999 Abgeordneter im Europäischen Parlament in Straßburg.

**) Karl I., herrschte von 1916 bis 1918

***) Zita von Bourbon-Parma, verstarb am 14. März 1989, 96-jährig, in ihrem Schweizer Exil

****) Die Inquisition wurde als kirchliche Institution 1235 von Papst Gregor IX. offiziell eingesetzt.

*****)  Am 3. Oktober 2004 wurde Kaiser Karl nach Anerkennung einer dubiosen Wunderheilung (eine polnische Nonne sei 1960 durch die Anrufung Karls von ihrem Venenleiden genesen) von Papst Johannes Paul II. selig gesprochen.

******) Richard von Weizsäcker, deutscher Bundespräsident von 1984 bis 1994


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Erschienen am 7. September 1990 in der ZEIT