Interview mit Ortrud Beginnen 1980

(nach der Münchner Premiere ihres Gesangsabends mit deutschen Soldatenliedern "Ich will deine Kameradin sein")



In Ihrer Autobiografie »Guck mal, schielt ja« beschreiben Sie Ihr Leben als eine einzige Katastrophe.

ORTRUD BEGINNEN: Nicht von ungefähr. Das fing schon an mit meiner Geburt. Vater war keiner da, und die Mutter wollte mich zuerst auch nicht haben, inklusive Springen vom hohen Brett ins Schwimmbassin oder Motorradfahren auf Kopfsteinpflaster und all diese Sachen, die man früher gemacht hat, um ein Kind loszuwerden.

Ein Wunder, daß Sie überhaupt leben.

BEGINNEN: So gesehen, ja.

Hat man Ihnen Ihre uneheliche Geburt vorgeworfen?

BEGINNEN: Auf dem Lande, wo ich aufgewachsen bin, spielte das schon eine Rolle. Ich weiß noch, bei meiner Einschulung, da mußte damals jedes Kind sagen, wie heißt dein Vater? Wie heißt deine Mutter? Und dann kam eben auch ich dran und sagte, meine Mutter sei Sängerin, und mein Vater sei mein Großvater, schon war ich von brüllendem Gelächter umgeben, und wie der glückliche Zufall es wollte, war da auch noch eine entsprechend zickige Lehrerin, also die typische alte Jungfer, wie einem Wilhelm-Busch-Album entsprungen, die auf mich reagierte wie auf das typische Kind der Sünde, mich triezte, wo sie nur konnte, was auch gar nicht schwer war, da ich zwar als einziges von allen Kindern schon im ersten halben Jahr fließend lesen, dafür aber nicht genügend schön schreiben und keine Handarbeit machen konnte. Die hatte so ein schönes, langes Lineal, mit dem haute sie mir auf die Finger, wann immer sie konnte, sei es wegen meiner Nichtschönschrift, sei es, weil ich statt eines Strumpfes einen Eierbeutel oder eine Klumpfußhacke gehäkelt hatte.

Später sind Sie dann häufig verspottet worden, weil Sie so groß und flachbrüstig waren. Ihre Mitschüler nannten Sie »Spargel« oder »Leuchtturm«, In den Tanzstunden wollte keiner mit Ihnen tanzen. Wie sind Sie mit all dem fertiggeworden?

BEGINNEN: Für mich stand damals schon fest, daß ich Schauspielerin werden wollte. Das schien mir die einzige Möglichkeit, diese traurige Kindheit verlassen zu können. Ich stellte mir vor, das Theater wäre eine schönere Welt mit ganz anderen Menschen. Nur war das eben, als ich es in der Schule erzählte, auch wieder nur Anlaß für reichlich Hohn und Gelächter, so in der Art: Igittigitt, guck mal, wie die aussieht, und die will Schauspielerin werden! Die Folge war, daß ich mich in den Pausen kaum auf den Schulhof traute, weil schon mein bloßes Erscheinen das Gegacker meiner Mitschüler und -schülerinnen hervorrief.

Ähnlich ergeht es Ihnen auch heute. Sie betreten die Bühne, schon lachen die Leute.

BEGINNEN: Ja, wahrscheinlich weil das, was ich mache, derart gewaltig und monumental ist, daß es eben schon wieder lächerlich wird. Nur: Ich meine es gar nicht so komisch. Ich äußere Trauer. Ich geniere mich nicht zuzugeben, daß ich an die totalen Gefühle glaube. Aber ich bin mir dessen bewußt, daß diese gewaltigen und so gesehen auch deutschen Gefühle, sagen wir mal, in mir dampfend brodeln, und ich habe dazu auch einen durchaus ironischen Zugang. Ich weiß, daß das, was ich mitteilen möchte, im wahrsten Sinne des Wortes zuviel ist.

Was ist der Grund Ihrer Trauer?

BEGINNEN: Das begann mit der kleinen, der unerheblichen Trauer, also siehe Tanzstunden, keine Titten, keinen Freund, als andere längst einen hatten, und es geht weiter mit der Trauer darüber, daß ich die Deutschen, also dieses tüchtige, pflichtbewußte, ordentliche und fähige Volk, das ich mit meinen Programmen auf seine traurige Situation hinweisen möchte, schlicht gesagt, nicht erreiche. Ich stehe da, singe, spreche, schreie mir die Seele aus dem Leib und das Hirn aus dem Kopf, kämpfe wirklich jeden Abend, weil ich denke, es muß doch möglich sein, daß diese Leute, du meine Güte, irgend etwas kapieren, aber die meisten reagieren eben dem entsprechend, was sie über mich gehört oder gelesen haben. Für die bin ich die Ulknudel, und dabei bleibt es.

Da habe ich aber ganz andere Informationen.

BEGINNEN: Schon möglich. Gelegentlich stoße ich auch auf Verständnis.

Nach Ihrem Liederabend »Letzte Rose« hat man Ihnen Scheiße in den Briefkasten gelegt und in Zuschriften vorgeschlagen, Sie zu vergasen.

BEGINNEN: Ja gut, da ist in vereinzelten Fällen so eine echte Wut aufgekommen, aber es war ja nicht so, daß da tagtäglich Drohbriefe kamen. Im allgemeinen war die Reaktion brüllende Freude auf allen Kanälen. Aber ich gebe zu, in letzter Zeit ist es mir in zunehmendem Maße gelungen, das Publikum zu verstören. Ich möchte erreichen, daß mich die Leute, wenn sie schon nichts begreifen, zumindest geschmacklos finden.

So wie beim Theaterfestival von Nancy, wo Sie mit Ihrem letzten Programm, deutschen Soldatenliedern, gastierten. Das Gastspiel wurde vorzeitig abgebrochen.

BEGINNEN: Ja, wir haben da drei Vorstellungen gemacht, fünf waren vorgesehen, und als die vierte dann stattfinden sollte, wurden ich und Herr Meyer, mein Pianist, ohne Angabe von Gründen aus dem sogenannten ersten Hotel der Stadt ausgewiesen, also ohne weiteres rausgeschmissen. Da waren, wie ich später erfuhr, drei ältere, adrette Herren, die sich als Vorsitzende des Vereins gegen neofaschistische Umtriebe ausgaben, bei der Festivalleitung vorstellig geworden und hatten ein Verbot der Aufführung gefordert. Ich hätte mich, hieß es, inklusive Herrn Meyer mit Naziliedern da eingeschlichen.

Was ja nicht falsch ist.

BEGINNEN: Natürlich nicht, aber ich war doch bisher der Meinung, daß die Art meines Vortrags hinlänglich klarmacht, daß ich diese Lieder nicht etwa gutheiße, sondern entlarven möchte. Es ist mein Bestreben, soweit ich überhaupt glauben kann, daß das in diesem Beruf zu erreichen ist, das deutsche Volk vor seinen tödlich gefährlichen Fettnäpfen zu warnen, also vor dem, was ich zum Teil eben auch in mir habe, diesem verquasten, dumpfigen, nebulösen, bauchig-gefühligen Reagieren auf so was wie Krieg zum Beispiel. Das wird ja bis zum heutigen Tag von anspruchsvollen Sängern und Sängerinnen als deutsches Kunstlied an die Menschen herangetragen, und das halte ich eben für viel gefährlicher als den Schwachsinn, der sich etwa im deutschen Schlager breitmacht, weil der ja schon offensichtlich so primitiv ist, während diese ungeklärte Halbkunst, wo man sich guten Gewissens der Sentimentalität und falschen Gefühligkeit hingeben kann, abgesichert ist über Jahrzehnte.

Im Programmheft zu diesem Abend schreiben Sie über den, wie Sie es nennen, »soldatischen Mann«, seine einzige Rettung vor der Frau, die nicht ins Klischee der geduldigen, harrenden Kameradin hineinpaßt, sei Kämpfen. Andernfalls, so heißt es da, müsse er fürchten, kastriert zu werden.

BEGINNEN: Damit will ich sagen, daß für einen bestimmten Typ Mann, also für den Tüchtigen, Karrierebewußten, für den Mann, der, wie man so sagt, im Leben was darstellt, eine Frau, wie ich eine bin, ganz bestimmt viel unheimlicher ist als mal eben in den Krieg ziehen. Dann schon lieber gleich die Kanonen raus und ballern. Das ist für so einen einfach die klarere Alternative. Da weiß man, woran man ist: Dort steht der Feind, hier stehe ich, und daheim wartet die treue Braut als friedlicher Rückhalt in schwerer Zeit.

Was würde denn so ein Mann Schreckliches mit Ihnen erleben?

BEGINNEN: Na, eben kastriert würde der werden, so oder so, entweder tatsächlich oder doch auf eine Weise, daß er sich davon, wie ich ihn niedermetzle, nie mehr erholen könnte.

Würden Sie ihn auch notfalls ermorden?

BEGINNEN: Ich würde ihn so ein bißchen drillen, denn für solche Männer ist es ja schon Ausmerzung genug, von einer wie mir Befehle entgegennehmen zu müssen. Das sind ja auch jene, die nach der Vorstellung warten, um mir, wenn auch in höflicher Form, ihr Mißfallen zu äußern, was mich besonders freut, weil es mir großes Vergnügen bereitet, sie dann wortmäßig in Schutt und Asche zu kneten. Mir braucht sich so ein Mann nur zu nähern, schon fühle ich Vitriol in meinen Adern kreisen instead of blood.

Wünschen Sie sich eine Welt ohne Männer?

BEG!NNEN: Nein, überhaupt nicht. Ich komme ja gar nicht aus ohne Männer. Nur sind das eben nicht diese Tüchtigen meines Alters, sondern sehr viel jüngere Männer oder die Schwulen, die mich, auch was den Beruf betrifft, durchgehend gefördert haben. Die anderen sind dann immer so nachgehumpelt.

Was aber geschieht, wenn diese Jungen dann älter werden?

BEGINNEN: Dann wird es schwierig. Zuerst finden die das ganz toll, so eine starke, interessante Person als Freundin zu haben. Mit der kann man sich ja auch schmücken, wenn sie nicht gerade wieder 'nen Reinfall hatte. Aber dann beginnt in den meisten Fällen das Selbstbewußtsein zu leiden, weil ich ja auch sehr fleischfressend bin und besitzergreifend, obwohl andererseits ein ganz altmodisches Mädchen, das auch mal Schwäche zeigen und sich an einen Mann anlehnen möchte.

Aber das geht nicht mit Knaben?

BEGINNEN: Doch, doch, das geht schon. Da muß man ein bißchen Kind spielen, sich in die Ecke setzen und Bäh machen, dann geht das. Nur ist eben dieser ständige Wechsel gefühlsmäßig kaum zu verkraften. Ich leide unter einem oft ganz kontinuierlichen Gefühlschaos, begleitet von anhaltenden Depressionen. Da sitze ich dann stundenlang auf einem Stuhl und glotze vor mich hin, ohne mich zu bewegen.

Und wie geht das vorüber?

BEGINNEN: Indem ich mich zwinge, weil es ja so nahe liegt, sich dann aufzugeben. Da sage ich mir: Nee, denkste, jetzt erst recht nicht! Da bin ich mein eigener Widerspruch. Das ist eine Art Schizophrenie. Das sitzt tief in mir drin. Sie dürfen auch wissen, daß meine Mutter manisch-depressiv ist und in einem Heim lebt.

Seit wann?

BEGINNEN: Die Krankheit trat ein, als sie knapp vierzig vorbei war. Da kam ich eines Tages nach Hause, und als ich die Tür öffnete, sprang mir meine Mutter nackend entgegen mit einer Schüssel voll Wasser, die sie sich über den Kopf goß. Also da war sie übergeschnappt. Ich bin dann lange gesessen und habe gewartet, ob ich es nun geerbt habe. Aber es kam nicht. Es war nichts zu machen. Ich muß mich wohl damit abfinden, daß es bei der gemäßigten Erscheinungsform bleibt, die ich jetzt schon aufweise.

Hatten Sie Sehnsucht nach Wahnsinn?

BEGINNEN: Ich hätte mich dann sicher gefühlt, sicherer als jetzt jedenfalls.

Sind Sie mit Ihrer Verrücktheit nicht in Ihrem Beruf ganz gut aufgehoben?

BEGIN NEN: Doch, schon. Ich kann es verwerten. Aber es ist ja nicht so, daß man meine beruflichen Möglichkeiten nun unbedingt als hervorragend bezeichnen könnte.* Jahrelang habe ich mich damit begnügen müssen, in sogenannten Boulevardstücken die Nutten und Dienstmädchen zu spielen, ersteres, weil man Damen des Gewerbes bevorzugt rothaarig besetzte, letzteres aufgrund meiner etwas gebückten Haltung, die ich mir angewöhnt hatte, um nicht so groß zu erscheinen.

Was für Rollen würden Sie denn gern spielen?

BEGINNEN: Maria Stuart zum Beispiel, so Charakterfrauen mit großen Gefühlen, also nicht jedermanns Milchfrau. Diese armen Arbeiterfrauen interessieren mich überhaupt nicht. Ich bin, wenn man es so nennen kann, ein Fan von Sarah Bernhard. Ich möchte dazu kommen, die Gefühle, die in mir sind, auszukotzen.

1975 wurden Sie mit dem deutschen Kleinkunstpreis ausgezeichnet. War das für Sie ein Erfolgserlebnis?

BEGINNEN: Oh, Gott, nein, ich hasse das. Der Begriff »Kleinkunst« trifft einfach nicht auf mich zu, wenn man davon ausgeht, daß das etwas mit Humor zu tun hat. Wenn man in Deutschland von Humor spricht oder einem humorigen Menschen, dann weiß ich schon: Renne! Das erinnert mich immer an einen riesigen Komposthaufen, besonders wenn der sogenannte kritische Humor gemeint ist. Das finde ich ganz entsetzlich, denn das ist doch, politisch verbrämt, auch nur so eine nette Form der Unterhaltung, während ich so anarchistisch wie möglich vorgehen und immer weiter in dieser Richtung bohren ... nein, nicht bohren, sondern ganz kontinuierlich und deutsch arbeiten möchte.

Ja, aber das tun Sie doch jetzt schon.

BEGINNEN: Ich tue es, aber ich werde nicht ernst genommen. Es ist mir, wie auch immer das kommt, nicht gegeben, eine in diesem Lande in diesem Beruf angebrachte Seriosität auszustrahlen. Ich bin dazu verflucht, die Leute zum Lachen zu bringen.

Nicht auch begnadet?

BEGINNEN: Nein, nur verflucht, das genügt als Begnadung.

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*) Ortrud Beginnens Schauspielkarriere kam erst nach diesem Interview richtig in Schwung. Sie spielte in Bochum, Hamburg und am Wiener Burgtheater. 1995 wurde sie von der Zeitschrift "Theater heute" zur "Schauspielerin des Jahres" gekürt. 1999 verstarb sie, 60-jährig, an Krebs. 

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Erschienen am 5. September 1980 in der ZEIT