In Ihrer Autobiografie »Guck mal, schielt ja« beschreiben Sie Ihr Leben als
eine einzige Katastrophe.
ORTRUD BEGINNEN: Nicht von ungefähr. Das fing schon an mit meiner Geburt. Vater
war keiner da, und die Mutter wollte mich zuerst auch nicht haben, inklusive
Springen vom hohen Brett ins Schwimmbassin oder Motorradfahren auf Kopfsteinpflaster
und all diese Sachen, die man früher gemacht hat, um ein Kind loszuwerden.
Ein Wunder, daß Sie überhaupt leben.
BEGINNEN: So gesehen, ja.
Hat man Ihnen Ihre uneheliche Geburt vorgeworfen?
BEGINNEN: Auf dem Lande, wo ich aufgewachsen bin, spielte das schon eine Rolle.
Ich weiß noch, bei meiner Einschulung, da mußte damals jedes Kind sagen, wie
heißt dein Vater? Wie heißt deine Mutter? Und dann kam eben auch ich dran und
sagte, meine Mutter sei Sängerin, und mein Vater sei mein Großvater, schon war
ich von brüllendem Gelächter umgeben, und wie der glückliche Zufall es wollte,
war da auch noch eine entsprechend zickige Lehrerin, also die typische alte
Jungfer, wie einem Wilhelm-Busch-Album entsprungen, die auf mich reagierte wie
auf das typische Kind der Sünde, mich triezte, wo sie nur konnte, was auch gar
nicht schwer war, da ich zwar als einziges von allen Kindern schon im ersten
halben Jahr fließend lesen, dafür aber nicht genügend schön schreiben und keine
Handarbeit machen konnte. Die hatte so ein schönes, langes Lineal, mit dem haute
sie mir auf die Finger, wann immer sie konnte, sei es wegen meiner Nichtschönschrift,
sei es, weil ich statt eines Strumpfes einen Eierbeutel oder eine Klumpfußhacke
gehäkelt hatte.
Später sind Sie dann häufig verspottet worden, weil Sie so groß und flachbrüstig
waren. Ihre Mitschüler nannten Sie »Spargel« oder »Leuchtturm«, In den Tanzstunden
wollte keiner mit Ihnen tanzen. Wie sind Sie mit all dem fertiggeworden?
BEGINNEN: Für mich stand damals schon fest, daß ich Schauspielerin werden wollte.
Das schien mir die einzige Möglichkeit, diese traurige Kindheit verlassen zu
können. Ich stellte mir vor, das Theater wäre eine schönere Welt mit ganz anderen
Menschen. Nur war das eben, als ich es in der Schule erzählte, auch wieder nur
Anlaß für reichlich Hohn und Gelächter, so in der Art: Igittigitt, guck mal,
wie die aussieht, und die will Schauspielerin werden! Die Folge war, daß ich
mich in den Pausen kaum auf den Schulhof traute, weil schon mein bloßes Erscheinen
das Gegacker meiner Mitschüler und -schülerinnen hervorrief.
Ähnlich ergeht es Ihnen auch heute. Sie betreten die Bühne, schon lachen die
Leute.
BEGINNEN: Ja, wahrscheinlich weil das, was ich mache, derart gewaltig und monumental
ist, daß es eben schon wieder lächerlich wird. Nur: Ich meine es gar nicht so
komisch. Ich äußere Trauer. Ich geniere mich nicht zuzugeben, daß ich an die
totalen Gefühle glaube. Aber ich bin mir dessen bewußt, daß diese gewaltigen
und so gesehen auch deutschen Gefühle, sagen wir mal, in mir dampfend brodeln,
und ich habe dazu auch einen durchaus ironischen Zugang. Ich weiß, daß das,
was ich mitteilen möchte, im wahrsten Sinne des Wortes zuviel ist.
Was ist der Grund Ihrer Trauer?
BEGINNEN: Das begann mit der kleinen, der unerheblichen Trauer, also siehe Tanzstunden,
keine Titten, keinen Freund, als andere längst einen hatten, und es geht weiter
mit der Trauer darüber, daß ich die Deutschen, also dieses tüchtige, pflichtbewußte,
ordentliche und fähige Volk, das ich mit meinen Programmen auf seine traurige
Situation hinweisen möchte, schlicht gesagt, nicht erreiche. Ich stehe da, singe,
spreche, schreie mir die Seele aus dem Leib und das Hirn aus dem Kopf, kämpfe
wirklich jeden Abend, weil ich denke, es muß doch möglich sein, daß diese Leute,
du meine Güte, irgend etwas kapieren, aber die meisten reagieren eben dem entsprechend,
was sie über mich gehört oder gelesen haben. Für die bin ich die Ulknudel, und
dabei bleibt es.
Da habe ich aber ganz andere Informationen.
BEGINNEN: Schon möglich. Gelegentlich stoße ich auch auf Verständnis.
Nach Ihrem Liederabend »Letzte Rose« hat man Ihnen Scheiße in den Briefkasten
gelegt und in Zuschriften vorgeschlagen, Sie zu vergasen.
BEGINNEN: Ja gut, da ist in vereinzelten Fällen so eine echte Wut aufgekommen,
aber es war ja nicht so, daß da tagtäglich Drohbriefe kamen. Im allgemeinen
war die Reaktion brüllende Freude auf allen Kanälen. Aber ich gebe zu, in letzter
Zeit ist es mir in zunehmendem Maße gelungen, das Publikum zu verstören. Ich
möchte erreichen, daß mich die Leute, wenn sie schon nichts begreifen, zumindest
geschmacklos finden.
So wie beim Theaterfestival von Nancy, wo Sie mit Ihrem letzten Programm, deutschen
Soldatenliedern, gastierten. Das Gastspiel wurde vorzeitig abgebrochen.
BEGINNEN: Ja, wir haben da drei Vorstellungen gemacht, fünf waren vorgesehen,
und als die vierte dann stattfinden sollte, wurden ich und Herr Meyer, mein
Pianist, ohne Angabe von Gründen aus dem sogenannten ersten Hotel der Stadt
ausgewiesen, also ohne weiteres rausgeschmissen. Da waren, wie ich später erfuhr,
drei ältere, adrette Herren, die sich als Vorsitzende des Vereins gegen neofaschistische
Umtriebe ausgaben, bei der Festivalleitung vorstellig geworden und hatten ein
Verbot der Aufführung gefordert. Ich hätte mich, hieß es, inklusive Herrn Meyer
mit Naziliedern da eingeschlichen.
Was ja nicht falsch ist.
BEGINNEN: Natürlich nicht, aber ich war doch bisher der Meinung, daß die Art
meines Vortrags hinlänglich klarmacht, daß ich diese Lieder nicht etwa gutheiße,
sondern entlarven möchte. Es ist mein Bestreben, soweit ich überhaupt glauben
kann, daß das in diesem Beruf zu erreichen ist, das deutsche Volk vor seinen
tödlich gefährlichen Fettnäpfen zu warnen, also vor dem, was ich zum Teil eben
auch in mir habe, diesem verquasten, dumpfigen, nebulösen, bauchig-gefühligen
Reagieren auf so was wie Krieg zum Beispiel. Das wird ja bis zum heutigen Tag
von anspruchsvollen Sängern und Sängerinnen als deutsches Kunstlied an die Menschen
herangetragen, und das halte ich eben für viel gefährlicher als den Schwachsinn,
der sich etwa im deutschen Schlager breitmacht, weil der ja schon offensichtlich
so primitiv ist, während diese ungeklärte Halbkunst, wo man sich guten Gewissens
der Sentimentalität und falschen Gefühligkeit hingeben kann, abgesichert ist
über Jahrzehnte.
Im Programmheft zu diesem Abend schreiben Sie über den, wie Sie es nennen, »soldatischen
Mann«, seine einzige Rettung vor der Frau, die nicht ins Klischee der geduldigen,
harrenden Kameradin hineinpaßt, sei Kämpfen. Andernfalls, so heißt es da, müsse
er fürchten, kastriert zu werden.
BEGINNEN: Damit will ich sagen, daß für einen bestimmten Typ Mann, also für
den Tüchtigen, Karrierebewußten, für den Mann, der, wie man so sagt, im Leben
was darstellt, eine Frau, wie ich eine bin, ganz bestimmt viel unheimlicher
ist als mal eben in den Krieg ziehen. Dann schon lieber gleich die Kanonen raus
und ballern. Das ist für so einen einfach die klarere Alternative. Da weiß man,
woran man ist: Dort steht der Feind, hier stehe ich, und daheim wartet die treue
Braut als friedlicher Rückhalt in schwerer Zeit.
Was würde denn so ein Mann Schreckliches mit Ihnen erleben?
BEGINNEN: Na, eben kastriert würde der werden, so oder so, entweder tatsächlich
oder doch auf eine Weise, daß er sich davon, wie ich ihn niedermetzle, nie mehr
erholen könnte.
Würden Sie ihn auch notfalls ermorden?
BEGINNEN: Ich würde ihn so ein bißchen drillen, denn für solche Männer ist es
ja schon Ausmerzung genug, von einer wie mir Befehle entgegennehmen zu müssen.
Das sind ja auch jene, die nach der Vorstellung warten, um mir, wenn auch in
höflicher Form, ihr Mißfallen zu äußern, was mich besonders freut, weil es mir
großes Vergnügen bereitet, sie dann wortmäßig in Schutt und Asche zu kneten.
Mir braucht sich so ein Mann nur zu nähern, schon fühle ich Vitriol in meinen
Adern kreisen instead of blood.
Wünschen Sie sich eine Welt ohne Männer?
BEG!NNEN: Nein, überhaupt nicht. Ich komme ja gar nicht aus ohne Männer. Nur
sind das eben nicht diese Tüchtigen meines Alters, sondern sehr viel jüngere
Männer oder die Schwulen, die mich, auch was den Beruf betrifft, durchgehend
gefördert haben. Die anderen sind dann immer so nachgehumpelt.
Was aber geschieht, wenn diese Jungen dann älter werden?
BEGINNEN: Dann wird es schwierig. Zuerst finden die das ganz toll, so eine starke,
interessante Person als Freundin zu haben. Mit der kann man sich ja auch schmücken,
wenn sie nicht gerade wieder 'nen Reinfall hatte. Aber dann beginnt in den meisten
Fällen das Selbstbewußtsein zu leiden, weil ich ja auch sehr fleischfressend
bin und besitzergreifend, obwohl andererseits ein ganz altmodisches Mädchen,
das auch mal Schwäche zeigen und sich an einen Mann anlehnen möchte.
Aber das geht nicht mit Knaben?
BEGINNEN: Doch, doch, das geht schon. Da muß man ein bißchen Kind spielen, sich
in die Ecke setzen und Bäh machen, dann geht das. Nur ist eben dieser ständige
Wechsel gefühlsmäßig kaum zu verkraften. Ich leide unter einem oft ganz kontinuierlichen
Gefühlschaos, begleitet von anhaltenden Depressionen. Da sitze ich dann stundenlang
auf einem Stuhl und glotze vor mich hin, ohne mich zu bewegen.
Und wie geht das vorüber?
BEGINNEN: Indem ich mich zwinge, weil es ja so nahe liegt, sich dann aufzugeben.
Da sage ich mir: Nee, denkste, jetzt erst recht nicht! Da bin ich mein eigener
Widerspruch. Das ist eine Art Schizophrenie. Das sitzt tief in mir drin. Sie
dürfen auch wissen, daß meine Mutter manisch-depressiv ist und in einem Heim
lebt.
Seit wann?
BEGINNEN: Die Krankheit trat ein, als sie knapp vierzig vorbei war. Da kam ich
eines Tages nach Hause, und als ich die Tür öffnete, sprang mir meine Mutter
nackend entgegen mit einer Schüssel voll Wasser, die sie sich über den Kopf
goß. Also da war sie übergeschnappt. Ich bin dann lange gesessen und habe gewartet,
ob ich es nun geerbt habe. Aber es kam nicht. Es war nichts zu machen. Ich muß
mich wohl damit abfinden, daß es bei der gemäßigten Erscheinungsform bleibt,
die ich jetzt schon aufweise.
Hatten Sie Sehnsucht nach Wahnsinn?
BEGINNEN: Ich hätte mich dann sicher gefühlt, sicherer als jetzt jedenfalls.
Sind Sie mit Ihrer Verrücktheit nicht in Ihrem Beruf ganz gut aufgehoben?
BEGIN NEN: Doch, schon. Ich kann es verwerten. Aber es ist ja nicht so, daß
man meine beruflichen Möglichkeiten nun unbedingt als hervorragend bezeichnen
könnte.* Jahrelang habe ich mich damit begnügen müssen, in sogenannten
Boulevardstücken die Nutten und Dienstmädchen zu spielen, ersteres, weil man
Damen des Gewerbes bevorzugt rothaarig besetzte, letzteres aufgrund meiner etwas
gebückten Haltung, die ich mir angewöhnt hatte, um nicht so groß zu erscheinen.
Was für Rollen würden Sie denn gern spielen?
BEGINNEN: Maria Stuart zum Beispiel, so Charakterfrauen mit großen Gefühlen,
also nicht jedermanns Milchfrau. Diese armen Arbeiterfrauen interessieren mich
überhaupt nicht. Ich bin, wenn man es so nennen kann, ein Fan von Sarah Bernhard.
Ich möchte dazu kommen, die Gefühle, die in mir sind, auszukotzen.
1975 wurden Sie mit dem deutschen Kleinkunstpreis ausgezeichnet. War das für
Sie ein Erfolgserlebnis?
BEGINNEN: Oh, Gott, nein, ich hasse das. Der Begriff »Kleinkunst« trifft einfach
nicht auf mich zu, wenn man davon ausgeht, daß das etwas mit Humor zu tun hat.
Wenn man in Deutschland von Humor spricht oder einem humorigen Menschen, dann
weiß ich schon: Renne! Das erinnert mich immer an einen riesigen Komposthaufen,
besonders wenn der sogenannte kritische Humor gemeint ist. Das finde ich ganz
entsetzlich, denn das ist doch, politisch verbrämt, auch nur so eine nette Form
der Unterhaltung, während ich so anarchistisch wie möglich vorgehen und immer
weiter in dieser Richtung bohren ... nein, nicht bohren, sondern ganz kontinuierlich
und deutsch arbeiten möchte.
Ja, aber das tun Sie doch jetzt schon.
BEGINNEN: Ich tue es, aber ich werde nicht ernst genommen. Es ist mir, wie auch
immer das kommt, nicht gegeben, eine in diesem Lande in diesem Beruf angebrachte
Seriosität auszustrahlen. Ich bin dazu verflucht, die Leute zum Lachen zu bringen.
Nicht auch begnadet?
BEGINNEN: Nein, nur verflucht, das genügt als Begnadung.
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*) Ortrud Beginnens Schauspielkarriere
kam erst nach diesem Interview richtig in Schwung. Sie spielte in Bochum, Hamburg
und am Wiener Burgtheater. 1995 wurde sie von der Zeitschrift "Theater
heute" zur "Schauspielerin des Jahres" gekürt. 1999 verstarb
sie, 60-jährig, an Krebs.
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Erschienen am 5. September 1980 in der ZEIT