Der Anlaß meines Interviews mit der Schauspielerin Maria Becker war ein Mißgeschick, das sich in einer Vorstellung des Stückes »Der Präsident« von Thomas Bernhard am Münchner Residenztheater ereignet hatte. Sie spielte die Präsidentin. In der von mir besuchten Aufführung gelang es ihr nicht, einen Bügel der Brille, die sie aufzusetzen hatte, in die falsch montierte Perücke zu stecken. Auch ein zweiter Versuch scheiterte.
Was dachten Sie
in diesem Augenblick?
MARIA BECKER: Das schoß durch meinen Kopf wie ein Blitz: 0h je, ich hab' doch
besprochen, daß die Nadel nicht da hingesteckt wird, aber jetzt ist sie trotzdem
da, und ich komm' mit dem Bügel nicht durch. Soll ich sie herausziehen? Nein,
vielleicht bricht sie. Soll ich die Brille zur Nasenspitze vorrutschen lassen?
Nein, das schaut blöd aus. Aber über die Perücke krieg' ich sie auch nicht.
Also, was mach' ich? Das ging alles so schnell, wissen Sie, zzzg wuck ging das
im Kopf, und da war auch schon der Versprecher.
Und da waren Sie nicht mehr die Rolle, sondern Sie selbst?
BECKER: Das bin ich immer. Man ist nicht wer anderer auf der Bühne. Wer Ihnen
das erzählt, lügt.
Also sehen Sie, wenn Sie sich im Spiegel der Präsidentin sehen, nicht die Figur,
die Sie spielen, sondern sich selbst?
BECKER: Nein, da seh' ich ... Donnerwetter, wen seh' ich denn da? Sie stellen
mir aber Fragen!
Wenn Sie sich auf der Bühne die Wimpern ankleben, sind das Ihre Wimpern oder
die Wimpern der Präsidentin?
BECKER: Das sind natürlich die Wimpern der Präsidentin.
Haben Sie da die Gedanken der Präsidentin oder denken Sie, oh Gott, wie furchtbar
ich heute wieder geschminkt bin?
BECKER: Nein, das denke ich nicht, das darf ich nicht denken, das ist die Arbeit,
die vorher geschieht. Das Schminken der Maria Becker, das geschieht vorher...
Wen sehen denn Sie, wenn Sie sich im Spiegel sehen?
Ich stehe ja nicht auf der Bühne.
BECKER: Doch, doch, sagen Sie, wen sehen Sie? Damit ich einen Anhaltspunkt habe.
Ich sehe mich vermutlich.
BECKER: Und was empfinden Sie?
Das kommt darauf an, wie ich mich fühle. Manchmal Ekel, manchmal auch Wohlgefallen.
Das ist verschieden.
BECKER: Sehen Sie, das darf ich in einer Rolle niemals empfinden, weil die Kritik,
die man an sich selbst übt, ausgeschaltet sein muß, wenn man spielt. Können
Sie reiten?
Nein.
BECKER: Schade. Das wäre nämlich ein Beispiel. In dem Augenblick, wo Sie im
Sattel sitzen und sich in einer gewissen Harmonie mit dem Tier befinden, dürfen
Sie nicht anfangen zu überlegen: Sitz' ich jetzt richtig? Hab' ich die Zügel
im Griff? Bin ich im richtigen Winkel? Wenn Sie das denken, geht es schon nicht
mehr. Sie müssen tun, tun, tun, ununterbrochen tun, und wenn Sie das nicht können,
dann geht es Ihnen wie mir mit der Brille, Sie haben es ja erlebt: ein einziger
Gedanke und zack, schon war es passiert, schon war der Stolperer da. Wär' ich
in diesem Augenblick auf dem Pferd gesessen, wär' ich gestürzt.
Wird die Gefahr des Stolperns dadurch, daß Sie auf der Bühne in den Spiegel
sehen müssen, verstärkt?
BECKER: Schaun Sie, ich schau ja als Präsidentin nicht so in den Spiegel, wie
ich als Maria Becker hineinschauen würde, sondern ich gucke ja in den Spiegel,
wie die Präsidentin hineinguckt, und ich denke, wie die denkt, und ich kontrolliere
mich so, wie die das tun würde. Wenn ich mich angucken würde, dann wäre
ich ja nicht in der Arbeit.
Ja, aber dann sind Sie ja auf der Bühne doch nicht Sie selbst, sondern das,
was Sie spielen.
BECKER: Du liebe Zeit, Sie gehen mir vielleicht an die Nieren! Ich bin schon
ich selbst, aber andererseits auch wieder nicht... Ich sehe Bilder, die ich
mir aufgebaut habe. Zu jedem Satz sehe ich eine bestimmte Sache, die ich mir
vorher auf den Proben zurechtgelegt habe. Jeder Schauspieler hat eine bestimmte
Technik. Das ist individuell ganz verschieden. Das kann man nicht so einfach
erklären, diesen seltsamen Vorgang, diese merkwürdige Kunst des Theaterspielens.
Ich bin ein Feind aller Theorie und ein Todfeind der Langeweile und des Dozierens.
Da wird immer geredet von Verfremdung und daß man das, was man spielt, ausstellen
soll und was es dergleichen theaterwissenschaftliche Hirnblasen mehr gibt, die
dann alle in der Praxis zerplatzen. Natürlich tut man das alles, denn man ist
ja gleichzeitig der Schöpfer und das Geschöpf, und man zeigt eine Figur von
verschiedenen Seiten. Aber man kann das nicht so beschreiben. Theater ist Handwerk.
Da gibt es Regeln, Gesetze, Erfahrungen...
Erarbeiten Sie sich eine Rolle mehr mit dem Intellekt oder mit dem Gefühl?
BECKER: Ich geh' schon sehr mit dem Intellekt ran. Sonst könnte ich eine Figur
wie die Präsidentin ja gar nicht spielen. Die ist ja eineinhalb Stunden auf
der Bühne und redet ununterbrochen. Das ist schon vom Physischen her eine solche
Anstrengung, das geht fast über die Kräfte. Ich find' es eigentlich einen Jammer,
daß der Bernhard nicht mal den Versuch macht, Dialoge zu schreiben. Diese endlosen
Monologe, das ist ja von einem Schauspieler schon rein gedächtnismäßig fast
nicht zu schaffen.
Wie haben Sie sich den Text angeeignet?
BECKER: Ich hab' mich hingesetzt und mir erst mal richtige Sätze geschrieben,
weil das ist ja in Versen, und da hab' ich mir also die Sätze so aufgeschrieben,
wie ich sie denke, als wirkliche, richtige Sätze.
Mit neuen Worten?
BECKER: Nein, die Worte hab' ich gelassen, nur die Einteilung hab' ich so gemacht,
wie ich sie empfinde. Also, sagen wir, wenn da steht: Ehrgeiz Haß sonst nichts
das Hochgeschlossene das Hochgeschlossene es ist aus der Mode gekommen es ist
aus der Mode gekommen Frau Fröhlich, dann hab' ich geschrieben: Ehrgeiz Komma
Haß Komma sonst nichts Punkt Gedankenstrich das Hochgeschlossene Fragezeichen
das Hochgeschlossene Ausrufungszeichen es ist aus der Mode gekommen Gedankenstrich
es ist aus der Mode gekommen Komma Frau Fröhlich Ausrufungszeichen.
Im Buch stehen die Satzzeichen nicht?
BECKER: Nein, gar nichts. Im Buch steht gar nichts. Schrecklich. Der Schauspielerberuf:
schrecklich! Es ist ein so schwerer Beruf, wissen Sie, so etwas Schweres, das
kann man sich gar nicht vorstellen.
Warum machen Sie denn nicht etwas anderes?
BECKER: Was soll ich denn machen? Ich bitte Sie!
Ist es nicht auch manchmal beglückend?
BECKER: Nein, ist es nicht.
Nicht einmal für Momente?
BECKER: Nein, nie. Es ist Qual, nichts als Qual. Die Qual übersteigt den Genuß
bei weitem.
Sind Sie masochistisch veranlagt?
BECKER: Nein, überhaupt nicht. Ich werde Ihnen gleich sagen, was es erleichtert.
Man ist ja nicht allein. Man ist auf den Proben mit den Kollegen. Das ist das
Schöne. Das Probieren, das ist das Schöne. Aber in dem Augenblick, wo Sie vor
dem Publikum stehen, ändert sich alles, wird alles anders. Es ist eine chemische
Veränderung, in die man da eingeht. Da können Sie sich stundenlang vorher überlegt
haben, was für einen witzigen, zarten, interessanten Moment Sie an der und der
Stelle herstellen wollen, wenn dann die Leute dasitzen, und Sie merken, da kommt
nichts, war alles umsonst.
Spüren Sie das Publikum, während Sie spielen?
BECKER: Es ist eine Gegenwart. Ich seh' es nicht, aber es ist eine Gegenwart.
Es ist eine gemeinsame Sache, die der Schauspieler und das Publikum machen,
eine Sache von Schwingungen, ein Spannungsfeld, das Sie erzeugen müssen, Abend
für Abend, ein Seiltanz...
Was empfinden Sie für das Publikum?
BECKER: Bewunderung. Ich bewundere diese Leute. Wenn ich denke, wie anstrengend
das Leben ist! Die stehen auf in der Früh, dann rasen sie in die Stadt, arbeiten
den ganzen Tag, dann fahren Sie wieder nach Hause, ziehen sich um, und dann
gehen sie noch ins Theater und schaun sich drei Stunden lang so ein Stück an.
Das bewundere ich, ich sag' es ganz offen.
Warum haben Sie sich, obwohl Sie so leiden, den Beruf des Schauspielerin ausgesucht?
BECKER: Ich war, als ich jung war, ungeheuer davon überzeugt, daß man alle möglichen
Botschaften an die Welt schicken kann durch die Möglichkeit, auf der Bühne zu
stehen und einen Menschen zu zeigen, sein Schicksal, seine Freuden, seine Verzweiflung.
Inzwischen ist mein Glaube an diese Botschaften etwas zurückgegangen, aber ich
denke immer noch, daß man gewisse Dinge vermitteln kann mit dem Theater.
Ist das Theaterspielen auch ein Ventil, die eigene Verzweiflung herauszulassen?
BECKER: Nein, dazu ist es zu schwer, zu anstrengend, zu qualvoll.
Gibt es Tage, an denen Sie denken, heute kann ich nicht spielen?
BECKER: Ja, jeden Tag, vor jeder Vorstellung denke ich das. Ich kann es nicht.
Ich werd' es nicht schaffen. Ich bin zu müde. Ich bin zu kaputt. Ich kann es
nicht. Es wird nicht gehen... Aber dann sage ich mir, fang' ganz langsam an,
ganz vorsichtig, Schritt für Schritt, denk nicht an das Ganze, denk nur an den
Anfang. Das hilft mir.
Und wenn die Vorstellung vorbei ist?
BECKER: Bin ich erschöpft, völlig erschöpft, ausgewunden, geplättet.
Und dann gehen Sie schlafen?
BECKER: Nein, dazu bin ich in einer zu großen Erregung.
Ist das nicht das Glück: Erregung, Erschöpfung?
BECKER: Sagen Sie mal, was für ein Sternzeichen sind Sie? Sind Sie ein Steinbock?
Nein, Fisch.
BECKER: März?
Nein, Februar.
BECKER: Komisch, ich hätt' gedacht, Sie sind Steinbock.
Und Sie?
BECKER: Wassermann.
Wie alt?
BECKER: 1920 geboren.
Trinken Sie?
BECKER: Wie meinen Sie das?
Ich meine, vor der Vorstellung, um die Angst loszuwerden.
BECKER: Nein, nie. Das wäre unmöglich.
Auf welche Weise amüsieren Sie sich?
BECKER: Im Moment gar nicht. Ich glaub', ich bin ein ziemlich schwerfälliger
Mensch. Leicht bin ich nie. Wissen Sie, ich hab' da ein Handicap. Mein Kopf
hindert mich. Ich kann mich nicht gehenlassen.
Denken Sie an den Tod?
BECKER: Ununterbrochen. Ich lebe ja mit dem Tod. Ich hab' solche Todesangst,
schrecklich! Ich wache nachts auf und denke, ich sterbe.
Was machen Sie dann?
BECKER: Ich hypnotisiere mich zurück in den Schlaf.
Können Sie erklären, was Sie am Tod so sehr fürchten?
BECKER: Das Ungewisse, die Endlichkeit aller Dinge, daß alles sich ändert, diesen
rasanten Ablauf der Zeit... Ich bin vorgestern im Museum gewesen und hab' mir
die Leute angeschaut auf den Bildern. Da guckte mich aus einem Bild so ein Kurfürst
an, jung, etwas geziert, nicht gerade sympathisch. Ich bin weitergegangen, aber
der guckte mir nach. Da dachte ich, mein Gott, wie unheimlich, da steht er und
schaut mich an, und wo ist er wirklich? Wissen Sie, ich häng' so am Leben. Drum
hab' ich solche Angst vor dem Tod. Aber, sagen Sie, was hat denn das alles mit
dem Theater zu tun?
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Aus: André Müller, "Entblößungen", Goldmann, 1979