Sie wirken mit manchen Anschauungen, die Sie vertreten, in der CDU eher exotisch.*
Weshalb sind Sie Mitglied gerade dieser Partei geworden?
MANFRED ROMMEL: Ich halte die CDU nach wie vor für eine Partei, die meine Grundhaltung
am ehesten ausdrückt.
Welche Grundhaltung ist das?
ROMMEL: Die besteht erstens in der Meinung, daß eine Politik auf Werten beruhen
sollte, zweitens, daß sie in praktischen Fragen möglichst pragmatisch sein sollte,
drittens, daß es im Moment nichts Besseres gibt als die Marktwirtschaft, und
viertens, daß das Bündnis mit den Vereinigten Staaten die Grundlage unserer
Politik bleiben sollte.
Das würde auch ein Mitglied der SPD so sagen.
ROMMEL: Sie haben mich nach den allgemeinen Grundsätzen gefragt. Es ist heute
so, daß die grundsätzlichen Unterschiede zwischen den Parteien nicht mehr so
fürchterlich groß sind. Aber die praktischen Unterschiede sind ganz erheblich.
Es gibt sehr gescheite und ökonomisch versierte Sozialdemokraten, aber es gibt
auch welche, die, sobald sie Ökonomie hören, ein moralisches Unbehagen empfinden.
Stehen wir nicht vor Aufgaben, deren Lösungen über das bloß Pragmatische weit
hinausgehen?
ROMMEL: Nein, denn man kann auch kulturpolitische Fragen pragmatisch lösen,
wobei ich unter Kultur nicht nur verstehe, ins Theater zu gehen oder Musik zu
hören. Ins Theater gehen oder Beethoven hören können Sie auch als Hornochse,
da besteht gar kein Zweifel. Kultiviert ist ein Mensch, der sich die Bildung
seiner Persönlichkeit zum Ziel gesetzt hat. Was wir brauchen, ist ein profundes
Nachdenken über die Bestimmung des Menschen und über die Rolle, die er auf dieser
Welt spielen soll.
Aber das sind doch nicht Ziele mit praktischem, sondern mit metaphysischem Inhalt.
ROMMEL: Das ist richtig. Die Ziele und Werte sind metaphysisch. Aber um sie
einzuordnen, brauchen Sie sehr viel Vernunft. Es gibt, wenn ich recht sehe,
sechzehn Möglichkeiten. Sie können moralische, aber unvernünftige Ziele anstreben
oder vernünftige, aber unmoralische oder sowohl unmoralische als auch unvernünftige
oder moralische und vernünftige. Das gleiche gilt für die Mittel, mit denen
Sie zu diesen Zielen gelangen.
Ist nicht Moral immer vernünftig?
ROMMEL: Aber nein, das zu glauben wäre ein gewaltiger Irrtum. Die Vernunft ist
die Anwendung der Denkgesetze, also die hat eine mehr instrumentale Bedeutung.
Sie können sehr vernünftig einen Bankeinbruch machen oder sogar einen Mord begehen.
Nur sind das eben unmoralische Ziele.
Nicht immer. Hitlers Ermordung, gegen die Ihr Vater** sich sträubte,
wäre eine im besten Sinne moralische Tat gewesen.
ROMMEL: Mag sein. Nur hat mein Vater eine Ermordung Hitlers nicht aus moralischen,
sondern vor allem aus vernünftigen Gründen für falsch gehalten. Sein Hauptbedenken
war, daß er den toten Hitler für gefährlicher hielt als den lebendigen. Er hat
gemeint, es würde ein Mythos entstehen, wenn man Hitler beseitigt, und viele
der Soldaten und Bürger würden, sobald sie von der Ermordung hören, nicht bereit
sein, den für das Attentat Verantwortlichen Folge zu leisten. Mein Vater fürchtete,
es würde zu einem Bürgerkrieg kommen.
Wäre das schlimmer gewesen als das, was geschah, weil Hitler lebte?
ROMMEL: Das wäre schon schlimm gewesen, wenn die Deutschen sich auch noch gegenseitig
umgebracht hätten, denn das hätte noch lange gedauert. Das Ziel meines Vaters
im Jahr 1944 war, den Krieg möglichst rasch zu beenden, und zwar so, daß nicht
auch noch der eine Deutsche den anderen totschlägt, sondern die Westmächte so
weit wie möglich nach Osten vordringen können, um uns vor den Russen zu schützen.
Denn die hatten doch den größten Anlaß, an uns Rache zu üben.
Hatte Ihr Vater zu diesem Zeitpunkt gegenüber Hitler als Person seine Loyalität
bereits aufgegeben?
ROMMEL: An Hitler als militärischen Führer hatte er schon im Oktober 1942 erhebliche
Zweifel, aber er war ja Berufssoldat, und die Reichswehr, die spätere Wehrmacht,
hatte ein Dogma, das lautete: Wir sind keine Politiker. Den Offizieren der Weimarer
Republik war eingebleut worden, sie hätten mit Politik nichts zu schaffen, um
der Versuchung, daß sich da irgend jemand zum Diktator aufwirft, entgegenzuwirken.
Dann kam der Krieg. Da wäre mein Vater überhaupt nicht auf die Idee gekommen,
daß man Revolution machen könnte, denn für seine Generation gab es nichts Schlimmeres
als einen Krieg zu verlieren. Der Gedanke an Widerstand kam erst, als er merkte,
es gibt gar keine Chance mehr zu gewinnen. Es war doch so, daß Hunderttausende
Deutsche sinnlos geopfert wurden für ein Ziel, das gar nicht mehr realistisch
war. Da begann bei meinem Vater zunächst das Bemühen um ein begrenztes Kriegsziel,
und erst, als Hitler darauf nicht ansprang, kam das Nachdenken, wann und wie
man notfalls auch gegen ihn Schluß machen könnte.
In einer 1978 gehaltenen Rede zum Gedenken an die Reichskristallnacht sagten
Sie: "Zu viele Menschen meinten, es genüge, wenn sie das sind, was wir
vernünftig nennen, wenn sie in Beruf und Amt etwas leisten und die ihnen vom
Staat zugewiesenen Pflichten erfüllen.» War darin auch eine Kritik an Ihrem
Vater enthalten?
ROMMEL: Nein, das war eine allgemeine Bemerkung. Ich würde meinem Vater niemals
irgendwelche Vorwürfe machen, das wäre meinem Wesen ganz fremd. Ich bin nicht
der Meinung, daß es die Aufgabe der Söhne ist, die vorausgegangene Generation
anzuklagen, und ich glaube auch nicht, daß sich darin eine besonders fortschrittliche
Gesinnung ausdrückt. Es ist furchtbar leicht, hinterher ein Urteil zu sprechen,
aber es ist sehr schwer, es in gleicher Lage besser zu machen.
Muß man nicht verzweifeln, wenn man sich das nicht zutraut?
ROMMEL: Wieso denn? Sicherlich trauen wir uns zu, aus einem geschichtlichen
Vorgang zu lernen. Die wichtigste Lehre ist, daß man die parlamentarische Demokratie
erhalten muß, denn solange diese Demokratie funktionsfähig ist, kann es kein
Chaos geben und keine Diktatur kann entstehen. Aber diese Lehre wird heute nur
von wenigen richtig gezogen. Viele machen das äußerst oberflächlich, indem sie
sagen, der Fehler im Dritten Reich war der Gehorsam. Der Fehler war aber nicht
der Gehorsam an sich, sondern daß man blindlings jedem System gehorcht hat,
ohne sich anzusehen, wem man denn da gehorchte.
Sollte man nicht den Gehorsam durch mehr Nachdenken ersetzen?
ROMMEL: Also ich halte Gehorsam, Disziplin und Ordnung für nach wie vor gute
Eigenschaften. Wenn man, wie jetzt häufig, hergeht und sagt, ich zeige meine
politische Reife dadurch, daß ich überhaupt nichts mehr akzeptiere, was mir
von Seiten des Staates geboten wird, dann ist das gefährlich.
Wer sagt denn so etwas Lächerliches?
ROMMEL: Ist das lächerlich?
Zu sagen, man ist gegen etwas nicht aus einem inneren Bedürfnis, sondern um
Reife zu zeigen, ist lächerlich.
ROMMEL: Unreife kann auch ein Bedürfnis sein.
Ja, aber ein lächerliches.
ROMMEL: Das stimmt. Trotzdem steht für mich außer Frage, daß der Zerfall der
Demokratie einer der wesentlichsten Gründe war, weshalb es zum Dritten Reich
kommen konnte.
Aber das kann doch wieder passieren.
ROMMEL: Ja, aber das darf eben nicht passieren. Dies zu verhindern ist die Aufgabe,
die uns aus der Geschichte zukommt.
Was geschieht, wenn wieder chaotischere Verhältnisse kommen? Sind wir dann dem
Wahnsinn auf Gedeih und Verderb ausgeliefert?
ROMMEL: Wenn das Chaos kommt, dann kommt der Wahnsinn in irgendeiner Form wieder.
Das bedeutet, daß Sie in die Menschen wenig Vertrauen haben.
ROMMEL: Das Vertrauen in die Menschen habe ich nur, solange es eine funktionsfähige
parlamentarische Demokratie gibt. Im Falle eines Chaos habe ich dieses Vertrauen
nicht.
Ein zutiefst pessimistischer Standpunkt.
ROMMEL: Ja, aber der ist doch durch die Geschichte erhärtet. Ich glaube, daß
man dem Menschen nur, wenn er in einer geordneten Freiheit lebt, vertrauen kann.
Und wenn die Ordnung zerfällt, wird er zum Unmensch?
ROMMEL: Er wird nicht zum Unmensch, aber er ist verwirrt und daher leicht zu
mißbrauchen. Die Unmenschen haben dann eine Chance.
Welche Unmenschen meinen Sie? Ist das eine vom Menschen zu unterscheidende Gattung?
ROMMEL: Es gibt verschiedene Arten. Es muß ja nicht gleich ein Hitler sein.
Jedenfalls hat sich gezeigt, daß Chaos immer zur Diktatur führt. Denken Sie
zum Beispiel an die Französische Revolution. Zuerst hat alles geschrien: Freiheit!
Am Anfang waren da durchaus beachtliche Ziele, eine Sternstunde der Menschheit,
aber dann ist das mehr und mehr ausgeartet, da bestand die Freiheit nur noch
darin, jeden einen Kopf kürzer zu machen, und dann kam plötzlich eine solche
Sehnsucht nach Ordnung, daß Napoleon sich ohne große Schwierigkeiten zum Konsul
und dann zum Kaiser aufspielen konnte. In gewisser Weise ist auch die Entstehung
des Dritten Reiches so zu erklären. Aus dem Chaos nach dem Zusammenbruch der
Weimarer Republik ist der Herr Hitler hervorgegangen.
Ja, aber das wäre nicht möglich gewesen, wenn die Menschen das Chaos nicht so
gefürchtet und gleich nach dem starken Mann gerufen hätten.
ROMMEL: Sicher, aber so sind eben die Menschen, weil sie, man mag das bedauern,
nur kurze Zeit fähig sind, bestimmte Gefühle zu haben, dann übertreiben sie
meistens, und dann sehnen sie sich nach dem Gegenteil, dann kommt der Sturz
von einem Extrem in das andere, und mit einem Schlag ist das alte Anliegen verloren.
Man ist enttäuscht, daß die Freiheit die Glückseligkeit nicht gleich zur Folge
hatte, und dann sagt man, es muß wieder jemand kommen, der die Ordnung herstellt.
Warum sollte das, wenn es immer so war, plötzlich anders werden?
ROMMEL: Weil, wie ich sehr hoffe, die parlamentarische Demokratie bleibt.
In alle Ewigkeit?
ROMMEL: Jawohl.
Aber Ewigkeit ist doch ein religiöser Begriff, den können Sie nicht auf die
Politik anwenden.
ROMMEL: Na gut, dann in die voraussehbare Ewigkeit.
Das genügt nicht.
ROMMEL: Mir genügt das und denen, die nach mir kommen, genügt es auch. Was die
übernächste Generation machen soll, darüber müssen sich die dann den Kopf zerbrechen.
Ich jedenfalls glaube, daß es nichts mit Vertrauen in den Menschen zu tun hat,
wenn jemand sagt, wir sollen die Demokratie auflösen, um zu sehen, ob die Menschen
dann auch auf die Füße fallen. Denn dann würden sie eindeutig nicht auf die
Füße fallen.
Ich plädiere doch nicht für ein mutwilliges Auflösen der Demokratie. Nur sollte
man sich wappnen für den Fall, daß die sich bereis andeutenden Krisen zu etwas
weniger geordneten Zuständen führen.
ROMMEL: Warum sollen wir uns denn das Chaos vorstellen? Gut, ich kann mir natürlich
vorstellen, daß ich mit meinem Auto in einen Baum fahre und tot bin. Aber was
nützt es, mir so etwas vorzustellen?
Ihr Tod wäre ja für Sie nicht das Chaos, sondern sozusagen die sicherste Lösung.
ROMMEL: Ich kann mir auch vorstellen, daß jemand meine Akten in Unordnung bringt
und ich in meinem Büro das vollständige Chaos habe. Aber warum soll ich mich
in diese Vorstellung hineinversetzen und mir auf dem Wege der Hypnose selbst
suggerieren, daß diese Lage von mir gemeistert würde?
Würde sie nicht?
ROMMEL: Doch schon, ich würde Ordnung schaffen, aber ich würde dabei radikalere
Methoden anwenden, als ich sie jetzt anwende.
Wie weit würde das gehen? Würden Sie Ihre Sekretärin erschlagen?
ROMMEL: Nein, denn das würde das Chaos nur noch vergrößern. Wenn ich jemanden
brauche in so einer Situation, dann ist es die Sekretärin. Außerdem würde ich
das ohnehin aus den schon erwähnten moralischen Gründen nicht machen.
Na sehen Sie, da brauchen Sie also gar keine Angst zu haben.
ROMMEL: Dennoch, die Forderung, man solle den Menschen die Angst vor dem Chaos
nehmen, kann ich nicht akzeptieren. Warum soll ich mich wappnen gegen etwas,
das ich für schädlich halte? Da ist es doch besser, es zu verhindern.
Das geht eine gewisse Zeit, aber wie lange? Es können Probleme auftreten, vor
denen auch Sie kapitulieren müssen, zum Beispiel die Frage der Energiebeschaffung.
Da gibt es welche, die befürchten das Chaos, wenn auf Kernkraft verzichtet würde,
und andere, die haben furchtbare Angst vor den Folgen einer atomaren Verseuchung.
ROMMEL: Diese Angst ist ganz unvernünftig.
Das ist Anschauungssache.
ROMMEL: Der Mensch hat Angst vor allem, was er nicht kennt. Mein Anliegen ist,
daß niemand sagt, er sei aus moralischen Gründen für oder gegen die Kernenergie,
sondern daß man hier ganz klar überlegt, welchen Lebensstandard und welches
soziale System wollen wir haben, und was erfordert das volkswirtschaftlich,
wieviel Energie brauchen wir. Wenn das beantwortet ist, soll man ganz nüchtern
prüfen, wie diese Energie zu beschaffen ist mit möglichst geringem Risiko und
möglichst geringer Umweltzerstörung. Was ich mir wünsche ist, daß an die Stelle
der Agitation Argumente treten.
Welchen Lebensstandard halten Sie für in jedem Fall unverzichtbar?
ROMMEL: Unsere Arbeitsplätze müssen erhalten bleiben und die deutsche Industrie
muß auch weiterhin exportieren können, denn wenn wir nicht exportieren, dann
können wir unsere Rohstoffe nicht mehr bezahlen, und dann haben wir hier nicht
zwei Millionen Arbeitslose, sondern vielleicht zehn Millionen. Dann kauft auch
niemand den „Playboy“, für den Sie mich interviewen.
Davor habe ich keine Angst.
ROMMEL: Was machen Sie dann?
Ich traue mir zu, daß mir dann etwas Geeignetes einfällt.
ROMMEL: Gut, darum geht es auch nicht, es geht darum, daß das ganze Ordnungsgefüge
einer Gesellschaft, die einen einigermaßen hohen Lebensstandard erreicht hat,
zusammenbräche und daß die soziale Sicherung nicht funktionieren würde, daß
Sie kein Arbeitslosengeld mehr bekämen und keine Rente.
Die bekomme ich als Freiberuflicher ohne Versicherung sowieso nicht.
ROMMEL: Das ist natürlich ein Abenteuer. Dann haben Sie etwas Heroisches. Dann
sind Sie ein Unzeitgemäßer im Sinne von Nietzsche. Aber Sie werden doch zugeben,
daß es menschliche Probleme aufwirft, wenn die Sozialhilfe, die Arbeitslosenhilfe
und so weiter, wenn das alles nicht mehr funktioniert und wenn ein Haufen Leute
arbeitslos sind und eine so komplizierte Volkswirtschaft aufhört ineinanderzugreifen.
Man kann doch nicht sagen, man hat jetzt nur noch Angst vor der Kernkraft. Manche
haben vor Mäusen Angst und manche vor Katzen. Ich bin natürlich nicht in der
Lage, jemandem, der vor Mäusen Angst hat, einzureden, daß er künftig vor Katzen
Angst haben sollte. Aber selbst, wenn Sie unterstellen, daß die Energie, die
bei größtmöglicher Einschränkung gebraucht wird, auch in Zukunft aus Öl und
anderen fossilen Brennstoffen erzeugt werden könnte, ist trotzdem eines ganz
klar, nämlich daß der Schadstoffgehalt der Luft immer größer wird, so daß die
Atmosphäre irgendwann umkippt. Das ist naturwissenschaftlich bewiesen.
Was würden Sie als die größtmögliche den Menschen zumutbare Einschränkung ansehen?
ROMMEL: Die größtmögliche Einschränkung geht nur so weit, daß ein vernünftiger
Lebensstandard bei im Winter einigermaßen erträglichen Zimmertemperaturen gewahrt
bleibt. Die größtmögliche Einschränkung ist nicht, daß ich im Pelzmantel mit
Filzstiefeln den ganzen Tag in einer ungeheizten Bude verbringe. Natürlich könnte
ich viel Energie einsparen, wenn ich meinen Lebensstandard als Luftwaffenhelfer
im Winter 1945 als Maßstab nehme. Aber das ist nicht erträglich.
Wieso? Sie haben es doch ertragen.
ROMMEL: Ja, aber ungern. Ich muß sagen, mein Verhältnis zur Natur ist seit diesem
Aufenthalt in der Natur auf das tiefste gestört. Für einen Schwärmer wäre das
ein einmaliges Erlebnis gewesen, wie da die Eiskristalle über dem Deckungsloch
hingen und der Körper auf natürliche Weise Wärme erzeugte. Denn da hatte ich
39 Grad Fieber. Da hat mich eine tiefe Resignation ergriffen.
Hatten Sie nicht starke Motive, das auszuhalten? Sie waren doch ein begeisterter
Hitlerjunge.
ROMMEL: Ja, freilich, als junger Kerl, da hat mich das fasziniert. Sehen Sie,
und deshalb habe ich solche Angst vor Gefühlen. Denn diese Begeisterung war
sehr gefühlvoll.
Und die wurde mißbraucht?
ROMMEL: Ja, der Hitler hat unsere Gefühle manipuliert, das war großartig, gerade
dieses Gefühl von Heranwachsenden, die doch unbedingt erwachsen sein und sich
für etwas einsetzen möchten, das ist damals raffiniert ausgenutzt worden, indem
man uns in eine Uniform steckte und uns ständig durch Auszeichnungen und Belohnungen
aufwertete, durch Schulterklappen und allem möglichen Klimbim, den man da gekriegt
hat, kleine Beförderungen zum Luftwaffenoberhelfer und solche Sachen. Da bin
ich mir gleich um drei Jahre erwachsener vorgekommen. Diese Erfahrung ist mir
geblieben und ein höchst berechtigtes Mißtrauen gegenüber Gefühlen, weil dieses
unbefangene, blindgläubige Hinterherrennen sich doch so unmenschlich ausgewirkt
hat auf andere. Über uns Deutsche will ich hier gar nicht reden.
Sind das die Wurzeln Ihre Liberalität?
ROMMEL: Das kann man so sagen. Sicher fällt es mir leichter als einem gefühlsbetonten,
spontanen Menschen, jemandem, der eine völlig andere Meinung vertritt als ich,
die menschlichen Qualitäten nicht abzusprechen. Unser Erlebnishintergrund ist
ein ganz anderer als der jener, die nach uns kamen. Darauf beruht auch das Mißverständnis
zwischen den Generationen, da versteht man sich oft nicht. Wenn ich einen jungen
Menschen, den der Schiller wahrscheinlich verstanden hätte, so idealistisch
daherreden höre, dann erinnert mich das immer an meine Jugend, in der ich auch
sehr begeistert war, ohne zu wissen, wofür. Wenn man mich damals gefragt hätte,
was ist Nationalsozialismus, hätte ich gesagt, das ist für Deutschland was Großes
und hätte über Rassenlehre und Germanen geredet, daß die germanische Rasse natürlich
die beste sei, was man halt in der HJ so gehört hat. Davon waren wir überzeugt.
Der Hitler hatte ein Haßgefühl gegen die Juden und hat es verstanden, das auszubreiten.
Was wird nach Ihrer Meinung geschehen, wenn nach dem Aussterben Ihrer Generation
jene in die politische Führung kommen, die diese Erfahrungen nicht mehr haben?
ROMMEL: Vielleicht werden das intaktere Menschen sein, aber das würde eine Zivilisation
voraussetzen, die wenigstens im Grundsätzlichen einheitliche Werte entwickelt.
Diese Werte können aber nur aus einem Kulturprozeß langsam entstehen.
Sind Sie gläubig?
ROMMEL: Ich war es lange Zeit nicht. Ich bin es jetzt wieder.
Wie oft gehen Sie in die Kirche?
ROMMEL: Ich bin ein schwacher Kirchgänger. Wenn ich gehe, dann ist es meistens
aus Konvention. Aber das ändert nichts daran, daß ich die Vorstellung von der
Existenz göttlicher Gesetze für die plausibelste halte und daß ich glaube, daß
diese Gesetze in der christlichen Lehre zum Ausdruck kommen. Es ist ja bekannt,
daß man die metaphysischen Fragen nie mit der Vernunft wird erklären können,
aber man muß doch sein Weltbild abrunden. Man kann nicht nur mit den durch
Erfahrung und Vernunft zugänglichen Bruchstücken leben, das heißt, man kann
schon, aber man kann dann eben nicht in sich ruhend leben.
Gefällt es Ihnen, wenn ich Sie als Philosophen bezeichne?
ROMMEL: Nein, ich bin schon Politiker. Als Philosoph werde ich nicht bezahlt.
Man ist das, wofür man bezahlt wird. Ich lese gern Philosophen, Hegel
natürlich, der Stuttgarter war, aber ich habe die Hälfte schon wieder vergessen
und vom übrigen höchstens ein Drittel verstanden.
Trotzdem zitieren Sie ihn dauernd in Ihren Reden.
ROMMEL: Man kann sich immer darauf verlassen, daß die anderen ihn überhaupt
nicht gelesen haben. Außerdem hat den Hegel niemand wirklich verstanden. Sein
intensivster Schüler, Marx, hat gesagt, er habe den Eindruck, der Hegel hätte
gar nicht gewünscht, verstanden zu werden.
In Ihrem Buch «Abschied vom Schlaraffenland» schreiben Sie, es sei falsch, zu
behaupten, den Menschen gehe es heute schlechter als früher, denn die
Lebenserwartung sei heute viel höher.
ROMMEL: Ja, das stimmt doch.
Führt
eine höhere Lebenserwartung zwangsläufig zum Wohlbefinden?
ROMMEL: Wenn man von Schopenhauer ausgeht, für den das Leben eine einzige Qual
und das Vermeiden des Übels das Ziel war, dann muß man die höhere
Lebenserwartung in der Tat als einen Rückschritt betrachten. Aber davon gehe
ich nicht aus. Die äußeren Umstände für das biologische und physische Leben der
Menschen sind heute günstiger als sie je waren. In der Ökologiediskussion wird
dauernd gesagt, es gebe keine reine Luft mehr, das Wasser sei verseucht,
Krankheiten überall. Aber wie war es denn früher? Das Wasser war gewiß nicht
reiner und die Medizin war im Zustand des Aberglaubens. Die Vorstellung, früher
sei alles gesünder gewesen, ist einfach Unsinn. Ich bin kein Feind der Natur,
aber es besteht doch kein Zweifel, daß, wie in den Großstädten, zweitausend
Menschen auf einem Quadratkilometer ohne massive Veränderung der Umwelt nicht
leben können. Ich muß hier ganz klar einmal sagen, der Mensch gehört auch zur
Natur und damit die von ihm bewirkten Veränderungen. Aber ich gebe zu, es ist
heute eine gewisse Tendenz, uns durch uns selbst umzubringen, entweder indem
wir die Natur so ruinieren, daß wir in ihr nicht mehr leben können, oder indem
wir einander bekämpfen, damit die Natur überlebt.
Was schlagen Sie vor, um diesen Trend aufzuhalten?
ROMMEL: Es muß weniger Menschen geben. Die humanste Art, das zu erreichen,
wäre, daß nicht mehr so viele Kinder geboren werden und gegen alte Gewohnheiten
die Vernunft sich durchsetzt. Sonst wird die Natur zu ihrem üblichen Mittel
greifen. Die Leute werden verhungern. Die Stärkeren bleiben übrig, die
Schwächeren werden niedergetrampelt.
Haben Sie Kinder?
ROMMEL: Nein, aber ich bin nicht stolz drauf. Ich hätte gern Kinder, meine Frau
auch. Man kann nichts erzwingen.
Ist Ihre Frau berufstätig?
ROMMEL: Nein, den Beruf hat sie nach unserer Heirat aufgegeben. Sie war
Romanistin. Aber ich glaube nicht, daß sie sich langweilt. Sie ist Vorsitzende
des Schwäbischen Frauenvereins. Dann macht sie den Haushalt, füttert die
Katzen. Außerdem lernt sie jetzt Russisch. Ich möchte aber zu der Frage, ob es
den Menschen heute besser geht, noch etwas sagen. Ich bin der Meinung, daß wir
kompliziertere Leiden haben als früher, aber daß wir vom Materiellen her
durchaus die Chance hätten, glücklich zu leben, vorausgesetzt, wir machen den
richtigen Gebrauch von unserem höheren Lebensstandard.
Wie soll jemand, der materielle Not nie erlebt hat, diese Chance begreifen
können?
ROMMEL: Eine berechtigte Frage! In gewissem Sinne war die Möglichkeit, Glück zu
empfinden, nach dem Krieg häufiger und leichter gegeben, denn da hat einen
schon eine Zigarette, ein Stück Wurst oder Butter beglücken können. Man kann
die Jungen nicht so behandeln, als hätten sie unsere Erfahrungen sozusagen mit
der Muttermilch eingesogen. Denen ist das vollkommen wurst. Es gibt ja
verschiedene Formen des Unbehagens. Ich kann fürchterlich an mir selber leiden,
obwohl es mir materiell gut geht. Darum muß man heute über die Frage der
Lebensziele mehr reden.
Ist diese Frage pragmatisch zu lösen?
ROMMEL: So pragmatisch bin ich gar nicht in dieser Hinsicht, nur will ich Ihnen
auch dazu etwas ganz Pragmatisches sagen: Wenn der Mensch nichts zu essen hat,
dann interessiert ihn alles andere überhaupt nicht, und zweitens, wenn die
Grundbedürfnisse befriedigt sind, dann ist es das wichtigste Ziel des Menschen,
sich selber achten zu können, und das fällt ihm natürlich leichter, wenn ihn
andere achten. Der Mangel des bisherigen Bewußtseins, das ich für zu
materialistisch halte, ist, daß man dem Menschen eingeredet hat, diese Achtung
gewinnt er durch treue Pflichterfüllung im Beruf, durch Karriere und durch
Konsum, durch Statussymbole. In den ersten Jahren nach dem Krieg hat das auch
vollkommen gereicht. Aber nun ist es komplizierter geworden, so daß man die
Ziele nicht reduzieren darf auf berufliche und finanzielle Erfolge.
Für diesen Gesinnungswandel wirbt die CDU aber nicht.
ROMMEL: Ich werbe dafür, und zwar mit Nachdruck, und viele in der Wirtschaft
haben auch schon erkannt, daß es nichts Gefährlicheres gibt als die
Unterstellung, der einzige Zweck des Menschen sei der materielle Erfolg. Zu
dieser Unterstellung kommen Sie, wenn Sie sagen, das Lebensziel ist es,
beruflich zu funktionieren und alles zu haben, was im neuesten Warenkatalog
steht.
Kann
die Wirtschaft, will sie nicht ihren Bankrott riskieren, Stimmung gegen das
Konsumieren machen?
ROMMEL: Das muß sie, weil sie andernfalls riskiert, daß man sie als Bedrohung
empfindet und so lange bekämpft, bis wieder ein Zustand erreicht ist, wo man
sich nach wirtschaftlicher Produktion so sehr sehnt, daß man für die höheren
Möglichkeiten keinen Sinn hat.
Das heißt, die Werbung muß eingestellt werden.
ROMMEL: Nein, warum? Man kann doch werben. Inzwischen ist es doch so, daß einem
vom Hundefutter bis zur Schneekette überall gesagt wird, das müsse man haben.
Da überlegt man sich, ob man es wirklich benötigt. Also mir redet niemand durch
Werbung was auf, das heißt, vor einiger Zeit habe ich mir eine Liege gekauft
zur Sonnenbestrahlung, aber da bin ich nur dreimal draufgelegen, dann hab ich
gemerkt, daß mir die Zeit fehlt.
Wollten Sie braun sein?
ROMMEL: Vor allem hab ich gedacht, daß es mir gesundheitlich gut tut. Aber ich
wollte auch braun sein, obwohl es für einen Politiker besser ist, wenn er
bleich ist. Ich führe meine Beamtenkarriere auf meine bleiche Gesichtsfarbe
zurück.
Was war, als Sie klein waren, Ihr liebstes Spielzeug?
ROMMEL: Zinnsoldaten und Bleisoldaten. Ich hab auch mehrere Panzer gehabt und
Kanonen. Mein Vater hat mir einmal einen Baukasten gekauft, weil er meinen
technischen Verstand schärfen wollte, aber daran war ich überhaupt nicht
interessiert. Kriegsspielzeug war mir das liebste, und ich halte das auch für
vollkommen unbedenklich.
Stimmt es, daß Sie sich gegen Mutproben wehrten, denen Ihr Vater Sie
unterziehen wollte?
ROMMEL: Nicht gegen alle. Ich habe mich dagegen gewehrt, vom Drei-Meter-Brett
ins Wasser zu springen.
Was war der Sinn dieser Proben?
ROMMEL: Mein Vater wollte mir Schmerzen ersparen. Er hat mir einmal erzählt, er
sei in seiner Jugend sehr weich gewesen und habe fürchterlich unter dem Militär
gelitten. Im Ersten Weltkrieg war er Infanterieoffizier, hat zwar nie gewaltige
Sprüche gemacht, aber sehr viel erlebt. Die sind da monatelang in ganz engen
Stellungen festgesessen, das Artilleriefeuer hat die Leichen in die Baumwipfel
geschleudert. Unter solchen Verhältnissen sind sie zum Sturm angetreten mit
Handgranaten, durch Drahtverhaue hindurch, schauerlich. Mein Vater hat gar
keine Freude am Krieg gehabt und hat das keineswegs als Erlebnis betrachtet,
das den Menschen erst richtig adelt, im Gegenteil, er hat vor lauter Angst
Durchfall bekommen und dann schrecklich gefürchtet, sich zu blamieren. Aber er
hat diesen Zustand schließlich doch überwunden und es mit Willenskraft dazu
gebracht, keine Angst zu empfinden. Das imponiert mir. Ich habe diesen Mut und
die Bereitschaft, sich selbst zu opfern, immer bewundert, und ich bewundere das
noch heute.
Obwohl es so entsetzliche Folgen hatte?
ROMMEL: Ja, denn nicht die Aufopferung führte zu diesen Folgen, sondern das
falsche Motiv, das dahinterstand. Ich halte es für eine Tragödie, daß so viel
blinder Mut und blinde Opferbereitschaft auf so niederträchtige Art und Weise
mißbraucht werden konnten. Das Bemerkenswerte an Hitler ist doch, daß das ein
Mann war, der andauernd Regie geführt hat, ein schrecklicher Künstler, der als
letzten Akt den Untergang des eigenen Volkes inszeniert hat, und zwar ohne
jedes schlechte Gewissen, in dem ununterbrochenen Glauben, etwas Heroisches,
noch nie Dagewesenes zu vollbringen. Das hat man zu wenig gesehen. Mein Vater
hat die ganze Zeit gemeint, der Hitler hätte zwar seine Temperamentsausbrüche
und Vorurteile, sei aber im Ganzen ein Patriot, der sich niemals gegen den
Vorteil des deutschen Volkes verhalten würde.
Wie haben Sie reagiert, als sie von der Vernichtung der Juden erfuhren?
ROMMEL: Zuerst hat man das abgeleugnet. Man wollte, daß das nicht wahr ist. Man
hat gesagt, diese Leichenberge sind Bombenopfer. Dann hat man es zur Kenntnis
genommen und hat gesagt, die Russen haben es auch gemacht, aber die haben es
eben nicht gemacht in diesem Umfang. Das war eine furchtbare Erfahrung. Von den
meisten Menschen wird eine Sache, für die man Opfer gebracht hat, als ein Wert
angesehen. Aber nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Dinge doch so, daß man
wirklich hat sagen müssen, nein, also hier hat gar nichts mehr einen Wert, und
es kann einem bloß jeder leid tun, der im blinden Glauben hat sterben müssen.
Ich habe nach dem Krieg eine große Lähmung empfunden und eine Unfähigkeit,
etwas mit Blick auf ein Ziel anzustreben. Ich habe ewig so vor mich hin
geträumt, kein Heft geführt in der Schule, und dann habe ich auch als Student
lange Zeit die Kraft nicht gefunden, mir die Jurisprudenz anzueignen. Erst
unter dem Einfluß meiner Frau hat sich das dann geändert, denn die war
unglaublich fleißig und hat dauernd gearbeitet. Da ist mir so langweilig
geworden, daß auch ich wieder gearbeitet habe. Aber der Schmerz und die Trauer
blieben. Es tun mir viele Leute leid, an die ich denken muß, und ich denke an
manche. Aber das behalte ich für mich. Meine Trauer ist unsichtbar. Man darf in
der Politik nicht zu sensibel sein. Man kann auch nicht Chirurg sein, wenn man
kein Blut sehen kann.
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*) Manfred Rommel, Jahrgang 1928, war von 1974 bis 1996 Oberbürgermeister von Stuttgart, brachte es aber wegen seiner vom Parteikurs abweichenden Ansichten nie zu höheren Ämtern.
**) Erwin Rommel (geboren 1891) ab 1942 Generalfeldmarschall, befehligte während des Zweiten Weltkrieges die deutschen Truppen in Nordafrika (Spitzname „Wüstenfuchs“), war in die Pläne zum Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 eingeweiht, lehnte aber dessen Ermordung ab. Wurde danach von den Nazis zum Selbstmord gezwungen.
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Erschienen im Juli 1982 im „Playboy“