Interview mit Liselotte Eder,

Rainer Werner Fassbinders Mutter



Ihr Sohn ist seit zehn Jahren tot.* Er war 37 Jahre alt, als er starb. Auf seinem Grabstein fehlen bis heute die Lebensdaten.

LISELOTTE EDER: Weil er für mich nicht gestorben ist. Wenn ich zum Friedhof gehe und über mir das Geräusch eines Flugzeugs höre, schaue ich hoch und denke, wo fliegt der Rainer jetzt wieder hin.

Wie oft gehen Sie auf den Friedhof?

EDER: Früher bin ich jeden Tag hingegangen, heute nicht mehr so oft. Das Seltsame ist, daß auf dem Grab keine Pflanzen gedeihen. Ich gieße sie, aber sie wachsen nicht, so als wollten sie mir ein Zeichen geben: Hier liegt kein Toter, der Rainer lebt.

Sie haben darum gekämpft, daß er auf dem Münchner Prominentenfriedhof in Bogenhausen begraben wird.

EDER: Ich habe nicht gekämpft. Dazu wäre ich gar nicht fähig gewesen. Das haben andere getan. Ich habe wie paralysiert in meiner Wohnung gesessen. Daß er in Bogenhausen begraben wird, lag nahe, weil ich hier wohne, und ich fand es auch irgendwie angemessen, weil dort so viele berühmte Leute liegen. Aber gekämpft habe ich nicht. Die Münchner CSU war dagegen, die SPD hat sich dafür eingesetzt.

Fühlten Sie sich schuldig am Tod Ihres Sohnes?

EDER: Mütter fühlen sich immer schuldig, das ist ganz klar, vor allem, wenn das eigene Kind vor einem stirbt. Man denkt, man hat alles falsch gemacht, und akzeptiert zunächst auch den Schmutz, mit dem man beworfen wird. 1986 hat eine Wiener Zeitschrift ein Interview mit mir gemacht. Da stand dann als Überschrift, ich hätte mit dem Rainer eine inzestuöse Beziehung gehabt. Hätte ich damals nicht im tibetischen Buddhismus Halt und Hilfe gefunden, ich hätte mich umgebracht.

In einem Interview, das Fassbinder 1979 dem »Spiegel« gab, erzählt er von einem Traum, den Sie hatten.

EDER: Ja, aber den ganzen Traum kannte er nicht.

Sie hätten geträumt, seine Frau zu werden.

EDER: Nein, so war es nicht. Mir hatte geträumt, der Rainer sei muffig, wie er oft war, wenn er den Kopf voller Geschichten hatte, zu mir gekommen und habe gesagt, daß er mich heiraten werde. Ich dachte im Traum: Das geht doch nicht, das ist nicht erlaubt, aber wenn er es will, wird er auch wissen, es durchzusetzen.

Erinnern Sie sich, was Sie fühlten, als er das sagte?

EDER: Ich fühlte, was ich immer fühlte in seiner Gegenwart: Es muß gearbeitet werden, es gibt Pläne, die werden durchgezogen. Wir sind dann in einen Basar gegangen.

Im Traum.

EDER: Ja, im Traum, und da lagen kostbare Stoffe für das Hochzeitsgewand, von denen ich mir einen aussuchen sollte. Ich hatte mir in der Realität am Tag zuvor so einen pflegeleichten Fummel für das Büro gekauft. Den hatte ich an. Also sagte ich, ich bräuchte kein neues Gewand. Dann bin ich aufgewacht. Der Rainer hat sich den Traum nie ganz erzählen lassen, sondern ist nach dem ersten Satz mit schallendem Gelächter aus dem Zimmer gegangen.

Ihn scheint die Nähe, von der Sie träumten, gestört zu haben. Er sagte, er wollte Sie mundtot machen.

EDER: Ja, er mußte sich so verhalten. Er befand sich damals gerade in der Ablösungsphase. In den Jahren vor seinem Tod ist er dann ganz von mir abgerückt. Er kam auch nicht zu Besuch. Ich habe das zuerst nicht verstanden und ihn nach dem Grund gefragt. Er sagte, er wolle ausloten, ob er auch ohne mich weiterkomme.

Davor hatten Sie in fast jedem Film von ihm mitgespielt. Wie nannte er Sie, wenn er Ihnen Regieanweisungen gab?

EDER: Er nannte mich Mutti oder Lilo oder Frau Eder. In kritischen Situationen hat er mich immer gesiezt.

Was war Ihre erste Rolle?

EDER: Das war 1969 in »Götter der Pest«. Er rief an und sagte, du, ich brauche eure Wohnung zum Drehen, damals lebte mein zweiter Mann, Wolff Eder, noch.** Dann kam er her mit dem ganzen Troß und sagte, Mutti, setz dich mal auf die Couch und sag zum Harry Baer, der eine Hauptrolle spielte: "Brauchst du Geld, mein Sohn?" Ich dachte, das sei eine Probe zum Einleuchten, in der ich die Darstellerin zu vertreten hätte. Ich war nicht geschminkt, nichts. Da sagte der Rainer plötzlich: "So, wir drehen!" Ich rief: "Was machst du mit mir?" Darauf erklärte er mir, ich müsse mitmachen, eine Schauspielerin, die so alt sei wie ich, könne er nicht bezahlen.

Es war eine Vergewaltigung.

EDER: Ja, aber es war irgendwie schön. Für mich war es schön. Ich habe das Gespräch mit Ihrer Mutter gelesen, das in der "Zeit" erschien. Sie fragen, warum sie zugestimmt habe, sich von Ihnen interviewen zu lassen. Sie antwortet, weil sie sich freue, mit Ihnen zusammenzusein. Das kann ich so gut verstehen. Ich konnte dem Rainer zugucken. Ich war dabei, wenn er gearbeitet hat.

Gut, aber was, glauben Sie, waren seine Motive? Geld hatte er später genug, um sich die Schauspieler, die er wollte, leisten zu können.

EDER: Er war halt auch gern mit mir zusammen. Er hat mich ja nicht gehaßt, wie immer behauptet wird.

Kurt Raab und Harry Baer haben sich darüber in Büchern geäußert.***

EDER: Da steht nur Unsinn drin.

Ihr Sohn habe Ihnen die Lieblosigkeit, mit der Sie ihn, als er klein war, behandelt hätten, heimzahlen wollen.

EDER: So ein Quatsch! Diese Leute projizieren die Schwierigkeiten, die sie mit ihren Eltern haben, auf mich. Meine Beziehung zum Rainer war wie zwischen zwei Kumpeln. Es war keine Mutter-Sohn-Beziehung, weil ich dazu gar keine Chance hatte. Der Rainer ist 1945, kurz nach dem Krieg, auf die Welt gekommen. Wir wohnten in München. Es war kein Glas in den Fenstern. Wir hatten nicht genug Heizmaterial. Da sagte der Vater, der Arzt war, er bringe das Kind zu seinem Bruder aufs Land, weil es in der Stadt den Winter nicht überleben würde. Ich habe das trotz größter innerer Widerstände geschehen lassen. Sie müssen sich vorstellen, was es für eine Mutter bedeutet, wenn man ihr vier Monate nach der Geburt das Kind wegnimmt. Es war schrecklich. Ein Jahr später bekam ich den Rainer zurück. Aber inzwischen waren auch meine Verwandten aus Danzig gekommen, mein Bruder, meine Mutter, mit der ich große Probleme hatte. Die war dann seine Bezugsperson. Jeder Psychologe wird Ihnen sagen, daß sich eine Mutterbindung so nicht entwickeln kann.

Hat Ihnen der Sohn das je vorgeworfen?

EDER: Nein, nie, denn er wußte doch, es war nicht meine Schuld.

Eine Geschichte, die er gerne erzählte, handelt von unreifen Äpfeln, mit denen Sie ihn, als er ein Säugling war, umbringen wollten.

EDER: Das hatte er von seinem Vater. Aber so war es nicht. Ich will Ihnen sagen, was wirklich war. Es gab damals kein Obst zu kaufen. Der Rainer war drei Monate alt. Da habe ich von einem Apfel, den ich gefunden hatte, ein Fitzelchen abgeschnitten und ihm in den Mund geschoben. Der Vater stand daneben und rief, um Gottes willen, du bringst das Kind um. Aber natürlich habe ich es nicht umbringen wollen.

1951 wurde Ihre erste Ehe geschieden.

EDER: Ja, und meine Verwandten sind weggezogen. Das Auseinanderfallen der Großfamilie war in Rainers Leben sicher der schlimmste Bruch. Nun mußte er lernen, mit einem einzigen Menschen zurechtzukommen. Aber das dauerte auch nicht lang. 1953 bekam ich Tuberkulose und war gezwungen, ihn in ein Internat zu geben.

Hat er sich damals schon für Film interessiert?

EDER: Und wie! Ich hatte ihm einen Märklinbaukasten gekauft und Fußballschuhe. Aber er wollte nur immer ins Kino. Davon war er nicht abzuhalten. Mich wunderte, daß man ihn in die Filme hineinließ. Er war ja ein Kind. Einmal kam er nach Hause und sagte, Mutti, da gibt es einen ganz tollen Film, den mußt du dir anschauen, der heißt, die Angst lohnt sich.

Er meinte »Lohn der Angst« von Clouzot.

EDER: Natürlich.

Haben Sie sich den Film angeschaut?

EDER: Nein, ich bin selten ins Kino gegangen. Meine Schwägerin hat mir einmal erzählt, sie sei mit dem kleinen Rainer und meiner Mutter im Kino gewesen, da sei im Film eine Frau vergewaltigt worden. Meine Mutter hatte die Angewohnheit, laut mit den Personen, die auf der Leinwand erschienen, zu sprechen. Also habe sie zu der Frau gesagt, paß auf, der Kerl will dich verführen, nimm dich in acht und so weiter. Ich könnte mir denken, daß der Rainer durch solche Erlebnisse, die er mit der Großmutter hatte, die Fähigkeit verlor, zwischen Kino und Realität zu unterscheiden.

Hat es Sie gestört, daß er dauernd ins Kino ging?

EDER: Ja, sicher. Denn Kino bedeutete für mich nicht Kunst, sondern Vergnügen. Ich dachte, was soll aus dem Kind bloß werden, wenn es dauernd nur das Vergnügen will.

Welche Vorstellung hatten Sie von seinem künftigen Lebensweg?

EDER: Ich wollte, daß er Abitur macht, studiert, einen Beruf erlernt und ein geregeltes Leben führt. Das wünscht sich jede Mutter. Aber ich habe sehr bald gemerkt, daß er nicht zu erziehen war. Er war, kaum konnte er sprechen, eine einzige Herausforderung. Mit vier Jahren hat er zu mir gesagt: Das Kleid solltest du nicht anziehen, das steht dir nicht, die Haare solltest du lang wachsen lassen, kurze Haare sind häßlich. Manchmal dachte ich, wenn es so ist, daß die eigenen Kinder die Mütter derart heruntermachen, sollte man es ablehnen, sie auf die Welt zu bringen. Der Rainer verwirrte mich. Mit vierzehn kam er zu mir in die Küche und sagte freudestrahlend: Mutti ich bin schwul. Da dachte ich, jetzt muß er zum Psychiater, irgend etwas ist falsch gelaufen. Ich konnte doch damals nicht wissen, daß jeder Mensch beides ist. Wir alle sind bisexuell. Es kommt nur darauf an, welchen Partner man findet. Dei Rainer hatte einfach kein Glück bei Frauen.

Sie meinen, seine Homosexualität kam daher, daß er nicht die passende Frau gefunden hat?

EDER: Ja, ganz bestimmt. Die Frauen, die er wollte, wollten ihn nicht. Die Margarethe von Trotta wollte er heiraten. Mitte der siebziger Jahre gab es eine Frau, um die er richtig gekämpft hat, die war bei ihm Assistentin, Corinna Brocher. Er kam zu mir und sagte, Mutti, das ist eine wirkliche Frau. Aber sie hat ihn zurückgewiesen. Von Ingrid Caven, mit der er kurz verheiratet war, wünschte er sich ein Kind, aber sie wollte nicht. Ein geordnetes Leben mit Frau und Familie ist ihm offenbar nicht vergönnt gewesen.

Wolf Wondratschek schreibt über ihn...
 
EDER: Ach, Herr Wondratschek!

»Häßlichwerden ist deine Art, allein zu bleiben... «

EDER: So, ja. Ist Herr Wondratschek vielleicht schöner, als es Fassbinder war?

Schwere Frage.

EDER: Doch, sagen Sie! Das würde mich jetzt interessieren.

Darf ich weiter zitieren?

EDER: Nein.

»Dein feister, fetter Körper, ein monströses Bollwerk gegen jede Zuneigung, die dich mißtrauisch macht... «

EDER: Ich lehne es ab, mir das anzuhören.

Immerhin schreibt das ein Dichter.

EDER: Für mich ist Herr Wondratschek kein Dichter.

Aber das klingt doch gut: »Auch das ist deine Einsamkeit, das gierige Leben der Schwulenbar von New York, wo sich Männer völlig unbeteiligt an Ekstasen vergnügen, die sie einander gewähren wie Mörder... «

EDER: Es ist unappetitlich.

» ... und manchmal, wenn deine Einsamkeit am dunkelsten war, hast du gehofft, einer zöge ein Messer.«

EDER: Das jubelt Herr Wondratschek dem Fassbinder unter. Notieren Sie sich folgenden Satz...

Das Tonband läuft sowieso.

EDER: Nein, schreiben Sie: The observer is the observed, der Beobachter ist der Beobachtete. Man sagt etwas über einen anderen und spricht in Wahrheit über sich selbst.

Volker Elis Pilgrim schreibt in seinem Buch »Mutter­söhne«...

EDER: Ich weiß, da komme ich auch drin vor.

... daß mutterbezogene Männer...

EDER: Aber der Rainer war nicht mutterbezogen. Er hat während der ersten sechs Jahre seines Lebens, und das sind die wichtigsten für die Entwicklung, den Vater vor sich gehabt. Ich mache eine Gegendarstellung, wenn Sie schreiben, er war mutterbezogen.

Pilgrim vertritt die These, daß Muttersöhne zu Selbsthaß neigen, der Selbstzerstörung zur Folge hat.

EDER: Der Rainer hat sich nicht anders zerstört als wir alle. Ich habe bis vor wenigen Jahren bis zu hundert Zigaretten am Tag geraucht.

Warum?

EDER: Weil ich mit meiner Kindheit nicht fertig wurde. Ich war ein Kind, auf das meine Mutter gerne verzichtet hätte. Sie gab mich weg, als ich drei Jahre alt war. Ich bin bei Verwandten aufgewachsen. Ich habe meine Mutter gehaßt. Als ich endlich Frieden mit ihr machte, war sie längst tot.

Haben Sie mit Ihrem Sohn darüber gesprochen?

EDER: Ja, ich habe zu ihm gesagt, deine geliebte Oma ist die Frau, die mir den größten Schmerz zugefügt hat. Das Schlimmste, das sie mir antat, war, daß sie tagelang nicht mit mir sprach, wenn ich ungezogen gewesen war. Als ich das dem Rainer erzählte, hat er mich angeguckt und gesagt, genau das hätte ich auch mit ihm gemacht. Das wußte ich nicht. Das hatte ich völlig vergessen. Deshalb lerne ich bei den Buddhisten, mir dessen, was ich tue und sage und denke, bewußt zu werden. Ich finde es trostlos, daß man Kinder bekommt, wenn man selbst noch so unreif ist. Andererseits hat es doch bestimmt einen Sinn, daß Frauen Kinder gebären, wenn sie noch jung sind und Fehler machen.

Beruhigt es Sie, daß Ihr Sohn ein Genie geworden ist?

EDER: Hören Sie, das ist kein Thema für mich. Manchmal habe ich gedacht, mein Gott, warum ist er kein Bankbeamter. Ich wollte, daß es ihm gut geht. Ich habe gelitten, wenn er unglücklich war. Es gibt eine Ansichtskarte, die er mir zum Geburtstag geschrieben hat, darauf steht: Alles Gute für das nächste Lebensjahr in einem wunderschönen himmelblauen Bad, mit einem braven, immer lächelnden Sohn.

Das ist aber ironisch gemeint.

EDER: Ja, natürlich. Er kannte mich gut. Ich habe ihn gefragt, warum er immer so muffig sei und sich so merkwürdig kleide. Er lief, als das noch lange nicht Mode war, in ausgefransten, löchrigen Jeans herum. Ich habe zu ihm gesagt: Das ist doch ungeschickt. Man wird abgelehnt, wenn man sich so benimmt. So wie du aussiehst, so sieht man dich an.

Hatten Sie Angst um ihn?

EDER: Furchtbare Angst. Die größte Aufregung bereiteten mir seine Geldschwierigkeiten. Ich bin ein inflationsgeschädigtes Kind. Er hat doch Hunderttausende Mark Schulden für einen Film gemacht. Ich habe nächtelang nicht geschlafen. Aber er hat diesen Druck als Motor gebraucht. Ich sah uns schon alle im Armenhaus landen.

Hat es Ihnen gefallen, an seinem Ruhm teilzuhaben?

EDER: Ach, wissen Sie...

War es nicht schön, sich in Berlin nach der Premiere von »Effie Briest«**** zu verbeugen?

EDER: Also, ich hatte als junges Mädchen eine andere Vorstellung von Ruhm. So toll war es dann nicht. Kein Mensch begegnete mir mehr als Liselotte Eder. Ich fühlte mich gar nicht mehr wahrgenommen, weil ich überall als Rainers Mutter auftreten mußte.

Kurt Raab behauptet, Sie hätten auf Empfängen, weil Sie als Eder vorgestellt wurden, dauernd betont, daß Sie Fassbinders Mutter seien.

EDER: Mein Gott, der Raab hat auch geschrieben, ich sei weiß geschminkt zum Begräbnis erschienen. Der kann sich nicht vorstellen, daß eine Mutter Gefühle hat und vielleicht blaß ist, wenn ihr Sohn beigesetzt wird. Aber auch Kurt Raab lebt nicht mehr. Ich will über Tote nichts Schlechtes sagen.

Bis auf Harry Baer sind alle gestorben, die Ihnen Böses wollten.

EDER: Der Zwerenz lebt auch noch.

Was hat Ihnen denn der angetan?

EDER: Der hat einen Prozeß geführt, weil er meinte, der Rainer habe in dem Stück »Der Müll, die Stadt und der Tod« von ihm abgeschrieben. Die jüdische Gemeinde in Frankfurt kam für die Kosten auf. Das Stück galt doch als antisemitisch. Es wurden Gutachten erstellt. Zwerenz hat den Prozeß verloren. Läuft denn Ihr Tonband noch?

Ja.

EDER: Dann möchte ich Ihnen von einem Traum berichten, den Ingrid Caven mir erzählt hat, kurz nachdem der Rainer gestorben war. Ihr hatte geträumt, er habe einen neuen Scheinwerfer für Filmaufnahmen erfunden. Den trug er auf der Stirn, der sah aus wie ein Edelstein. Ein strahlendes Licht ging von ihm aus, und jeder, den das Licht traf, zeigte sein wahres Gesicht. Ich finde, das ist ein sehr guter Traum.

Auch Gerhart Zwerenz hat über Fassbinder ein Buch geschrieben.

EDER: Ja, sie haben ihn alle benutzt, um sich in Szene zu setzen.

Ihr Sohn, schreibt Zwerenz, habe gewußt, daß er früh sterben würde.

EDER: Das kann man im nachhinein leicht behaupten. Da erscheint vieles, was er gesagt hat, plötzlich bedeutungsschwanger. Ende der sechziger Jahre kam er mit einem seiner ersten Stücke, ich glaube, es war »Katzelmacher«, zu mir, weil ich es abtippen sollte. Es war mit der Hand geschrieben. Als ich fertig war, habe ich das Manuskript in den Papierkorb geworfen. Da hat er mich ganz intensiv angeguckt. Ich nahm die Blätter wieder heraus. Er nickte und sagte: "So, das hebst du jetzt gut für dich auf, weil ich ohnehin vor dir sterbe."

Was dachten Sie in diesem Augenblick?

EDER: Ich dachte: Warum quält er mich so? Vor mir stand ein junger, grundgesunder Mensch, und der sagte, er werde vor mir sterben. Ich dachte: Er will mich ärgern.

In seinen letzten Lebensjahren hat man aber doch sehen können, daß er sich mutwillig ruinierte. Er nahm Drogen, trank, schluckte Aufputschmittel.

EDER: Ich habe das nicht gesehen. Der Rainer hatte die Gabe, sich von einer Minute auf die andere zu regenerieren. Darin war er ein Phänomen. Ich habe ihn an seinem letzten Geburtstag, am 31. Mai 1982, besucht. Er kam auf mich zu, vollkommen ruhig und ausgeglichen. Ich dachte, es ginge ihm gut.

Zehn Tage später war er tot.

EDER: Ja, furchtbar.

Im Obduktionsbefund steht, er sei an der Kombination von Schlaftabletten und Kokain gestorben.

EDER: Ja, aber das ist nur eine von mehreren Ebenen. Sein Tod wäre nicht zu verhindern gewesen. Es ist Größenwahn, wenn jemand glaubt, er könne auf das Schicksal eines anderen Einfluß nehmen. Rainers Leben hatte sich erfüllt, als er starb. Es war seine Stunde. Was mir hilft, ist, zu wissen, daß wir nicht nur ein Leben haben, sondern viele und in jedem die Chance, ein Stück weiterzukommen. Das ist mein Trost.

Was empfanden Sie, als Sie die Todesnachricht erhielten?

EDER: Mir war der Lebensnerv abgeschnitten. Ich fühlte mich wie ein gefällter Baum.

Elias Canetti schreibt, hinter jeder Trauer um einen Verstorbenen verbirgt sich der heimliche Triumph dessen, der überlebt.

EDER: Wenn Sie das schreiben, möchte ich fast bitten, das Interview nicht zu machen.

Verletzt es Sie?

EDER: Es tut mir weh um Sie, daß Sie solche Gedanken haben.

Meine Mutter sagte zu mir, als ich achtzehn war, einer von uns beiden muß sterben, erst dann wird der andere frei.

EDER: Ich bin aber nicht Ihre Mutter.

Weil sie es sagte, mußte es vielleicht nicht geschehen.

EDER: Das ist ihre, nicht meine Sache.

Hat Ihr Sohn ein Testament hinterlassen?

EDER: Nein.

Also haben Sie ihn beerbt?

EDER: Hören Sie, Herr Müller, der Rainer hat kein Testament hinterlassen. Also waren sein Vater und ich die Erben. Den Vater habe ich ausbezahlt, denn es bestand die Gefahr, daß sein Anteil, da er hohe Schulden hatte, unter den Hammer kommt. Das hat mein Anwalt verhindert. Das war eine Riesengeschichte. 1986 habe ich die Rainer- Werner-Fassbinder-Foundation gegründet, deren Aufgabe es ist, das Werk meines Sohnes zu pflegen und zu erhalten. Am 6. Oktober werde ich siebzig Jahre alt. Es war an der Zeit, das aus der Hand zu geben. Die Foundation wird jetzt von Juliane Lorenz***** geleitet, die den Rainer in den letzten Jahren begleitet hat. Es ist mir sehr wichtig, daß Sie wissen, daß ich von meiner mir erarbeiteten Rente lebe. Ich war von 1969 bis 1985 Programmiererin bei der Gesellschaft für Strahlen- und Umweltforschung in München. Davor hatte ich als Übersetzerin Geld verdient. Ich finde es unnatürlich, wenn eine Mutter ihr Kind überlebt, aber noch unnatürlicher fände ich, es zu beerben

Gibt es von Ihrem Sohn eine Totenmaske?

EDER: Ja, aber ich wäre froh, wenn es keine gäbe.

Weshalb?

EDER: Weil man versucht hat, daraus ein Geschäft zu machen.

Wie war das möglich?

EDER: Die Frau, die ich beauftragt hatte, die Maske abzunehmen, eine bekannte Bildhauerin, hat den Abguß an jemanden weitergegeben, der damit einen schwunghaften Handel beginnen wollte. Ich habe das nur durch einen Prozeß unterbinden können. Wissen Sie, selbst wenn all das stimmt, was dem Rainer an Brutalität nachgesagt wird, war er noch immer ein Waisenknabe gegen die Grausamkeit, die ich erlebe, seit er gestorben ist. Auch Hanna Schygulla war hier, weil sie ein Exemplar haben wollte. Ich habe zu ihr gesagt: Für dich ist der Rainer offenbar mehr tot als für mich. Darauf erwiderte sie, Originalton: "Weißt du, Lilo, er hatte doch etwas von einem Buddha, zum Schluß von einem etwas heruntergekommenen Buddha, aber im Tod sah er so friedlich aus." So spricht die Frau, die ihm ihre Weltkarriere verdankt. Es ist unglaublich.

Sie wurden 1922 in Danzig geboren.

EDER: Ja.

Ihr Mädchenname ist Pempeit.

EDER: Ja, das stammt aus dem Litauischen und heißt auf deutsch »Kiebitz«.

Wie haben Sie den Zweiten Weltkrieg erlebt?

EDER: Nach dem Abitur war ich im Arbeitsdienst. Ab 1942 habe ich in München Geschichte und Germanistik studiert. Ich war dabei, als die Geschwister Scholl hier Flugblätter warfen.

Haben Sie die Ereignisse politisch einordnen können?

EDER: Nein, ich war völlig verwirrt. Ich hatte im Arbeitsdienst eine Halbjüdin kennengelernt, von der ich erfuhr, was in den Konzentrationslagern geschah. Sie erzählte, daß die Häftlinge ihre Kleidungsstücke, bevor sie in die Gaskammer gingen, selber sortieren mußten. Ich habe sie angeguckt und gesagt: Ich kann es nicht glauben, doch wenn es stimmt, dann kann man nur wünschen, daß wir den Krieg ganz schnell verlieren. Was glauben Sie, was sie geantwortet hat, eine Frau, deren Familie schon zu drei Viertel vergast war? Sie sagte: "Aber das doch nicht, Lilo, denn dann wäre ja Deutschland verloren." Wie sollte ein zwanzigjähriges Mädchen so etwas einordnen können? In meinem Kopf herrschte Chaos.

In dem Film »Deutschland im Herbst« aus dem Jahr 1977 gibt es eine Szene, in der Ihr Sohn Sie befragt, welche Staatsform Ihnen die liebste wäre. Sie antworten, das beste wäre ein autoritärer Herrscher, der gut und lieb und ordentlich ist.

EDER: Ja, schrecklich. Da habe ich solch einen Scheiß geredet.

Sie haben ein Ideal beschrieben.

EDER: Ich finde es fürchterlich. Aber man muß die Situation bedenken, in der sich meine Generation, die den Krieg erlebt hatte, befand. Wir standen total im Wald. Wir begriffen nicht, was geschehen war. Ich habe jahrelang darüber nicht sprechen können. Dazu kam, daß ich als Kind nicht gelernt hatte, zu sprechen. In meiner Familie war es nicht üblich, daß Eltern mit Kindern sprachen. Man wurde auch nichts gefragt. Was glauben Sie, welche Arbeit es mich gekostet hat, mit Ihn so reden zu können, wie ich es jetzt hier tue?

Haben Sie, wenn Ihr Sohn zu Besuch kam, miteinander geschwiegen?

EDER: Wir haben über Fußball geredet. Er war Anhänger vom FC Bayern. Später, als er berühmt war, wurde fast nur über die Arbeit gesprochen.

Was geht in Ihnen vor, wenn Sie die Interviews lesen, in denen er sich negativ über sein Verhältnis zu Ihnen geäußert hat?

EDER: In den meisten Interviews spricht er über mich positiv. Es wird nur immer das Negative hervorgezogen. Er sagte, daß es kompliziert mit mir war, aber das hatte ja Gründe. Meine Mutter ermahnte ihn, als er klein war, Rainerlein, sei brav, sonst wird die Mutti wieder krank. Also glaubte er, schuld zu haben an meiner Krankheit, denn welches Kind ist andauernd brav? Ich war monatelang im Sanatorium, dann wieder ein paar Wochen zu Hause. Ein Rückfall war immer möglich. Mit offener Tuberkulose werden Sie, wenn Sie nicht freiwillig gehen, abtransportiert. Das hat der Rainer mitangesehen. Sein Schuldgefühl ist er nie losgeworden.

Ein anderes Motiv, das in seinen Filmen oft wiederkehrt, ist die Angst.

EDER: Ja, die Angst war sein Thema.

Angst wovor?

EDER: Das war keine bestimmte Angst. Er spürte diffus die Bedrohung. Angst war seine erste Erfahrung. Ich ging hochschwanger mit ihm, als Bomben auf München fielen. Das hat ihn geprägt. Sein Vater, der Militärarzt in Bad Wörishofen war, fürchtete, er müßte im letzten Moment an die Front und könnte sterben. Deshalb sagte er: Wenn du mich liebst, dann willst du jetzt ein Kind. Es war der ungünstigste Augenblick. Der Rainer hat in mir die letzte Kriegsphase und den Schrecken, der damit verbunden war, miterlebt.

Als Embryo.

EDER: Ja, unbewußt.

1976 sprach er zum erstenmal über einen Roman, den er schreiben wollte. »Die Reise ins Innere der Trauer« sollte er heißen. Er hatte auch schon einen Verlag. Aber er hat den Roman nie geschrieben.

EDER: Hören Sie, der Rainer hat in seinem kurzen Leben vierundvierzig Filme gedreht. Er war Schauspieler. Er hat Theaterstücke geschrieben. Was hätte er denn noch können sollen?

1978 sagte er in einem Interview, er sei zu krank, um allein sein zu können.

EDER: Ja, aber das hat sich später geändert. Sie dürfen nicht vergessen, er wurde nur siebenunddreißig Jahre alt. Er hatte wenig Zeit, um ein reifer Mensch zu werden.

Ist die Fähigkeit, allein zu sein, ein Zeichen von Reife?

EDER: Natürlich. Man muß das lernen. Denn wenn Sie sterben, sind Sie auch ganz allein.

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* Rainer Werner Fassbinder starb am 10. Juni 1982.

** Liselotte Eder war von 1944 bis 1951 mit dem Arzt Dr. Helmut Fassbinder verheiratet, ab 1959 in zweiter Ehe mit dem Journalisten Wolff Eder, der 1971 verstarb.

*** Harry Baer, »Schlafen kann ich, wenn ich tot bin«, Kiepenheuer & Witsch, 1982. Kurt Raab und Karsten Peters, »Die Sehnsucht des Rainer Werner Fassbinder«, Bertelsmann, 1982

**** Liselotte Eder (alias Lilo Pempeit) spielte in der Fontane-Verfilmung eine Nebenrolle. Die Uraufführung fand am 28. Juni 1974 im Rahmen der Berliner Filmfestspiele statt.

***** Juliane Lorenz, Cutterin von Fassbinders späten Filmen, gab sich als seine Witwe aus. Auszug aus meinem Vorwort zu dem Interview in "Ich riskiere den Wahnsinn" (Kiepenheuer und Witsch, 1998): Schon nach den ersten Fragen bezichtigte mich Frau Eder, ich sei von ihren Feinden beeinflußt. Als wir auf Fassbinders offen gelebte Homosexualität zu sprechen kamen, drohte sie, das Interview abzubrechen. Er habe sich immer nach einer Familie gesehnt, nach Kindern, »nach einem normalen Leben«... Juliane Lorenz, sei in den letzten Lebensjahren seine Geliebte, die Heirat schon fest geplant gewesen. Mich rührte die Starrköpfigkeit dieser schlichten Frau, die nicht sehen wollte, daß ihr Sohn zu einem bürgerlichen Leben mit Frau und Kind, so sehr es ihm auch gefehlt haben mag, gar nicht fähig gewesen wäre. Daß aus der Erkenntnis dieser Unfähigkeit die Kraft für sein Schaffen kam, konnte sie nicht begreifen. Manchmal nahmen ihre Bemühungen, mich von Fassbinders wahren Neigungen zu überzeugen, groteske Züge an. So erzählte sie mir, Juliane Lorenz habe sie in seinem Auftrag um Rat gebeten, wie man Kohlrouladen, seine Lieblingsspeise, am besten zubereite. »Sogar Kohlrouladen«, sagte sie, »hat er sich von ihr gewünscht.«

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Das Interview erschien am 24. April 1992 unter der Überschrift "Der tote Sohn" in der ZEIT.

Liselotte Eder, die an Krebs litt, verstarb am  8. Mai 1993 in München.