Interview mit Joseph Beuys



Sie sind ein sehr kontaktfreudiger Mensch. Brauchen Sie, um in Ruhe nachdenken zu können, auch manchmal die Einsamkeit?

JOSEPH BEUYS: Ich versuche, dieses Nachdenken, das ja wirklich sehr wichtig ist, im allgemeinen mit anderen zusammen zu machen. Sie wissen vielleicht, daß ich auch verschiedene Organisationen gestartet habe, die Freie Internationale Universität zum Beispiel, da stehe ich in kontinuierlichem Kontakt mit anderen Menschen.

Woher, glauben Sie, kommt die verbreitete Vorstellung, der Künstler sei ein Mensch, der die Einsamkeit braucht, um schaffen zu können?

BEUYS: Ich glaube, es ist ein sehr bürgerlicher Kunstbegriff, der so etwas transportiert, also der den Künstler zum Einsamen stempelt. Man möchte ihn sich wahrscheinlich mit einer solchen These vom Leibe halten. Diese Sache vom einsamen Künstler geht nicht so sehr vom Künstler selbst aus, sondern resultiert aus einem Verdrängungseffekt, daß man sich den Künstler vom Leib halten möchte, weil er ja in der Regel Dinge vorstellt, die sich gegen die üblichen Denkgewohnheiten richten. Ich könnte mir vorstellen, daß das gesellschaftsanalytisch aus einer Verdrängung herkommt. Andererseits muß man aber auch sagen, daß viele Künstler diese Einsamkeit, also den sogenannten Elfenbeinturm, sogar lieben und die Kunst als einen isolierten Bereich betrachten gegenüber den Fragen, die die Gesellschaft anliefert. Es gibt doch eine ganze Reihe von Künstlern, die sich da ziemlich zu Hause fühlen.

Gut. Aber abgesehen von so einem freiwilligen Rückzug ergibt sich doch auch die Notwendigkeit, sich von äußeren Einflüssen fernzuhalten, um zu eigenständigen Resultaten zu kommen.

BEUYS: Das stimmt, das ist nötig. Aber das braucht nicht sehr lange zu dauern. Es gibt Notwendigkeiten, da ist man aus der Konstellation heraus ... ja, sagen wir ruhig einmal einsam.

Wann hat es in Ihrem Leben solche Konstellationen gegeben?

BEUYS: Das ist sicherlich öfter gewesen. Sie spielen jetzt an auf die Krisenphase, die ich zwischen 1954 und 1958 erlebte, die ist ja bekannt, darüber habe ich ja schon mehrmals geredet, aber einsam im eigentlichen Sinne war das ja auch nicht, denn ich habe ja gearbeitet, nur eben nicht künstlerisch gearbeitet, ich habe mich mit landwirtschaftlicher Arbeit beschäftigt, das ist ja das Gebiet, aus dem ich eigentlich komme, die Landwirtschaft. Ich habe mich regeneriert, also mich durch eine andersgeartete Arbeit wieder erholt und in dieser Erholung auch weitergehende Prinzipien für meine künstlerische Arbeit entwickelt, so daß man sagen kann, solche Krisensituationen sind ja sehr wichtig und außerdem auch gar nichts Besonderes. Jeder Mensch durchläuft solche Krisen. Etwas Besonderes ist es bei mir nur dadurch geworden, daß ich in dieser Zeit meinen Kunstbegriff neu gefaßt und erweitert habe. Ich habe von da an das ganze Leben, auch das Sprechen und Denken, als Kunst betrachtet.*

Vorher haben Sie sich in konventionellen Bahnen gehalten, haben gezeichnet, gemalt, waren als Bildhauer tätig.

BEUYS: Ja, und dann hatte ich plötzlich ganz große Bedenken gegenüber dem, was ich machte. Da war ein Gefühl, daß ich alles ganz falsch angepackt hatte. Das blieb alles irgendwo stecken und ging nicht weiter. Ich war in allerhöchstem Maße an ein Ende gekommen, auch körperlich. Ich bin ja regelrecht krank geworden. Auch Liebesgeschichten kamen dazu. Es kommen ja dann immer 375 Sachen auf einmal zusammen, die zu so einer Krise führen. Da fragt man sich dann: Warum lebt man überhaupt noch?

Haben Sie versucht, sich das Leben zu nehmen?

BEUYS: Ich habe nichts mehr zu mir genommen, keine Flüssigkeit, keine Nahrung, bis zu dem Punkt, wo ich praktisch tot war. Da haben mich dann Freunde gefunden, die hatten schon monatelang nach mir gesucht, aber ich war an einer Stelle gewesen, wo mich niemand vermutet hatte. Da haben die dann einfach die Tür aufgebrochen.

Heißt das: Sie sind gegen Ihren Willen gerettet worden?

BEUYS: Das weiß ich nicht. Ich war ja immerhin noch am Leben. Ich habe zwar nichts gegessen. Aber das war ja kein Selbstmord. Verhungern, das geht nicht.

Hat es solche Krisensituationen auch später wieder gegeben?

BEUYS: Von dem Punkt an, wo ich geheiratet habe, das war 1959, bis heute hat es das eigentlich nicht mehr gegeben. Es hat wohl schwere Zeiten gegeben, auch Krankheitsfälle, Unfälle und so weiter. In Kleve bin ich während der Arbeit von einem Gerüst abgestürzt und habe dann ziemlich schwierige Operationen durchmachen müssen. Aber psychische Krisen hat es nach meiner Heirat nicht mehr gegeben.

Daraus kann man schließen, daß wie in so vielen Ehen Ihre Frau als psychischer Stabilisator wirkt.

BEUYS: Möglicherweise.

Nach einer Mitteilung der Schriftstellerin Stella Baum, der Sie eine Zeitlang recht nahestanden, haben Sie sich früher eher abfällig über Frauen geäußert. Da heißt es, Frauen seien zur Herstellung von Kunst nicht geeignet.

BEUYS. Ach was, das war so eine Bemerkung, das kann durchaus sein, daß ich das mal gesagt habe, weil die Stella irgendwas gemacht hat, was mir nicht paßte, da habe ich ihr das vielleicht persönlich gesagt, aber das war auf den besonderen Fall bezogen, also keine grundsätzliche Äußerung über die Kunst von Frauen. Im Gegenteil. Ich bin doch der Meinung, daß Frauen viel besser in der Lage sind, Kunst zu machen, als Männer. Nur muß man dann eben schon den erweiterten Kunstbegriff haben, nicht den traditionellen, der ja tatsächlich meistens durch die Männer bedient wird.

Sie meinen das Herstellen von Werken?

BEUYS: Ja, das Herstellen von Werken, das ist ja immer eher eine Männersache gewesen. Aber der erweiterte Kunstbegriff, wie ich ihn verstehe, der spielt sich ja viel mehr ab im sozialen Geschehen, und da hat die Frau, ich möchte fast sagen, die Führungsrolle.

Das ist natürlich ein kluger Schachzug, den Kunstbegriff auf den sozialen Bereich anzuwenden, also beispielsweise zu sagen, Kindererziehung und Krankenfürsorge sei Kunst, und dann der Frau in diesem Bereich die Führungsrolle zu lassen.

BEUYS: Ich meine doch mit sozialem Geschehen nicht bloß die Kindererziehung. Das geht doch hinein in sämtliche Bereiche zwischenmenschlichen Lebens.

Ihren Ruhm verdanken Sie aber nicht Ihrem sozialen Wirken, sondern den Werken, die Sie geschaffen haben.

BEUYS: Mit so etwas wie Ruhm habe ich doch überhaupt nie gerechnet. Wenn ich auch nur eine Sekunde daran gedacht hätte, berühmt zu werden, wäre ich es bestimmt nicht geworden, denn dann hätte ich ja spekulativ darüber nachdenken müssen, wie man so etwas anstellt. Ich war doch nachweislich schon über vierzig, als ich zum erstenmal an die Öffentlichkeit ging mit meinen Sachen, was aber nicht heißt, daß ich vorher im stillen Kämmerlein gearbeitet habe. Ich habe schon immer im Freundeskreis wild diskutiert, auch schon während der Militärzeit, also ich habe schon immer das Gespräch als die einzige Möglichkeit angesehen, die Maschine in Gang zu halten. Nehmen wir mal an, man würde die Welt wie ein Fahrzeug betrachten, dann habe ich das Reden seit jeher als die einzige Energie angesehen, damit es überhaupt weiterfährt, auch über Abgründe hinweg, die sich auftun.

Das Reden hat aber doch nur eine begrenzte Wirkung. Sie können ja nicht mit Millionen Menschen Gespräche führen, außer Sie benutzen die Medien. In die läßt man Sie aber erst, wenn Sie berühmt sind, und berühmt sind Sie geworden, weil Sie das nach den Wertvorstellungen unserer Leistungsgesellschaft imponierende Kunststück zuwege brachten, für ein Stück Fett oder Filz oder zwei verrostete Leichenbetten mehrere hunderttausend Mark zu kassieren.

BEUYS: Das stimmt doch gar nicht, daß ich das kassiere. Sie überschätzen meine Einnahmen bei weitem, wenn Sie meinen, daß ich viel Geld verdiene. Die größte Arbeit, die ich jetzt in New York ausgestellt habe, diese große Talgplastik, an der habe ich keinen Pfennig verdient. Das ist so entstanden, daß man in Münster an mich herantrat und sagte, ich solle da eine größere Sache machen, da habe ich dann diese Fettskulptur vorgeschlagen, aber als ich die Unkosten berechnet hatte, also die Menge an tierischen Fetten und so weiter, was man ja übrigens heute alles wegschmeißt, wo man Schmierseife draus macht und solche Sachen, da ergab sich eine Größenordnung, da wären so ungefähr 700 000 Mark nötig gewesen, und da haben die sofort gesagt, nein, das können sie nicht bezahlen. Ich hatte mich aber schon so eingearbeitet in diese Sache, daß ich mir sagte, jetzt mußt du mal sehen, ob du nicht einen Geldgeber findest, der dir das Material zahlt, um dann die Arbeit umsonst zu bekommen. Ich habe diesen Geldgeber gefunden, einen Bauunternehmer, dem gehört jetzt die Arbeit, aber ich habe dafür überhaupt nichts bekommen. Da machen sich die Leute Vorstellungen, als wenn ich wer weiß was verdiene, und in Wirklichkeit verdiene ich überhaupt nichts.

Das ist ja gerade das Schlimme, daß an Ihnen die Kunsthändler, also ausgerechnet jene Leute, die den von Ihnen abgelehnten Kapitalismus verkörpern, so viel verdienen.

BEUYS: Aber das ist doch immer so. Das ist der Marktmechanismus. Über das Prinzip des Kunstmarktes komme ich ja auch dann nicht hinweg, wenn ich meine Sachen selber verkaufe, wenn ich also hier etwas habe, und es kommt jemand zur Tür rein und sagt, das hätte er gerne, und ich geb's ihm ... schon geht es los.

Sie könnten einen Vertrag mit ihm machen, der ihm verbietet, die Sache an jemand anderen zu verkaufen.

BEUYS: Das hielte ich für einen unlebendigen Vorgang, das wirkt nicht dynamisch, denn man weiß doch, die Sachen werden von einer Hand zur andern getragen. Also das wäre gegen das Leben.

Ja, gegen das kapitalistische Leben, also eigentlich völlig in Ihrem Sinne. Sie sagen doch dauernd, Sie wollen keinen Kapitalismus.

BEUYS: Nein, will ich nicht. Aber ich kann's ja nicht ändern. Die Leute versuchen eben Geld rauszuholen aus allem. Es ist doch so, daß diese Dinge, die heute in irgendwelchen Museen landen, schon bei etlichen Vorbesitzern gewesen waren, im allgemeinen sind es sechs oder sieben. Das heißt also, da gibt es Leute, die vielleicht für zehn Mark 1950 oder 52 etwas erworben haben, und heute ist das auf einmal 25 000 Mark wert.

Ja, ärgert Sie denn das nicht?

BEUYS: Nein, das ärgert mich überhaupt nicht. Das ist doch bei Briefmarken genauso. Das ist ganz einfach der Marktmechanismus in einer kapitalistischen Wirtschaft. Neuerdings wird ja auch schon mit meinen abgetragenen Hüten gehandelt. Ich stehe dem mit Humor gegenüber. Ich wußte, daß es anders nicht geht, solange dieses System existiert. Ich wußte das vorher.

Kurz und gut, Sie funktionieren besser als jeder andere in genau jenem System, das Sie in Ihren Reden und Schriften dauernd bekämpfen. Sie sind ein Opfer dieses Systems geworden.

BEUYS: Nicht mehr als Sie.

Das nicht, aber spektakulärer.

BEUYS: Na gut, okay, spektakulärer.

Und trotzdem ist Ihre Hoffnung, das System verändern zu können, immer noch ungebrochen?

BEUYS: Ich brauch' gar keine Hoffnung. Mit dem Begriff Hoffnung arbeite ich überhaupt nicht. Das ist für mich etwas Irrationales. Ich kann es mir leisten, auf Hoffnung total zu verzichten, weil ich in jeder Ecke der Wirklichkeit sehe, daß man sie in was Positives verwandeln könnte, also ich sehe die Möglichkeiten, und zwar nicht als Täuschung, sondern ganz objektiv. Ich sehe, daß, wenn man das oder jenes so oder so machen würde, der ganze Apparat, also der ganze Organismus, zum Leben käme, sich regenerieren könnte, ganz neue Prinzipien zur Diskussion gestellt werden könnten, eine neue Gesellschaftsordnung beginnen könnte, eine völlig andere menschliche Zukunft.

Die Möglichkeiten sehe ich auch, aber ich sehe nicht, daß von ihnen Gebrauch gemacht würde. Das hoffe ich höchstens.

BEUYS: Wie man es nennt, ist ja gleich. Meinetwegen können Sie es auch Hoffnung nennen. Nur hat dieser Begriff heute für mich so eine passive Seite bekommen. Ursprünglich, im Mittelalter, waren ja Glaube, Liebe, Hoffnung Erkenntnisorgane des Menschen. Heute ist Hoffnung zu so einer merkwürdigen Einstellung geworden: Na ja, es wird schon irgendwie gehen, von irgendwo wird die Rettung schon kommen, also so eine Art Fatalismus, anstatt mit aktiver Arbeit an die Probleme der Menschen heranzugehen, deren Lösung ja nur in Gang kommt, wenn man zunächst mal darüber nachdenkt. Also bleiben wir mal einfach beim Denken, aus dem doch eigentlich die Kraft und Freiheit im Menschen herkommt. Ich bin ja jemand, der den Gedanken im ganz bildnerischen Sinne als eine Plastik bezeichnet. Ein Mensch, der denkt, ist schon mal kreativ. Mein Ziel ist, die Menschen zur Kreativität anzuregen.

Das geht aber doch nur, wenn man sie mit der Realität, so wie sie ist, konfrontiert und sagt: So, jetzt denkt euch mal etwas aus. Was ich an Ihnen beobachte, ist, daß Sie zu allen Fragen immer auch gleich die Lösungen wissen. Eine Ratlosigkeit habe ich an Ihnen noch nie feststellen können. Also Sie haben zu allen Problemen schon die Rezepte, was dazu führt, daß Sie so eine Art Leitfigur werden, der gewisse Leute dann passiv Gefolgschaft leisten.

BEUYS: Das wäre in der Tat fatal, denn Gefolgschaft würde bedeuten, daß die Leute Anhänger wären, die immer hinterherlaufen hinter einem, der sie anführt.

Aber das passiert doch.

BEUYS: Das passiert gelegentlich, aber das kann nicht sehr lange gutgehen, denn die Anhänger werden sehr schnell erfahren, daß sie eben Anhänger sind. Meine Lebenserfahrung ist, daß es gelegentlich solche Abhängigkeit im Sinne einer Anhängerschaft gibt, daß die aber nach kurzer Zeit doch erkannt wird und daß sich die Menschen, jedenfalls die meisten, dann zu ihrem eigenen Leben aufmachen, oft sogar in der Weise, daß sie zu Gegnern werden.

Gegnerschaft ist ja nur die andere Seite derselben Sache. Ob Anhänger oder Gegner, jedenfalls sind immer Sie der Kristallisationspunkt. Man ist entweder gegen Sie oder für Sie. Mit selbständigem Denken hat das wenig zu tun.

BEUYS: Na gut, in der gegenwärtigen Situation ist es noch so, daß sich Lager bilden, das ist richtig, das artikuliert sich in der Gegenwart tatsächlich noch zu wenig aus den Menschen selber heraus, aus ihrem eigenen Standpunkt oder Gesichtspunkt, aus ihrer eigenen Beschreibung dessen, wie es sein müßte. Aber das ist ja nicht nur bei mir so, so ist es überall. Es gibt viele Menschen, die gegen Franz Josef Strauß sind, und viele, die dafür sind, also da gibt es sogenannte politische Führer, an denen sich die Volksmeinung aufreibt. Aber mein Beitrag geht ja gerade auf das Selbsttätigwerden der Menschen. Ich will ja gerade das Gegenteil von dem, was Sie mir da unterstellen. Daß das noch nicht in Gang kommt und die ganze Szenerie sich verändert, das liegt eben daran, daß es nicht möglich ist, in einem so kleinen Stückchen Jahrhundert die ganze Sache herumzureißen. Das braucht Zeit. Wenn die Menschen zweihundert Jahre in der falschen Richtung, also im Sinne von Gefolgschaft, erzogen werden, dann kann man nicht erwarten, daß die Selbsttätigkeit im Denken und Handeln so rasch um sich greift. Vielleicht ist es in der Gegenwart wirklich noch nötig, daß sich die Menschen an einer physischen Erscheinung festhalten, also daß sie zum Beispiel sagen: der Mann mit dem Hut, und mein körperliches Auftreten als das Wichtigere ansehen gegenüber meinen Ideen.

Das könnten Sie leicht vermeiden, indem Sie sich weniger auffällig kleiden. Sind Sie als Kind eher ein Außenseiter gewesen oder jemand, der um sich eine Clique hatte?

BEUYS: Ich glaube, ich war sowohl Außenseiter als auch immer mitten zwischen den andern. Ich habe mich, sagen wir mal, nie abseits gehalten, schon als Kind nicht. Ich hatte um mich herum immer große Gruppen von Kindern, aber nicht als Führer, sondern ich verkörperte so einen bestimmten Typus. Ich war sehr hart im Nehmen und hatte deshalb den Spitznamen »Panzer«. Wenn irgendwas war, dann schoben die mich nach vorne. Sie müssen bedenken, es war ja die Zeit, wo sich diese ganzen Kämpfe zwischen den Parteien abgespielt haben. Da gab es die Kommunisten, den Stahlhelm, die Nationalen, die Hitlerleute, die Kirchenanhänger. Die Kinder sahen die Großen diesen Blödsinn machen und machten es dann auf dem Schulhof im Kleinen.

Haben Sich auch Ihre Eltern an diesen Partei kämpfen beteiligt?

BEUYS: Nein, meine Eltern waren, kann man sagen, politisch nicht interessiert. Ich hab' eigentlich nie richtig herausfinden können, was mein Vater gewählt hat. Er war ein sehr humorvoller Mensch und hatte an allem was rumzumäkeln. Er konnte über alle Sachen, ob von rechts oder links, seine Witzchen machen.

In Ihrer Autobiografie schreiben Sie, Sie seien damals mit einem Wanderstab als Hirte, umgeben von einer imaginären Herde, umhergezogen. Hat Ihr Vater das auch komisch gefunden?

BEUYS: Ich denke, er hat das als eine sehr positive Sache betrachtet, obschon ich das natürlich in aller Heimlichkeit machte. Also ich war überhaupt ziemlich weitab von meinen Eltern und bin selten mit ihnen zusammengewesen. Meistens lebte ich bei anderen Leuten.

Viele Ihrer späteren Plastiken, die Fett- und Filzobjekte, auch die »Honigpumpe« auf der Kasseler documenta, haben Sie als Symbole zwischenmenschlicher Wärme beziehungsweise als Signale für das Fehlen dieser Wärme bezeichnet. Kommt das aus einem Mangel an emotionaler Zuwendung in Ihrer Kindheit?

BEUYS: Nicht in der Form, wie das ein Psychiater vermuten würde. Ich habe diese ganze Kälte nicht in meinem Elternhaus, sondern in der Zeit überhaupt, also wie damals die Menschen waren, zu spüren bekommen, obwohl es ja nach außen hin eine sehr erhitzte Zeit war. Es war ja das Zeitalter des Expressionismus. Die Leute brüllten leicht, waren ungeheuer leicht zu erregen, schlugen ein aufeinander. Auch in meiner Familie hat es das häufig gegeben, weniger zwischen den Eltern, aber zwischen den Tanten und Onkeln. Das hätte man also durchaus für erhitzt halten können. Es war aber trotzdem eine, sagen wir mal, anschleichende Kälte in der Zeit selbst. Die spürte man, und die hat mich wahrscheinlich beeinflußt.

Bei Kriegsausbruch haben Sie sich freiwillig zur Luftwaffe gemeldet. Was waren die Gründe?

BEUYS: Erstens einmal ganz allgemein ein Interesse an technischen Dingen, zweitens hat wohl auch Abenteuerlust eine Rolle gespielt.

Wollten Sie den Heldentod sterben?

BEUYS: Nein, ich wollte auf jeden Fall überleben.

Warum sind Sie dann ausgerechnet zur Luftwaffe gegangen, wo doch die Überlebenschancen vergleichsweise geringer sind?

BEUYS: Ich wollte eben das Risiko und trotzdem überleben, wie heute ja auch noch, also etwas machen, was eine radikale Außenposition darstellt, und trotzdem siegen, sich durchsetzen mit einer Sache, wo man meint, man hätte die richtige Entscheidung getroffen. Ich bin auch heute noch der Meinung, daß es eine vernünftige Entscheidung war, mich damals freiwillig gemeldet zu haben. Manche, die heute alles so hochnäsig besser wissen, sagen ja, diese nationalen Triebe, die hochgekommen sind im Nationalsozialismus, die wären jetzt überwunden, also die setzen sich auf das hohe Roß und sagen: Wie konntest du Dich damals nur zur Hitlerarmee freiwillig melden? Ich sehe das völlig anders.

Wie?

BEUYS: Na, ich sehe es erst einmal als ein Gefühl der Zugehörigkeit und Solidarität mit meinen Altersgenossen. Ich wollte eben mit denen das gleiche Schicksal teilen. Ich wollte keine Extrawurst haben, nicht so eine feige, pazifistische Haltung einnehmen. Ich bin schon immer grundsätzlich gegen jedes Emigrantentum aufgetreten. Ich wollte mitten in der Scheiße drinstehen, in der auch die anderen standen. Also ich halte meine damalige Entscheidung auch heute noch für moralisch richtig.

Kannten Sie denn damals die Hintergründe des Krieges, in den Sie da zogen?

BEUYS: Ich wußte natürlich, daß alles ein Ergebnis des Versailler Vertrages war. Das war mir klar, daß dieser Vertrag ein Unding war für Europa und ganz speziell auch für Deutschland, aber es war mir natürlich auch nur in der Form klar, wie es mir beigebracht wurde durch meine Lehrer, die ich verehrte, auch noch heute verehre. Das waren alles ehemalige Offiziere, die hatten alle irgendwo ein Bein ab oder die Hand, was weiß ich, die waren schwer angeschlagen, seelisch, psychisch und körperlich. Dadurch waren sie natürlich für uns Kinder als Vorbilder sehr gut geeignet, denn Sie wissen ja, Kinder haben eine Menge Vorstellungskräfte, auch Devotions- und Verehrungskräfte. Also da war immer was los, wenn die von ihren Kriegsabenteuern erzählten.

Würden Sie zustimmen, wenn ich Sie als einen Kämpfer bezeichne, der es schwer aushält, stillzusitzen?

BEUYS: Ich habe sehr lange und oft stillsitzen müssen zwischen den Einsätzen während der Kämpfe. Es war ja nicht so, als hätte man da nun andauernd ballern können. Da gab es ja große Pausen. Da wartete man entweder in einem Erdloch oder einem Zelt oder einer Pferdebaracke. Eigentliche wartete man ja immer. Das Soldatentum ist ja im Grunde ein einziges Warten, bis es dann losgeht.

Dann aber ist es eine Art von Befreiung?

BEUYS: Na ja, eine Befreiung vom Warten, aber es ist nicht eine Befreiung im Sinne der menschlichen Freiheit. Man ist ja da hineingestellt in einen Zusammenhang, wo man sich überlegen muß: Will ich nun untergehen oder weiterleben?

Sie hätten sich ja erst gar nicht in solchem Maße für den Krieg engagieren müssen.

BEUYS: Ja, aber das kam eben für mich nicht in Frage. Das ist ein Kameradschaftsbegriff. Deswegen bin ich ja auch bis zum letzten Kriegstag bei meinen Kameraden geblieben.

Dieser Kameradschaftsbegriff ist ja heute sehr angeschlagen durch die Auswüchse, die er gebracht hat. Da ist doch ein furchtbarer Blödsinn herausgekommen?

BEUYS: So habe ich das niemals erlebt. Ich bin in das Leben gegangen. Der Krieg, das bedeutete für mich: Leben. Ich wollte nicht in dieser Todeszone zu Hause bleiben. Ich habe gesagt: Ich will dasselbe Schicksal haben wie meine Altersgenossen. Ich sah keinen ethischen oder moralischen Grund, mit irgendwelchen Tricks, die man hätte in Gang setzen können, zu Hause zu bleiben. Da ist so etwas im Spiel gewesen wie: auf Gedeih und Verderben zusammenhalten.

Haben Sie Bomben geworfen?

BEUYS: Ja natürlich, das war ja nicht zu vermeiden.

Also gab es da Tote?

BEUYS: Städte wie die Amerikaner oder die Engländer haben wir nie angegriffen, sondern nur taktische Ziele, Flakstellungen, Kriegsschiffe, Brückenköpfe. Aber daß es da Tote gegeben hat, ist wohl wahrscheinlich. Trotzdem möchte ich hier betonen: In die Zivilbevölkerung oder marschierende Truppen haben wir niemals hineingeschossen. Wenn wir einzelne Russen gesehen haben, sind wir mit der Maschine hinaufgegangen. Ich glaube, das war eine Moral, die innerhalb einer solchen Waffengattung wie ein ungeschriebenes Gesetz da war. Man hätte ja sehr leicht einen Tiefangriff machen können auf marschierende Russen. Wir haben sie manchmal so nahe gesehen, daß wir sie von der Toilette, also vom Donnerbalken, hätten wegschießen können. Aber das gab's nicht. Zumindest, soweit ich Augenzeuge war, hat es das nicht gegeben, das muß ich wirklich mit aller Wahrheit hier sagen, auch nicht Frauen gegenüber. Da mag es wohl Vergewaltigungen an anderen Orten gegeben haben, aber dort, wo ich war, hat es das nicht gegeben. Die wirklichen Greueltaten sind am Schreibtisch begangen worden.

Sie sind insgesamt fünfmal verwundet worden und haben dafür das schwarze, dann das goldene Verwundetenabzeichen bekommen. Sind Sie da stolz gewesen?

BEUYS: Das kann man nicht sagen. Solche Sachen wurden zwar mit einem untergründigen Stolz angenommen, aber es wurde ja auch sehr viel ironisches Zeug darüber geredet. Diese Sachen bekamen ja alle möglichen Namen. Die hießen »Dödel« oder »Spiegelei«. Die wurden doch immer so ironisch umschrieben. Das wurde doch alles gar nicht so ernst genommen.

Was fühlten Sie, als Sie nach Ende des Krieges das wahre Ausmaß der Scheußlichkeiten erfuhren?

BEUYS: Das war ein Schock, mit Sicherheit, und zwar irreversibel.

War es eher Wut oder Trauer?

BEUYS: Eigentlich Trauer, allerdings nicht gepaart mit Resignation, sondern ich begann sofort mit der Suche nach einem Ansatz, das Ganze im großen Stil wiedergutzumachen. Damals war es ja besonders nötig, die Möglichkeit des Menschen zurr Guten zu sehen. Ohne Idealismus, wie Sie es nennen würden, wäre man da gar nicht zurechtgekommen. Eigentlich ist dieser Schock nach Ende des Krieges mein Urerlebnis, mein Grunderlebnis, was dazu geführt hat, daß ich überhaupt begonnen habe, mich mit der Kunst auseinanderzusetzen, also mich im Sinne eines radikalen Neubeginns wieder zu orientieren. Ich hatte ja vor dem Krieg Naturwissenschaften studiert, und nun faßte ich den Entschluß, aus diesem materialistischen Wissenschaftsbereich auszubrechen und es mit einer umfassenderen Disziplin zu versuchen, von der ich damals, wenn auch zunächst nur gefühlsmäßig, meinte, sie könnte wieder menschlichere Begriffe in den Mittelpunkt rücken. Das war eine Empfindung. Ich habe damals sicher mehr aus einer Empfindung heraus diese Entscheidung getroffen, weil ich ja die ganze Katastrophe vor mir sah auch sehr viel gelesen hatte. Also das ergab sich aus einer Innerlichkeit, einem Gefühl, das ich hatte.

Spielten auch Schuldgefühle eine gewisse Rolle?

BEUYS: Nicht Schuldgefühle. Ich fühlte mich verantwortlich aber Schuldgefühle hatte ich keine. Ich muß da einen Unterschied machen, so daß ich durchaus sagen kann, ich bin schuldig, auch heute, aber Schuldgefühle habe ich keine, denn die könnte ich mir gar nicht leisten, weil sie mich hindern würden, die Sache voranzutreiben. Schuldgefühle haben je immer eine lähmende Wirkung.

In Ihrer Biografie wird mit einer geradezu penetranten Hartnäckigkeit ein bestimmtes Erlebnis, das Sie 1942, bei Ihrem letzter Absturz auf der Krim, gehabt haben sollen, als Schlüsselerlebnis für Ihr gesamtes Kunstschaffen beschrieben. Da sind Sie von Tartaren gefunden, mit Fett eingeschmiert und in Filz verpackt worden. Andernfalls wären Sie vermutlich erfroren. Besteht tatsächlich ein so direkter Zusammenhang zwischen diesem Ereignis und den Materialien, die Sie bevorzugt für Ihre Objekte und Aktionen verwenden?

BEUYS: Nein, überhaupt nicht. Da habe ich irgendeinmal in einem Katalog zu einer Ausstellung so eine Lebensgeschichte von mir gegeben, und dann hat es einer vom anderen abgeschrieben, und auf einmal gab es da diese Geschichte. Daß ich bei Tartaren war und daß die mich in Filzdecken gewickelt und mit Käse und Milch eingeschmiert haben, das mag schon stimmen, aber ich habe mich nicht deshalb für die Fett- und Filzobjekte entschieden, weil die mich damals mit diesen Stoffen behandelt hatten. Das ist ja ganz theoretisch entstanden. Es gibt doch diese Theorie der Skulptur, die ich aufgestellt habe, wo also das Fett chaotisch auftritt und, mit Wärme bearbeitet, dann wegfließt oder bewegt wird durch irgendwelche Aktionen wie in dieser berühmten Wiener Aktion, wo es dann in den Ecken des Raumes landet. Ich wollte mit diesem Material eine Aussage machen über das, was in dem Begriff Plastik drinsteckt, weil ich diesen Begriff auf seine Grundbestandteile bringen und nicht einfach so übernehmen wollte. Die Leute sprachen dauernd von Skulptur, aber keiner wußte, was überhaupt damit gemeint war. Da habe ich dann den Satz von Ad Reinhardt, dem amerikanischen Maler, sehr wichtig genommen, der, als man ihn fragte, was eine Skulptur sei, gesagt hat: Eine Skulptur ist etwas, worüber man stolpert, wenn man im Museum von einem Gemälde zurücktritt. Also für den war Skulptur eine negative Aussparung im Raum und sonst gar nichts. Da wollte ich diese Sache einmal durchleuchten und auf ihre Grundkräfte hin analysieren, und daraus ist dann der Aktionscharakter mit dem Fett und dem Filz entstanden: der Filz als Isolator, um gewisse Prinzipien voneinander zu trennen und gesondert, wie in einem Laboratorium, betrachten zu können.

Ist Ihnen klar, daß, abgesehen von einer winzigen Minderheit, die Leute, die mit Ihren Werken in Berührung kommen, das vollkommen anders auffassen? Die denken, wenn sie in ihrem Widerwillen überhaupt noch denken, bei Fett an das Bratenfett, das sie zum Kochen verwenden, und bei Filz an Pantoffeln.

BEUYS: Deshalb habe ich ja immer sehr großen Wert drauf gelegt, so etwas nicht bloß als Bild in Erscheinung treten zu lassen, sondern der wichtigere Teil meiner Aktionen waren ja die oft nächtelang andauernden Diskussionen, warum ich dieses und jenes Material da verwendet hatte. Außerdem ist ja unendlich viel darüber geschrieben worden.

Trotzdem halte ich es für illusionär, wenn Sie meinen, damit breite Schichten der Bevölkerung erreichen zu können, abgesehen davon, daß Sie ja bei Ihren Ausstellungen für Gespräche gar nicht mehr da sind. Sie sollten hören, was da für Ausdrücke verwendet werden. »Entartete Kunst« ist noch ein relativ sanftes Beispiel.

BEUYS: Ich bin doch zunächst einmal gar nicht so sehr durch meine Objekte bekannt geworden, sondern dadurch, daß ich politische Aktionen gestartet habe, daß mich der Minister in Düsseldorf aus der Akademie hinauswarf** und ich sieben Jahre gegen ihn prozessiert und den Prozeß dann gewonnen habe, daß ich also mitten in seine Staatseinrichtung meine Freie Internationale Universität hineingestellt habe und eine große Anzahl von Leuten, also sagen wir Tausende, dann zu der Auffassung kamen, der Beuys, der hat sich tatsächlich auf der Universität durchgesetzt gegen den Numerus Clausus und sich eingesetzt für seine Studenten. Wer sonst tut denn so was? Ich lebe doch zunächst für die Tausende, nicht für die Millionen, von denen Sie vielleicht reden.

Ja gut, dann sollten Sie Ihren Wirkungsgrad auf die paar Tausend beschränken. Sie sind aber inzwischen längst für Millionen zu einem Begriff geworden, nämlich zum Inbegriff dessen, was moderne Kunst ist, und diese Millionen stehen Ihnen ziemlich verständnislos gegenüber. Die Kluft zwischen dem, was das Volk für Kunst hält, und dem, was auf dem Kunstmarkt heute Höchstpreise erzielt, ist doch enorm.

BEUYS: Richtig. Diese Kluft ist größer denn je. Aber was heißt das? Das heißt, wir haben heute dasselbe Prinzip, das den Ersten und Zweiten Weltkrieg erzeugt hat und möglicherweise auch den dritten hervorruft. Deshalb ist es doch gerade so wichtig, daß ich einen Kunstbegriff schaffe, der wenigstens versucht, die Gesellschaft auf völlig neue Füße zu stellen. Glauben Sie denn, daß meine Trauer nach dem Krieg, von der wir vorhin gesprochen haben, nicht noch viel größer wurde, als ich diesen ganzen Adenauer-Scheiß dann erleben mußte, also gesehen habe, daß da alles im Sinne des vorigen Jahrhunderts wieder aufgebaut wurde?

Ich glaube Ihnen ja Ihre Verzweiflung. Aber ich sehe auch, daß ein Fließbandarbeiter gar nicht die Möglichkeit und die Zeit hat, sich mit Ihren Vorschlägen auseinanderzusetzen. Der reagiert doch nur aggressiv, wenn man ihm ein paar Filzplatten hinstellt und sagt, das sei jetzt genausoviel wert wie ein Rembrandt.

BEUYS: Na okay, die Zeit, um das begreifen zu können, die werde ich ihm beschaffen, indem ich zum Beispiel das Schul­ und Hochschulwesen aus der Unternehmerschaft des Staates befreie. Denn dann werden ganz neue menschliche Fähigkeiten zutage treten. Ich weiß doch auch, daß die Situation im Augenblick so ist, wie Sie sie beschreiben: erschreckend. Ein Wunder, wenn's anders wäre. Dahin sind wir gekommen. Und wissen Sie, was der Grund ist? Der Grund ist, daß die Menschen sehr unqualifiziert ihre eigenen Schwierigkeiten auf die Arbeitsergebnisse anderer Menschen herunterschütten. Das geht nicht nur mir so. Wenn sich heute einer ein Auto kauft, dann wird er vom Nachbarn genauso begeifert. Also ich bin da in keiner anderen Situation als wir alle zusammen. Ich beziehe mich vollkommen ein in all diese Schwierigkeiten, und ich kann an dieser Stelle nur wieder sagen: Ich bin schuldig an dieser Sache, und zwar so lange schuldig, solange ich nachlasse, eine Alternative zu setzen gegen diesen Untergangstrend, diese Destruktion aller Werte. Ich hab' doch gewußt, als ich mit meinen Ausstellungen anfing, daß das diesen Verlauf nehmen würde, daß diese ganze Scheiße herauseitern würde. Sie wird herauseitern wie eine unbewältigte Vergangenheit, könnte man sagen, die ja in uns allen drinsteckt, ich beziehe mich da immer mit ein. Ich stelle mich nicht außerhalb dieser Schwierigkeiten. Ich muß aber auch sagen, daß gerade die, die da »entartete Kunst« hinschreiben und solche Sachen, noch geistvoller sind als die Herren Universitätsprofessoren. Denn warum melden die sich überhaupt nicht? Warum sitzen die alle immer nur da und schreiben Bücher? Wenn die Schwierigkeiten der Menschen zur Diskussion stehen, halten die doch alle die Schnauze, weil sie feige sind und konformistisch, aber nennen sich Wissenschaftler! Ich muß in diesem Zusammenhang sogar Leute nennen, die ich sonst schätze, wie Habermas beispielsweise. Wer hat sich denn gemeldet, als die Schwierigkeiten mit dem Numerus clausus auftraten? Niemand! Diese Professoren sind doch noch viel primitiver als die Leute, die sich da über meine Objekte erregen. Die sogenannten Kulturträger, die an den Schulen und Hochschulen heute die führenden Positionen haben, sind in der Mehrzahl dem Verfall ihrer Intelligenz preisgegeben, und zwar unwiderruflich, während solche Regungen, die sich in diesen Naziformulierungen äußern, nicht als unwiderruflich dastehen, sondern da kann man noch aufbauen. Man müßte diese Leute nur einmal wegbekommen von ihrem Nützlichkeitsdenken. Das hat ja schon mit Kant angefangen. Da tritt ja diese Trennung schon auf, das Ding an sich und all diese Fragen, das wird da alles auseinandergerissen. Es gibt nicht mehr diesen Einklang zwischen Mensch und Natur wie bei den Griechen, und das führt natürlich in eine Einseitigkeit des Glaubens an die materiellen Werte, also in den Materialismus. Da ist es kein Wunder, wenn die Menschen dann anfangen, nur noch nützlichkeitsbezogen zu denken, also sagen: Was nützt mir das? Was soll's? Was soll es bedeuten? Ist nicht mein Bier!

Na, das Bier eines Fabrikarbeiters, der von früh bis spät schuften muß, damit er das Geld für seine Familie heranschafft, ist es ja wirklich nicht, sich in der Münchner Städtischen Galerie Ihr Leichenbetten-Objekt anzuschauen.

BEUYS: Eben! Sein Bier ist es nicht, weil er so angelegt wurde, daß es sein Bier gar nicht sein kann. Deshalb gebe ich ihm ja meinen erweiterten Kunstbegriff, damit er sich bewußt wird, was er da überhaupt macht in seiner Arbeit. Es wissen ja heute schon viele, daß ich ihnen auch die nötige Freizeit besorgen werde, denn mein Kunstbegriff richtet sich doch ganz gezielt auch auf die Veränderung des Arbeitsbegriffes. Also, dieser Fabrikarbeiter könnte doch sagen: So, jetzt solidarisiere ich mich nur noch mit Kunst, weil mir der Beuys erklärt hat, daß nur mit dieser Sache die ganze Scheiße, in der ich hier stehe, in Bewegung gebracht werden könnte. Meinen Sie vielleicht, es wäre die Aufgabe eines erweiterten Kunstbegriffes, diese Scheißbetten da ins Museum zu stellen? Die sind doch höchstens ein Zwischenträger, damit sich die Diskussion immer wieder erhitzt an dieser Frage, damit offenbar wird, daß es kein anderes Mittel gibt als die Kunst, um die Verhältnisse, in denen wir stehen, zu verändern, also den Mann von seiner Fließbandabhängigkeit zu befreien und ihm einen Arbeitsplatz zu geben, der aus der Einseitigkeit rausführt.

Nun mal konkret gefragt: Was soll dieser Arbeiter machen, um herauszukommen aus seiner Misere?

BEUYS: Er soll nicht mehr SPD oder CDU, sondern die Grünen wählen, für die ich bei der nächsten Bundestagswahl kandidiere.***

Wie wollen Sie denn, falls Sie tatsächlich gewählt werden sollten, diesen Job überhaupt ausfüllen? Da hätten Sie doch für was anderes gar keine Zeit mehr.

BEUYS: Ich stelle mich ja zunächst mal nur zur Verfügung während des Wahlkampfs. Weiter denke ich gar nicht. Ich kann mich ja in die Bresche stellen und auch ruhig kandidieren und dann nach kurzer Zeit wieder rausgehen. Ich kann doch, wenn ich gewählt bin, sagen, ich gehe wieder zurück an meine Arbeit. Es gibt ja Möglichkeiten des Austauschs. Die Grünen wollen sowieso nicht, daß da vier Jahre derselbe drinsitzt. Das sind doch alles ganz neue Strukturen. Zunächst kommt es mal darauf an, daß man die Sache ein bißchen nach vorne bringt. Was dann geschehen soll, kann man ja neu überlegen. Ich bin gar nicht so unpraktisch, wie viele meinen. Ich denke die Sachen manchmal in sehr großen Bögen, aber eigentlich denke ich nur von einem Tag auf den andern.

Ich habe den Verdacht, Sie denken überhaupt nur aus Lust am Gedankenaustausch. Das Diskutieren mit Ihnen ist ja ein geradezu epikureischer Vorgang. Die Folgen sind Ihnen offenbar gar nicht so wichtig.

BEUYS: Moment mal, nein, so ist es nicht. Ich rede doch nicht um des Redens willen. Aber ich weiß natürlich auch, daß man an so eine Sache strategisch herangeht. Ich kann doch zunächst mal ruhig kandidieren. Deshalb bin ich doch noch lang nicht gewählt. Nichts im Leben ist wichtiger als Taktik. Taktik, Strategie, Form, Lösung, Plan, Organisation, das sind alles Dinge, die für die Kunst eine ganz große Wichtigkeit haben, für die Herstellung einer Skulptur oder Plastik.

Von ihrer ursprünglichen Bedeutung her sind es Begriffe, die vor allem im militärischen Bereich eine Rolle spielen.

BEUYS: Ja, aber so kriegerisch dürfen Sie das in meinem Fall nicht betrachten. Das geht bei mir nämlich viel netter. Ich weiß genau, wenn der eine Weg nicht funktioniert, dann gehe ich einen andern. Ich habe schon immer gesagt: Ich bin ein Hase. Ich laufe durch eine Furche, und wenn sie mich kriegen wollen, habe ich, ohne viel nachzudenken, im Kopf schon eine andere Furche.

Und zuletzt vergraben Sie sich in der Erde. Da kann Sie dann überhaupt keiner mehr finden.

BEUYS: Mit der Erde bin ich sowieso längst verschmolzen.

Für den Fall, daß Ihnen Ihre Ausflüchte doch nicht gelingen sollten, sitzt also im deutschen Parlament demnächst ein Hase?

BEUYS: Ich hab' doch vor vielen Jahren sowieso schon eine Partei für Tiere gegründet. Das ist die größte Partei, die es gibt. Die Gründungsdokumente können Sie sich im Darmstädter Landesmuseum ansehen. Es gibt ja Leute, die sagen, das sei ein Unsinn. Aber die werden noch staunen. Elefanten mischen schon seit langem in der Politik mit, auch Hasen, die lassen sich nicht mehr diese menschliche Sterilität vor die Nase spritzen, die schlagen allmählich zurück, diese Leute, und zwar gewaltig.

Leute?

BEUYS: Sie können auch Engel sagen.

Soll ich das jetzt noch ernst nehmen, oder machen Sie Scherze?

BEUYS: Ich mache überhaupt keine Scherze, auch nicht, wenn ich lache, denn dieses Lachen kommt daher, daß ich im Grunde das Problem längst beim Schwanz gepackt habe. Es gibt keine Chance mehr für destruktive Strukturen. Der Kapitalismus ist irreversibel im Abbau. Diese Apokalypse ist längst im Gange, und dann werden wir eine ganz neue Weltordnung haben. Wenn es da Leute gibt, die auf den Weltuntergang warten, dann warten die ganz vergeblich, weil ich den verhindern werde. So ist das, und das ist keineswegs überheblich, sondern nur logisch.

Ich laß mich ja gerne von Ihnen retten. Ich hoffe doch genauso wie Sie, daß die Welt einmal gut wird.

BEUYS: Jetzt kommen Sie mir wieder mit Ihrer Hoffnung! Wenn ich baden gehe, und das Wasser ist vor mir, dann brauche ich doch keine Hoffnung, um Wasser zu haben, sondern dann gehe ich einfach hinein in das Wasser.

Das Wasser ist ja nicht die Lösung für die Probleme, über die wir hier reden. Ins Wasser gehe ich auch ganz ohne Hoffnung.

BEUYS: Aber es muß doch Lösungen geben, Herrgott Sakrament! Wenn ich zum Schreiner gehe und bestelle mir einen Stuhl, dann muß der Stuhl eine Lösung für das Sitzen darstellen. Ist er keine Lösung, dann haue ich ihn dem Schreiner über den Schädel.

Die Lösung für das Sitzen muß ja kein Stuhl sein. Sie können sich ja auch auf den Boden setzen.

BEUYS: Sie verstoßen andauernd gegen die Logik der Dinge. Sie sind ganz unwirklich, leben in einer ganz unwirklichen Welt, zaubern sich da in Ihren Vorstellungen etwas zusammen, was mit der Realität überhaupt nichts zu tun hat. Wie wollen Sie denn ohne Lösungen überhaupt leben? Ob das jetzt Lösungen sind für den Vergaser beim Auto, für das Sitzen, für die Organisation des Schul- und Hochschulwesens, für das Bankwesen, den Kunstbegriff, den Demokratiebegriff oder den Geldbegriff. Wenn man methodisch an ein Problem herankommen will, braucht man doch immer irgendwelche Lösungsmodelle, also ein Gestaltungsprinzip im Organisieren, das dann im höchsten Maße ein künstlerisches Prinzip ist. Das kann doch nicht dort enden, wo Maler bloß Bilder malen oder Bildhauer aus Ton etwas kneten, das muß doch eine Sache sein, die für die Menschen in ihrer Gesamtheit eine Lösung darstellt. Wenn ich nicht überzeugt davon wäre, für die Kunst beziehungsweise im Sinne des erweiterten Kunstbegriffs: für das Leben eine Lösung gefunden zu haben, dann würde ich meine Sachen doch in den Eimer schmeißen und würde nicht wagen, das ganze Zeug nach New York ins Guggenheim-Museum transportieren zu lassen. Also es kann sich immer nur um Lösungen handeln, aber diese Lösungen liefern sehr viele Menschen. Ich bin ja nicht der einzige, der Lösungen herstellt. Meine Nachbarin produziert Lösungen. Die Gemüsefrau produziert Lösungen. Ich bin doch nicht jemand, der seine Lösungen anderen aufzwingt. Ich mache ein Angebot, das ist alles. Mein Ausgangspunkt ist ja gerade die Selbstbestimmung des Menschen.

Aber die endet doch spätestens dort, wo der Mensch aufhört zu leben. Also da ist eine Grenze. Seinen Tod kann der Mensch nicht bestimmen.

BEUYS: Also jetzt wird's chaotisch. jetzt müssen Sie sich in aller Liebe gesagt sein lassen: Sie sind vollkommen unrealistisch. Der Tod ist doch keine Grenze. Der Tod ist das Leben. Ich sehe doch im Tod die einzige Möglichkeit, um überhaupt über das Leben eine Aussage machen zu können. Sonst müßte ich doch von der alten, darwinistischen Vorstellung ausgehen, daß mit dem Tod alles aus ist. In Wirklichkeit ist es aber doch so, daß im Sinne des Organikers das Leben mit dem Tod überhaupt erst anfängt. Da gibt es ja genügend Leute, die sich mit dieser Rätselfrage des Lebens beschäftigt haben, wie Lorenz Oken oder Goethe oder Caspar David Friedrich oder der deutsche Idealismus.

Das waren ja alles sehr gläubige Menschen.

BEUYS: Ja, gläubig bin ich doch auch. Das muß ja nicht in Erscheinung treten, indem ich den Papst verehre oder irgendeiner Konfession angehöre.

Halten Sie sich für unsterblich in Ihren Werken?

BEUYS: Ach was, Blödsinn!

Der amerikanische Objektkünstler Edward Kienholz hat unlängst den Wunsch geäußert, er möchte, daß man seine Sachen verbrennt, wenn er tot ist.

BEUYS: Das sagt der doch nur, weil er raffiniert genug ist zu wissen, daß die Sachen ohnehin alle vom Konservator erhalten werden. Was sollen denn solche Äußerungen? Die halte ich geradezu für frivol, denn dann dürfte er ja überhaupt nichts verkaufen, sondern müßte alles bei sich versammeln und, wenn er abkratzt, schnell noch einen Benzinkanister darüberschütten und ein Streichholz anzünden.

Also bleibt etwas übrig?

BEUYS: Ja, meinetwegen, wenn es nicht bis dahin verrottet oder von den Menschen zufolge einer plötzlichen Umpolung ihrer Vorstellungen irgendwohin gekippt wird, dann bleibt was erhalten.

Manche würden ja schon heute Ihre Sachen am liebsten zum Sperrmüll werfen.

BEUYS: Was ist das für eine Bezeichnung: Sperrmüll?

Das ist Abfall, der zu groß ist, als daß man ihn in eine Mülltonne hineinwerfen könnte.

BEUYS: Die Leute von der Müllabfuhr sind sowieso meine besten Freunde.

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* Als Eva Beuys, die Ehefrau, während des Interviews, sich für die Störung entschuldigend, durch das Zimmer schlich, fragte ich sie, weshalb sie sich denn entschuldige, da doch für Beuys eine Trennung von Kunst und Leben, Berufs- und Privatmensch, nicht existiere. Oh doch, erwiderte sie, die Trennung von Kunst und Leben bestehe sehr wohl. Im Privatleben sei Beuys »Gott sei Dank« gar nicht der Künstler. Wäre er es, würde sie das nicht lange ertragen. Aber er sei ja ohnehin nur selten zu Hause. Auf Vergnügungen wie Tanzen oder Besuche machen habe sie immer verzichten müssen. Sicher hätte sie ihren Mann gerne öfter. »Aber was nützt es, wenn ich stöhne und jammere? Da darf man als Frau nicht zu tiefsinnig werden. Da rückt man sich den Tag täglich aufs neue zurecht. Da muß man ganz nüchtern bleiben. Da denkt man sich, die Seemannsfrauen früher hatten es auch nicht leichter.«

** Nachdem Beuys 1972 mit abgewiesenen Studenten das Sekretariat der Kunstakademie Düsseldorf besetzt hatte, wurde ihm vom damaligen Wissenschaftsminister von Nordrhein-Westfalen, Johannes Rau, fristlos gekündigt. Beuys mußte zusammen mit seinen Studenten, von Polizisten begleitet, die Akademie verlassen. Nach einem jahrelangem Rechtsstreit wurde die Entlassung am 7. April 1978 vor dem Bundesarbeitsgericht in Kassel für ungültig erklärt. Beuys durfte bis zur Erreichung des 65. Lebensjahres sein Atelier in der Akademie behalten und weiter den Professorentitel führen, dafür akzeptierte er die Auflösung des Arbeitsverhältnisses. 

*** Bundestagswahl 1980. Beuys erreichte nicht die für ein Mandat notwendige Anzahl der Stimmen.

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Erschienen 1980 in der Mai-Ausgabe des Männermagazins "Penthouse"