Interview mit Joschka Fischer 1985



Sie gähnen. Sind Sie schon müde, bevor es losgeht?

JOSCHKA FISCHER: Nicht müde, erschöpft vielleicht.

Angenehm?

FISCHER: Es gibt eine Erschöpfung, die tut unheimlich gut, zum Beispiel wenn man beim Fußballtraining körperlich alles aus sich herausholt, und es gibt eine Erschöpfung, die ist sehr kalt, die habe ich erlebt, als ich in Rüsselsheim bei der Firma Opel acht Stunden täglich am Band stand, und die erlebe ich manchmal in Bonn, wenn ich mich Stunde um Stunde in monotonen Sitzungen mit den Leuten streite.

Innerparteilich?

FISCHER: Nicht nur. Aber das spielt eine Rolle. Das Geheimnis der Grünen ist ja gerade, daß sie in unheimlich zähem Streit zu Konsensen finden. Da wundere ich mich oft selbst darüber. Ich nenne das die Palaverstruktur. Das ist ein bißchen wie bei primitiven Gesellschaftsformen, die sehr demokratisch sind. Jeder hat Sitz und Stimme. Da hebt ein großes Palaver an...

... das Sie als grüne Hölle bezeichnet haben.

FISCHER: Was heißt grüne Hölle? Das ist ein Dschungel, also eine ökologisch sehr lebendige Existenzform. An Auseinandersetzungen ist nichts, aber auch gar nichts Schlechtes, solange das Humanum des Gegenüber grundsätzlich respektiert wird, das heißt, solange man ihn weder psychisch noch physisch kaputtmacht, auch wenn man das oft gerne täte. Für mich bedeutet Zivilisation oder Kultur, diesen Trieb zur Zerstörung in den Griff zu bekommen und zu einem positiven Element umzubiegen. Eine der Hauptursachen für den Psychokrieg bei den Grünen war die Entscheidung, daß die Abgeordneten zur Halbzeit der Legislaturperiode ausgetauscht werden. Seit das mit wenigen Ausnahmen akzeptiert ist, ist der Krieg quasi beendet.

Sie waren ein erklärter Gegner dieser Entscheidung.

FISCHER: Ich habe damit mittlerweile nicht die geringsten Schwierigkeiten. Also ich muß Ihnen ehrlich sagen, sachlich finde ich es immer noch Quatsch, weil hier politisch sehr viel über persönliches Kennen läuft, und die Nachrücker wieder ganz von vorne anfangen müssen, aber persönlich wünsche ich mir, es wäre Nacht und die Rotation wäre morgen. Ich habe die Schnauze gestrichen voll von diesem Laden.

Meinen Sie Ihre Partei?

FISCHER: Nein, ich meine Bonn, diese Existenz hier, dieses Parlament*, diesen ganzen Affenstall, dieses Getue. Es ist eine Kunstexistenz, die man hier führt. Ich war neulich wieder einmal drei Tage in Frankfurt. Wenn ich da durch den Hauptbahnhof gehe, weiß ich, jetzt bin ich wieder in der Bundesrepublik 1984. Für mich ist Bonn nicht die Realität, in der ich mich entfalten kann, so wie ich möchte. Ich muß hier Dinge tun, die mich im Grunde zu Tode langweilen.

Zum Beispiel?

FISCHER: Diese ganze Juristerei! Wir haben doch nur mit Paragraphen und Paragraphenrittern zu tun, das ist ein wesentlicher Bestandteil der Politik. Ich fühle mich hier einfach  nicht frei. Ich darf zum Beispiel zu niemandem öffentlich Arschloch sagen. Wenn der Joschka Fischer im Bundestag zu Herrn Stücklen Arschloch sagt**, dann, wumm, ist das ungefähr so, wie wenn einer in der Kirche laut furzt, nur daß dort der Klangkörper wesentlich voller ist, falls es sich um eine gotische Kathedrale handelt. Das ist doch grotesk!

Macht es Ihnen keinen Spaß, Wirkung zu haben?

FISCHER: Nicht auf diese Art.

Halten Sie gerne Reden?

FISCHER: Schon, wenn es gut läuft. Da hat man wenigstens direkten Kontakt zu den Leuten, die unten sitzen.

Nach Ihrer Auskunft sind die meistens betrunken.

FISCHER: Du meine Güte! Das habe ich mal provozierend gesagt, weil es mir unglaublich gestunken hat, wie wir in der Anfangszeit von denen behandelt wurden, vor allem die Frauen. Als Waltraut Schoppe ihre erste Rede hielt, haben sich diese CDU-Idioten aufgeführt, das war teilweise richtig gemein. Da sind tief sitzende irrationale Sehweisen hochgekommen so in der Art, guck an, guck an, hast wohl schon lange nicht mehr, und dazu saß Friedrich Zimmermann*** mit seinem schiefen Grinsen auf der Regierungsbank und klopfte sich auf die Schenkel. Unsere Frauen haben in einen Verdrängungssumpf reingestochen, daß es nur so gespritzt hat.

Wie werden Sie heute behandelt?

FISCHER: Ich glaube, man hat uns enorm unterschätzt. Heute nimmt man uns ernst, behandelt uns sogar mit Respekt bisweilen.

Geht das bis zu freundschaftlichen Gefühlen?

FISCHER: Nein, obwohl ich mit relativ vielen per du bin, ich weiß nicht, warum, aber die duzen mich einfach. Auch der Apel**** war im Fernsehen ganz schnell beim Joschka. Da hab ich kurz überlegt, ob ich Hänschen zu ihm sagen sollte.

Trifft das auch auf Helmut Kohl zu?

FISCHER: Mit dem rede ich nicht. Man sagt sich guten Tag, das ist alles.

Wäre es nicht interessant, mit Kohl, der immerhin Kanzler ist, ins Gespräch zu kommen?

FISCHER: Das halte ich nicht für wichtig.

Aber das ist doch ein mächtiger Mann.

FISCHER: So mächtig ist der gar nicht. Hier ist die Macht doch total zu Strukturen verflüssigt. Die Personen sind relativ variabel. Der Kohl ist mit dem Verwalten seiner Sach- und Handlungszwänge voll ausgelastet. Nicht einmal das schafft er. Ich könnte mir vorstellen, daß ein paar Aufsichtsratsvorsitzende im Zentralbankrat wesentlich mehr Macht als der Kanzler haben, einige Konzernchefs, die Gewerkschaften, die Kirchen. Die Flick-Affäre hat doch gezeigt, wie sehr Großfinanz und Großindustrie die Politik bestimmen.

Reagieren Sie darauf mit Empörung?

FISCHER: Also darüber kann ich mich schlecht empören, weil ich immer davon ausgegangen bin, daß die eben so sind. Man soll doch nicht glauben, daß man in der CDU etwas wird, weil man besondere moralische Tugenden hat. Es ist doch klar, wie man hochkommt, und es ist auch klar, wessen Interessen diese Leute letztendlich vertreten. Empören kann ich mich schon allein deshalb nicht, weil meine Erwartungen, bevor ich nach Bonn kam, noch schlimmer waren. Die positive Überraschung ist, daß es auf den Hinterbänken doch einige gibt, die teilweise sehr ernsthaft bemüht sind, im wahrsten Sinne des Wortes Repräsentanten ihres Wahlkreises zu sein. Ich hab den Volksparteicharakter von SPD, CDU und vor allem CSU erst hier so richtig begriffen. Bei der FDP ist das anders. Das ist bis auf wenige linksliberale Individuen ein Interessenklüngel mittelständischer Großunternehmer.

Aus welchen Schichten beziehen Sie Ihre Wähler?

FISCHER: Aus dem Protestpotential, der Alternativszene und der Ökologiebewegung.

Sind da auch Arbeiter darunter?

FISCHER: Jugendliche Arbeitslose vor allem.

Haben Sie ein Wirtschaftsprogramm, mit dem Sie denen Mut machen können?

FISCHER: Es wird bei den Grünen noch eine Weile dauern, bis eine eigene tragfähige Konzeption da ist, aber schon jetzt ist klar, daß wir von rein quantitativen Steigerungsraten zu einem Wachstum gelangen müssen, das weniger den Zuwachs auf dem privaten Sektor als im öffentlichen Bereich anstrebt, also die Sanierung unserer Lebensgrundlagen, Reinhaltung der Luft und der Böden, Gesundung der Umwelt. Ich kann mir nicht vorstellen, daß man das allein dadurch in den Griff bekommt, daß man bleifreies Benzin und Katalysatoren einführt. Denn um das Auto herum gruppiert sich ein ganzes Gesellschaftsbild, eine bestimmte Art zu leben, zu arbeiten. Die muß man ändern.

Können Sie da als Vorbild gelten?

FISCHER: Ich hatte nie den Ehrgeiz, vorbildlich zu leben, also zu sagen, ich mache jetzt auf Öko-Asket. Es gehört aber zu meinem Wesen, daß ich nicht nach Eigentum strebe. Ich habe in Frankfurt nicht mal ein Bad. Bevor ich hierher kam, habe ich einmal pro Woche gebadet. Dazu bin ich in eine befreundete Wohngemeinschaft gegangen. Man redet jetzt immer davon, die Vermögensverhältnisse der Abgeordneten offenzulegen. Den Begriff des Vermögens hat es bei mir nie gegeben. Was ich früher gearbeitet habe, lag meist unter der Steuergrenze. Ich hatte immer Schwierigkeiten, auf Fragebögen meine Existenz wiederzufinden. Da kam jedesmal so eine asoziale Figur heraus, die irgendwo am Wasser mit 'ner Flasche Wermut dahinvegetiert. Aber das stimmte gar nicht. Ich muß sagen, ich habe vor meiner Zeit als Abgeordneter wesentlich gesünder gelebt, das heißt, dieser Streß hier hat auch zum Zusammenbruch so mancher asketischer Möglichkeiten geführt, die ich durchaus genossen habe, zum Beispiel, mich im Essen zurückzunehmen, nicht zu rauchen, wenig zu trinken, mehr Bewegung zu haben. Ich bin früher viel mehr in den Wald gegangen. Eine meiner schönsten Tätigkeiten war es, Pilze zu sammeln, vom Steinpilz bis zum Psilocybin-Pilz.

Wie bitte?

FISCHER: Das ist ein Pilz mit LSD-ähnlicher Wirkung, der aber nicht unter das Betäubungsmittelgesetz fällt. Der wächst auf Kuhweiden. Jetzt traue ich mich gar nicht mehr, den zu pflücken wegen der hohen Schadstoffbelastung.

Was, schlagen Sie vor, soll der einzelne tun zur Entlastung der Umwelt?

FISCHER: Erstens kommen wir nicht um drastische Maßnahmen zur Energieeinsparung herum, also weniger Heizung. Das zweite ist natürlich individueller Konsumverzicht. Die Massentierhaltung zum Beispiel führt zu Frühstückseiern, die zwar billig, aber auch furchtbar mies sind. Wenn man ein Frühstücksei will, das weniger Giftstoffe enthält, muß man darauf verzichten, jeden Tag eines zu essen. Man zelebriert das dann meinetwegen nur einmal in der Woche. Das zu verlangen, ist aber nur statthaft, wenn es einen qualitativen Zugewinn gibt. Die Erfahrung in der Alternativbewegung ist die, daß man, wenn man mit wenig Geld auskommt, die ganzen Streß- und Karriereprobleme nicht hat, und daß die sozialen Beziehungen wichtiger sind als das Geldverdienen.

Bei einem Arbeiter kommen Sie damit nicht an. Den interessiert immer noch in erster Linie, wieviel in der Lohntüte ist.

FISCHER: Das kann ich verstehen. Denn wenn die Lohntüte weg ist, ist erst mal sehr viel weg, oder krasser gesagt, für jemanden, der nichts zu essen hat, kommt es nur darauf an, sich das zu beschaffen. Das ginge Ihnen genauso. Deshalb sagen wir, man muß das allgemeine Konsumniveau herunterschrauben und dann gerechter verteilen. Ich kann sehr gut nachvollziehen, daß es in einer Umwelt, die so ruiniert ist wie unsere, eine Glücksquelle darstellt, einmal da rauszukommen und in Mallorca Urlaub zu machen, wo es wenigstens noch den Anschein von unbeschädigter Natur gibt, auch wenn am blauen Strand schon der Bohrer hämmert, um einen neuen Hotelklotz dort hinzustellen. Aber man muß auch die Gegentendenzen sehen, die heute schon da sind. Man erkennt langsam, was für eine konkrete Fessel es ist mit all den psychosomatischen Folgen, in Arbeitsprozesse hineingezwungen zu werden, die in dieser Intensität gar nicht nötig wären.

Rudolf Bahro, Ihr Parteifreund, vertritt eine Art Verelendungstheorie, indem er sich von der Massenarbeitslosigkeit die zunehmende Einsicht verspricht, daß dieses Wirtschaftssystem bankrott ist.

FISCHER: Diese Position ist nicht die meine. Dazu habe ich viel zu sehr aus der Nähe mitbekommen, was es bedeutet, wenn alteingesessene Firmen mit Stammbelegschaft über Nacht schließen müssen. Da wird teilweise die Kultur einer ganzen Region zerschlagen, die sich dort über Jahrzehnte entwickelt hatte. Andererseits ist es schlimm, daß ein Unternehmer mit der Drohung der Vernichtung von Arbeitsplätzen auf  jeden Landrat, jeden Landesminister, jede Gemeinde, und ab einer gewissen Größenordnung auch auf die Gewerkschaften und Parteien Gewalt ausüben kann, die ihm kraft der Verfassung nicht zusteht. Man muß das differenziert betrachten. Ich bin heute kein Ideologe mehr. Daß das Glück mit politischen Mitteln zu realisieren ist, daran glaube ich nicht. Der Marxismus, der das verspricht, hat etwas zutiefst Religiöses. Worum es heute geht, ist die Frage, ob die Tatsache, daß ein Land wie die Bundesrepublik aufgrund seiner Arbeitsproduktivität eine wirtschaftliche Spitzenposition einnimmt, die Leute glücklich macht. Diese Frage stellt sich eine zunehmende Anzahl von Menschen, die herauswollen aus ihrer Fremdbestimmung.

Und was erwartet sie draußen?

FISCHER: Mehr Freiheit.
 
Damit können die meisten doch gar nicht umgehen.

FISCHER: Na gut, aber das sind Probleme, wo Sie die Politik verlassen. Das ist nicht entscheidungsfähig. Die Attraktivität, die für viele Jugendliche heute von den alten religiösen Gemeinschaften ausgeht, rührt daher, daß die eine Harmonie anbieten, die es in der modernen Gesellschaft nicht gibt. Da wird gearbeitet und auch gebetet, gefeiert, getrauert, das heißt, der natürliche Zyklus menschlichen Lebens aus Arbeit, Emotion und intellektueller Beschäftigung wird rituell wiederhergestellt. Wenn Sie zu solchen harmonisierenden Ritualen nicht in der Lage sind, werden Sie zu einer isolierten Monade, die abhängig ist von anonymen Mächten, die mögen nun Kohl oder sonstwie heißen.

In welchem Alter haben Sie zum erstenmal begriffen, was Politik bedeutet?

FISCHER: Das habe ich zum erstenmal während des Ungarnaufstandes 1956 bewußt mitbekommen. Da war ich acht Jahre alt. Meine Eltern kommen aus Ungarn, das sind Heimatvertriebene, Donauschwaben. Die haben da immer am Radio gehangen. Die Mutter weinte. Der Vater war kreidebleich. Ich begriff, daß etwas Schlimmes im Gange war, etwas Bedrohliches. Ich hatte Angst. Meine beiden politischen Grundmysterien waren erstens der Antikommunismus der Fünfzigerjahre, ich hatte zwar nie einen Kommunisten gesehen, wußte aber, das müssen ganz böse, furchtbare Leute sein, zweitens war es der Jude. In Bad Cannstadt bei Stuttgart gibt es einen Kurbezirk mit herrlichen alten Villen, erbaut um die Jahrhundertwende. Als ich einmal mit meiner Mutter dorthin fuhr, sagte sie, das seien Judenvillen, worauf ich fragte, was denn das wäre. Sie sagte, die Besitzer seien alle fort, enteignet, und als ich wissen wollte, warum, schwieg sie. Also wurden für mich Kommunisten und Juden zu zwei rätselhaften Figuren, die eine irgendwie komisch, die andere sehr gefährlich.

Spielten die Spuren des Krieges noch eine Rolle?

FISCHER: Eine sehr große. Die Ruinen waren noch da. Blindgänger aufzuspüren, war eine heitere Sache. Alte Stahlhelme gehörten zu unseren Spielutensilien, auch alte Knarren. Als der Neckar abgelassen wurde, weil man neue Staustufen baute, haben wir Kinder jede Menge Munition rausgeholt. In jeder Wohnstube hingen die Bilder der Gefallenen, etwas komisch dreinblickende junger Männer in Uniform. An den Landstraßen sah man Soldatengräber. Die Folgen des Zweiten Weltkriegs, die Verwüstungen, das Kriegsspiel, das war der Hintergrund meiner Kinderjahre.

Was stellten Sie sich unter Krieg vor?

FISCHER: Daß das ganz spannend ist. Da kracht und raucht es. Sterben war etwas Dekoratives. Das Abstoßende des Todes habe ich eher erlebt im Zusammenhang mit dem Beruf meines Vaters. Er war Metzger und arbeitete auf einem Schlachthof. Da habe ich die Fließbänder mit den Tierleichen gesehen, Schweine- und Rinderhälften. Draußen sah man noch die Pferche mit den lebenden Tieren. Das war brutal. Das hatte fast etwas Kafkaeskes.

Welche Partei wählten die Eltern?

FISCHER: CDU.

Und heute?

FISCHER: Mein Vater wählt nichts mehr, der ist 1966 gestorben. Meine Mutter wird das gleiche wie damals wählen.

Was sagt sie zu Ihrer Karriere?

FISCHER: Tja, das ist immer ein schwieriges Thema gewesen. Sie begreift es nicht. Es ist ihr unheimlich. Wäre es nach ihr gegangen, wäre ich Beamter am Stuttgarter Rathaus geworden, irgendsoein kleiner Inspektor in gesicherter Position, der möglichst unauffällig durchs Leben geht. Im Grunde habe ich alles, was ich gemacht habe, gegen diese Pläne gemacht.

Ruft sie manchmal hier an?

FISCHER.: Zum erstenmaI hat sie angerufen nach der Arschloch-Affäre. So etwas macht man nicht! Um Gottes willen! Was denken die Leute! So war sie immer. Schon als ich klein war, ging Terror eigentlich nur von ihr aus. Mit dem Vater bekam ich erst in der Pubertät Schwierigkeiten.

Welche?

FISCHER: Als ich zum erstenmal in den Club Voltaire ging, das war so ein freigeistiges Zentrum in Stuttgart, wo sich Altsozialisten, Liberale und Künstler trafen, fing er gleich an, mich als Kommunist zu beschimpfen. Dann wurden die Haare ein wenig länger, das führte daheim zu einer mittleren Katastrophe, und wenn man Bob Dylan hörte, stand man kurz vor einer Schlägerei mit dem Alten. Aber es war nicht nur der Vater. Auch  auf der Straße wurde man angepöbelt. In Konstanz hatte ein ausgeflippter Rentner einen siebzehnjährigen Jungen wegen seiner langen Haare erschossen. Das waren massive Diskriminierungen, das heißt, man hat als aufbegehrende Minderheit erfahren, welches Aggressionspotential in der schweigenden Mehrheit dieses Landes steckt. Bei friedlichsten Demonstrationen wurde gleich von Vergasen gesprochen, in Stücke hacken. Daraus hat sich dann so ein Mut zum Bekenntnis entwickelt gegen diesen ganzen Mief, gegen die Stickigkeit und die Lüge, die überall hervorsah.

Welche Lüge?

FISCHER: Daß man das, was unter Hitler passiert war, einfach verdrängte. Wir hatten in der Schule einen Film gesehen über die Nazi-Verbrechen, das hat mich nicht losgelassen. Mir ist bis heute vollkommen unverständlich, wie man bei aller Angst ab einem bestimmten Punkt da noch mitmachen konnte.

Um das zu verstehen, müßten Sie sich in einer vergleichbaren Situation befinden.

FISCHER: Ich habe immerhin die Erfahrung, daß ich an Punkte gekommen bin, wo ich mir gesagt habe, jetzt mußt du dich entscheiden, jetzt gehst du in die Minderheit, jetzt wird es gefährlich, jetzt mußt du aufrecht stehen.

Wurde das für Sie lebensbedrohlich?

FISCHER: Dazu will ich Ihnen nur sagen, ich hatte zweimal mit faschistischen Türken zu tun, Anhängern der türkischen Militärdiktatur. Die sind, als wir gegen das Regime demonstrierten, mit Messern, Ketten und Eisenstangen auf uns losgegangen. Da hatte ich wirkliche Todesangst.

Sie waren nicht bewaffnet?

FISCHER: Nein, nie, weil wir den Trip der Frankfurter Stadtguerilla nicht mitgemacht haben. Die setzte auf bewaffneten Kampf, während wir als Spontis immer gefordert haben, auf die Straße zu gehen und mit friedlichen Mitteln die Auseinandersetzungen auszufechten. Natürlich gab es da auch diese Männlichkeitsrituale, Mutrituale, und es gab auch die Faszination der Gewalt, also das Erfolgserlebnis, einmal nicht wegzurennen, sondern einen mit Knüppel, Helm und Schild armierten Polizisten im Zweikampf aus den Socken zu heben. Ich bin 1968 einmal ganz furchtbar verprügelt worden, das war am Ostermontag bei einer Demonstration gegen Springer, kurz nach dem Mordanschlag auf Rudi Dutschke. Da kam berittene Polizei und hat alles niedergedroschen. Meine damalige Frau bekam fast einen Nervenzusammenbruch, die stand nur noch schreiend da, und als sie dann ein Polizist umreiten wollte, habe ich sie zu Boden gerissen, worauf wir beide fünf Minuten lang so richtig durchgebläut wurden. An Gegengewalt war gar nicht zu denken. Nur lernte man mit der Zeit, wie man sich noch im wildesten Getümmel geschickt bewegen oder rechtzeitig in Sicherheit bringen konnte, und dann sah man gelegentlich auch die Möglichkeit, zu geben, nicht nur zu nehmen.

Fehlt Ihnen das heute?

FISCHER: Die Atmosphäre war schon toll, wenn man wußte, daß es gleich losgeht. Das ist wie vor einem Gewitter. Die Stimmung vor großen Demonstrationen, wenn Zoff in der Luft liegt, ist vergleichbar einer elektrostatisch aufgeladenen Atmosphäre kurz vor dem ersten Blitz und Donnerschlag.

Klingt fast nach Kriegslust.

FISCHER: Nein, weil es viel harmloser war, das ist der entscheidende Punkt. Es ging ja nicht um Tod oder Leben. Es war ein Ritual. Unsere Musterdemokraten müßten begreifen, welche Bedeutung ritualisierte Gewaltauseinandersetzungen haben können.

Kann man das nicht auch geistig austragen?

FISCHER: Ich weiß nicht. Vielleicht sollte man den Menschen lassen, so wie er ist. Vielleicht muß man nur seine Möglichkeiten derart gestalten, daß diejenigen, die nicht so spinnen wie der hauptsächlich männliche Teil, der sich bekriegen will, ihre Ruhe haben. Die anderen sollen sich meinetwegen die Köpfe einschlagen. Ich meine, man kann auch jemanden, der sich platt fahren will, nicht daran hindern, mit dem Motorrad wie ein Verrückter durch die Gegend zu rasen. Die sogenannten Primitiven hatten ein viel bewußteres Verhältnis zur Gewalt. Da durfte das jeder machen, wenn er es nur selbst verantworten konnte. Schlimm wird es erst, wenn die Gewalt von Machtmaschinen ausgeübt wird, die sich im Grunde nicht selbst gefährden. Hier finde ich, daß die Grünen einen Ansatz darstellen, der ein Stück Primitivität in diesem guten Sinne bedeutet, indem sie diese Machtapparate tatsächlich entmachten. Der Friedensbewegung ist es gelungen, sich einen Teil der sicherheitspolitischen Entscheidungsgewalt anzueignen, die vorher allein der Staat innehatte.

Hatten Sie im Kampf mit der Polizei das Ziel, sie zu besiegen?

FISCHER: Wir wußten immer, daß wir nicht siegen konnten. Hätten wir gesiegt, wären wir furchtbar erschrocken. Aber natürlich machten wir auch die Erfahrung, daß man sich da vertun kann, indem man dem Reiz der Gefahr erliegt und den Zweck verrät, den man verfolgt hat. Man stellt plötzlich fest, daß man im Kampf gegen Unterdrückungsstrukturen selbst zum Unterdrücker geworden ist, daß man das adaptiert hat. Das führte zu den tollsten Debatten in den Metropolen der Studentenrevolte, bis hinein ins Private. Das wurde selbstkritisch analysiert. 1977 mit der Ermordung Hans Martin Schleyers kam dann das große Erschrecken, weil man da jemanden in eine Todeszelle eingesperrt hatte, um ihn kaltblütig, volksjustizmäßig hinzurichten, also genau das zu tun, wogegen sich unser Kampf immer gerichtet hatte.

Gab es zwischen Ihnen und der RAF direkte Kontakte?

FISCHER: Ich habe Andreas Baader persönlich kennengelernt und fand ihn zum Kotzen. Wir wollten ihm helfen, wieder Fuß zu fassen, als er nach seiner ersten Verurteilung wegen Brandstiftung aus dem Knast kam. Für mich war es zutiefst verantwortungslos, was die RAF-Leute machten. Man kann die Zustände herbeibomben, die man anprangern möchte. Ich muß aber auch sagen, daß mich das, was die Bundesanwaltschaft oder die Bildzeitung damals getan hat, diese Hetze gegen sogenannte Sympathisanten ungleich mehr deprimiert hat. Ich hatte das Gefühl, daß die Herrschenden nur darauf warteten, endlich kräftig zurückhauen zu können. Wir kamen uns wie zwischen zwei Mühlsteinen vor, auf der einen Seite die immer noch solidarische Auseinandersetzung mit der RAF, auf der anderen Seite die unbedingte Gegnerschaft gegen das, was da an Ausnahmestaat auf uns zukam.

Haben Sie die psychologischen Motive, die zum Terrorismus führten, verstanden?

FISCHER: Ich habe die politischen Beweggründe ernst genommen und mich immer dagegen gewehrt, wenn man den Terrorismus psychologisieren und auf die Ebene von sozialschädlichem Verhalten abdrängen wollte. Ich war einige Jahre lang Taxifahrer. Da habe ich erlebt, daß das, was als Normalität getarnt durch die Welt marschiert, in einem Ausmaß verrückt ist, das ich nicht für möglich gehalten hätte. Wenn man weiß, daß jeder seinen psychischen Schaden hat, was bringt es dann, das im einzelnen zu konstatieren? Da müßte man fragen, welche Beschädigung braucht ein Terrorist oder ein Bundeskanzler oder ein Heiliger oder ein Grüner?

Wissen Sie schon, was Sie nach unserem Interview machen werden?

FISCHER: Ich gehe ins Plenum und setz mich da hin. Vielleicht wird es noch lustig.

Seien Sie froh, daß Sie eine so interessante Beschäftigung haben!

FISCHER: Ich weiß nicht, ob das so interessant ist. Wenn es Fachdebatten sind, versteht man von den meisten Themen sowieso nichts. Man muß seine Zeiten absitzen. Mindestens fünf bis zehn Leute von uns sollten immer präsent sein. Deshalb werde ich, wie es so schön heißt, meine Pflicht tun, zuhören und in Form von Zwischenrufen meine bissigen, vielleicht auch langweiligen Kommentare abgeben.

Was sagen Sie zu Gert Bastians***** Vorwurf, bei den Grünen herrsche eine Diktatur der Inkompetenz?

FISCHER: Als Vorwurf ist das meines Erachtens ganz falsch, denn das Politische hat mit Kompetenz oft gar nichts zu tun. Sie können sehr kompetent die tollsten Untersuchungen machen. Wenn es Ihnen aber dann nicht gelingt, das an die Menschen heranzubringen, ist es ganz nutzlos.

Heißt das, die Tätigkeit eines Abgeordneten erfordert keine spezielle Begabung?

FISCHER: Doch, eine politische.

Politisch ist doch in gewissem Sinn jeder.

FISCHER: Eben. Deswegen sind wir ja in einer Demokratie. Sonst müßten wir uns irgendwelche Eliten wählen. Abgeordneter kann grundsätzlich jeder werden. Er muß nur mit anderen streiten können.

Ist nicht auch ein bestimmtes Maß an Leidensfähigkeit nötig?

FISCHER: Ja, sicher, und das finden Sie auch. Nehmen Sie Barzel******, der hat doch viel zu leiden gehabt. Der ist durch tiefe Täler gegangen, wie er zu sagen pflegt. Oder nehmen Sie Brandt. Was glauben Sie, was der gelitten hat in den Siebzigerjahren!

Ich meine das Leiden unter Mißständen, die man nicht ändern kann.

FISCHER: Ach so, Weltschmerz.

Leidet der Kanzler?

FISCHER: Der leidet zumindest unter zwei Mißständen auf dieser Welt, erstens unter Franz Josef Strauß, zweitens unter Helmut Schmidt. Allmählich fängt er auch an, unter Otto Schily zu leiden. Aber Spaß beiseite, ich kann nicht einschätzen, wie ernst es Kohl zum Beispiel mit seiner Deutschtümelei meint, diesem Provinzialismus. Vielleicht leidet er wirklich unter der Teilung Deutschlands, dem Kommunismus, der Unterdrückung in Polen. Ich kann nicht sagen, ob das alles nur ein Spruchrepertoire ist, das er abzieht, oder ob es ihm echt etwas ausmacht.

Warum, glauben Sie, ist das Trinken unter Parlamentariern so verbreitet?

FISCHER: Wegen Streß, Einsamkeit, Beziehungslosigkeit, Konkurrenzdruck. Alkohol ist eine gesellschaftlich sanktionierte Droge, überall frei verfügbar zu wohlfeilen Preisen. Ich habe hier auch eine Zeitlang ziemlich getrunken, allein um schlafen zu können.

Hatten Sie in Ihrem Leben je eine ernsthafte psychische Krise?

FISCHER: Ich kenne die Einsamkeit. Ich habe auch Drogenerfahrung, bin also im Innenausschuß beim Thema Rauschgiftbekämpfung wahrscheinlich der einzige, der weiß, wovon er redet. Aber was ich bei anderen Menschen, die mir sehr nahe standen, an Depressionen gesehen habe, das kenne ich nicht. Ich weiß nicht, woran es liegt. Wenn mich etwas wirklich betrifft, werde ich aktiv, habe sofort Lust, etwas zu tun, und sei es nur, dagegen zu protestieren.

Was hätten Sie getan, hätte sich Ihnen nach dem Scheitern der Studentenrevolte nicht die Ökologiebewegung als neues Betätigungsfeld geboten?

FISCHER: Dann wäre es mit mir  ganz finster geworden, und ich wäre vielleicht bei Bhagwan gelandet. Ich bin ja sechs Jahre lang ohne jede Orientierung gewesen, bin Taxi gefahren, hab ab und zu mal einen Artikel geschrieben. Da war also bei mir mehr oder weniger Funkstille über einen sehr langen Zeitraum.

So gesehen, könnte man die Umweltzerstörung, gegen die Sie nun kämpfen, fast als ein Glück betrachten.

FISCHER: Nicht als Glück, aber sie hat für einen Marxisten, wie ich einer war, die Möglichkeit einer Umorientierung geboten, so etwas wie eine Reaktivierung, weil auf der Grundlage der Ökologiebewegung eine Selbstkritik der sozialistischen Utopie, die doch nirgends hingehauen hat, möglich war, ohne die eigenen Traditionen vollständig über Bord werfen zu müssen

War bei Marx Ökologisches nicht zu finden?

FISCHER: Wenn man sucht, findet man auch den ökologischen Marx. Aber nimmt man seine Hauptthesen, dann ist es so, daß ihn die Luft und das Wasser nur als natürliche Produktionsbedingungen der großen Industrie und die Fruchtbarkeit des Bodens nur in Zusammenhang mit der Grundrente interessierten.

Schmälert das Ihre Bewunderung?

FISCHER: Ich weigere mich bei aller Selbstkritik, die die Linken, die zu den Grünen gegangen sind, nun wahrhaft betrieben haben, jetzt ins Gegenteil zu verfallen und einem neuen Romantizismus das Wort zu reden. Marx bleibt für mich wichtig. Aber ich sage ganz deutlich, daß ich die marxistische Theorieverehrung für einen Fehler halte. Das begann mit der Lektüre von Hegel, den ich lesen mußte, um bei den Marxisten in den Genuß der höheren Weihen zu kommen. Mit Hegel wurde sehr stark argumentiert, und wie in der Politik mußte ich mir die Sprache aneignen, die ich durchbrechen wollte. Ich kam ja aus dem Arbeitermilieu und hatte entsprechende Schwierigkeiten, mir das Soziologendeutsch zu erschließen, das in diesen Kreisen gesprochen wurde. Ich verstand das am Anfang gar nicht.

Hatten Sie Minderwertigkeitsgefühle?

FISCHER: Die großen Zampanos beim SDS haben mich schon schwer beeindruckt, aber bei näherem Betrachten habe ich gemerkt, daß die auch nur mit Wasser kochten. Eine wichtige Quelle meines Selbstwertgefühls ist die Fähigkeit, mit Erlebnissen, wo ich denke, ich habe versagt, ganz gut zurechtzukommen.

Wo haben Sie denn versagt?

FISCHER: Auf allen Gebieten habe ich schon versagt, in der Politik, im Bett, moralisch... Was gibt es noch? Überall ist es schon vorgekommen, daß ich gesagt habe, Scheiße! Die Frage ist nur, wie steht man das durch. Meine Nehmerqualitäten sind sehr gut ausgebildet. Das beruhigt mich.

Kennen Sie die Versuchung, Böses zu tun?

FISCHER: In der Versuchung ist man oft. Ich war einmal knapp davor, einen Menschen aus Eifersucht umzubringen. Das war herb. Das würde ich mir am meisten vorwerfen.

Sind Sie noch verheiratet?

FISCHER: Ich habe mich dieses Jahr scheiden lassen. Aber ich habe von meiner Frau schon seit langem getrennt gelebt. Das war keine übliche Ehe. Ich habe mit achtzehn geheiratet, das galt zu der Zeit noch als minderjährig. Wir haben von Anfang an in Wohngemeinschaften gewohnt. Da entstand so eine Art Szenenghetto, das man auch als Schutz benutzt hat. Meine Existenz war ja zehn Jahre lang total politisiert, Tag und Nacht. Also war ein Privatleben eigentlich gar nicht möglich, weil das Private auch zum Gegenstand politischer Erörterung wurde. Es gab da ständig diese Konflikte zwischen Männern und Frauen, weil Männer zum Beispiel dreckig sein durften und man bei Männern eher tolerierte, wenn sie nicht saubermachten. Das kann in einer Wohngemeinschaft zur Kernfrage werden, denn wenn alles versifft ist, wenn niemand einkauft, dann geht das über kurz oder lang in die Binsen.

Was war in diesen Diskussionen Ihr Standpunkt?

FISCHER: Ich hatte zu Beginn die üblichen Vorurteile. Mir war von der Gesellschaft, den Eltern, vor allem von meiner Mutter, eingeimpft worden, die Frau sei die Dienerin, der Mann sei der Herrscher. Ich kann mich erinnern, im ersten Jahr meiner Ehe empfand ich es als eine Selbstverständlichkeit, aus den pflegenden Händen der Mutter in die einer anderen Frau überzugehen. Das Problem ist, daß in einer patriachalen Gesellschaft die Besonderheiten des Mannes, die ich auf keinen Fall wegwischen möchte, zu Herrschaftsansprüchen führen. Das Positive an der Frauenbewegung war die Entlastung, die man als Mann empfand, wenn man diese Ansprüche aufgab, weil man danach seine Besonderheit als Mann moralisch ungebrochener leben konnte. Heute kann ich die dienenden Funktionen im Haushalt auch selbst wahrnehmen, wodurch ich mir ein Stück Unabhängigkeit erobert habe. Wenn ich mir andere Männer ansehe, wie abhängig die von ihren Frauen sind, wie pflegebedürftig, dann weiß ich, was ich gewonnen habe.

Wohnen Sie jetzt allein?

FISCHER: Ich habe in Frankfurt eine eigene Wohnung.

Und in Bonn ein Appartement?

FISCHER: Appartement ist übertrieben. Das ist offener Vollzug, ein quadratischer Raum mit Kochnische, integriertem Klo und Badezimmer.

Wie hoch sind Ihre Bezüge?

FISCHER: Viereinhalbtausend Mark monatlich. Das ist furchtbar knapp. Der grünen Basis ist unglaublich schwer zu vermitteln, daß man hier in Bonn viel mehr Geld braucht als in Frankfurt, weil ich dort alles selber machte. Das war eben das Schöne an meiner früheren Existenz, die vom Herzinfarkt weit entfernt war. Ich konnte mir meine Wäsche waschen, konnte mich um die Kinder kümmern. Das geht jetzt nicht mehr. Am Wochenende fahre ich heim, meistens müde, dann muß ich zu irgendeiner Parteiversammlung. Ich bin einfach erschöpft.

Verstehen Sie, daß manche Angst vor den Grünen haben?

FISCHER: Nein. Es gibt diese Angst, aber ich kann sie nicht nachvollziehen.

Sie werden als Chaoten bezeichnet.

FISCHER: Ach was! Die besten Parlamentarier findet man doch bei den Grünen. Ich war mal Chaot, aber ich begreife nicht, was an mir jetzt noch chaotisch sein sollte. Das einzige Chaos, das ich in Bonn feststellen kann, herrscht im Kanzleramt. Man versucht, ein rot-grünes Schreckgespenst aufzubauen. Aber das wird nicht funktionieren. Im Gegenteil, es wird uns gelingen, in das konservative Wählerpotential einzubrechen. Das ist bei den Bauern möglich, den Forstleuten, und es ist teilweise auch schon geschehen. Es wäre schön, wenn wir bei der nächsten Bundestagswahl zehn Prozent bekämen, aber nicht mit diesem Runkelrüben-Prozedere, wie es bei den anderen üblich ist, die nur die Köpfe berühmter, berüchtigter oder sonstwie öffentlich lieb gewordener Politiker und Politikerinnen, begleitet von irgendwelchen Schwachsinnsparolen, zum Wahlinhalt machen.

Haben Sie noch Kontakt zu Ihren Freunden aus der Protestbewegung?

FISCHER: Bei manchen merke ich eine gewisse Distanz. Für die bin ich ein Medienereignis geworden. Die meinen vielleicht, der Joschka Fischer aus dem Bundestag ist nicht mehr der Joschka von früher. Das finde ich schade. Mit den Jungen habe ich nicht diese Probleme. Wäre ich zwanzig Jahre jünger, wäre ich bei den Punks gelandet. Da ist zwar viel Abfuck dabei, ich idealisiere das gar nicht, aber die haben ein gutes Feeling. Raus aus der alten Scheiße, was eigenes machen, das gefällt mir.

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*) Fischer, seit 1982 Mitglied der „Grünen“, wurde 1983 in den Bundestag gewählt. Ende 1985 wechselte er in die hessische Landespolitik und wurde Minister für Umwelt und Energie in der ersten rot-grünen Landesregierung.

**) Am 18. Oktober 1984 rief Fischer dem Bundestagsvizepräsidenten Richard Stücklen, nachdem dieser den grünen Abgeordneten Jürgen Reents (wegen dessen Verunglimpfung Helmut Kohls) aus dem Parlament verbannt hatte, aus dem Plenarsaal zu: "Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch."

***) Von 1982 bis 1989 Bundesinnenminister (CSU)

****) Hans Apel, SPD, ehemaliger Finanz- und Verteidigungsminister, bis 1990 Mitglied des deutschen Bundestages

*****) Gert Bastian, von 1983 bis 1987 Bundestagsabgeordneter der „Grünen“, danach fraktionslos, erschoß am 1. Oktober 1992 seine Lebensgefährtin Petra Kelly und anschließend sich selbst.

******) Rainer Barzel, von 1971 bis 73 CDU-Bundesvorsitzender, verlor 1972 das Mißtrauensvotum gegen Willy Brandt

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Erschienen im „Playboy“ (Februar 1985)