Interview mit Johannes Mario Simmel 1982



Ihr Verlag wirbt damit, Sie seien der meistgelesene deutsche Autor. Dasselbe behauptet Heinz G. Konsalik von sich. Einer muß lügen.

JOHANNES MARIO SIMMEL: Dieses Interview beginnt gleich mit einem Eklat. Ich weiß natürlich, daß es Konsalik gibt, ich weiß, daß er Bücher schreibt, viele Bücher. Aber ich habe keine einzige Zeile von ihm gelesen. Ich kenne ihn nicht. Deshalb fühle ich mich inkompetent, über ihn etwas zu sagen. Was die Auflage betrifft, scheint er sich wirklich geirrt zu haben. Meine ist schon seit Jahren weit über 55 Millionen.

Mit wieviel Romanen?

SIMMEL: Was ich gerade schreibe, ist mein dreiundzwanzigster Roman, die Kinderbücher dazugerechnet.

In diesem Punkt übertrifft Sie Konsalik. Er hat bereits fünfundneunzig Romane geschrieben, drei pro Jahr.

SIMMEL: Das ist technisch unmöglich.

Wenn man nichts wegwirft, streicht oder umschreibt, kann man es schaffen.

SIMMEL: Aber er muß doch, was er schreibt, korrigieren. Um Gottes willen, wenn ich schreibe, ist es doch nie die endgültige Fassung. Ich schreib' es noch sechsmal um, kürze, kleb' es zusammen, wieder und wieder. Wenn ich zwanzig Seiten geschrieben habe, werden das im Buch vielleicht zwei.

Das verrät Unsicherheit. Werden Sie von Selbstzweifeln geplagt?

SIMMEL: Und wie! Er nicht? Ich bin, wenn Leute mich loben, oft überrascht, weil ich Momente habe, in denen ich nicht sehr an mich glaube. Man sollte meinen, der Erfolg macht mich sicher. Das Gegenteil ist der Fall. Ich werde von Mal zu Mal unsicherer. Die Frauen, die mit mir gelebt haben, haben immer gesagt, ich sei ein Schwarzseher. Noch bevor ein neues Buch von mir herauskommt, male ich mir schon aus, daß es durchfallen könnte.

Bei der Kritik oder den Lesern?

SIMMEL: Den Lesern.

Sind die Kritiken Ihnen egal?

SIMMEL: Die Frage lautet immer, ob die schlechten Kritiken mich erbittern. Darauf sage ich, daß es mir eingedenk der vielen Mühe, die ich mir mache, und der Ernsthaftigkeit, mit der ich mein Gewerbe betreibe, natürlich weh tut, wenn mich Leute zu Unrecht verreißen, zum Beispiel, wenn sie das blöde Wort "Trivialroman" für mich verwenden. Das hatten sie mehr als ein halbes Jahrhundert vergessen, und dann ist das plötzlich wieder in Mode gekommen, da war ich gerade der am meisten gelesene Autor. Also machte man mich zum Prototyp des Trivialschriftstellers, der die Leute einlullt, nannte meine Bücher Opium fürs Volk und all diesen Scheiß. Es gab Kritiker, die haben ununterbrochen behauptet, ich schildere eine heile Welt, was ich nun wirklich nicht tue. Aber das hat sich inzwischen geändert. Zuerst war ich der Illustriertenschreiber, dann der Erfolgsautor, heute bin ich das Phänomen. Unlängst hat mir jemand gesagt, ich sei eine Kultfigur. Damit war gemeint, daß die Anrotzerei mit Überschriften wie "Es stinkt zum Simmel" und so weiter aufgehört hat in den letzten Jahren. Ich gehe davon aus, daß ich ein richtiger Schriftsteller bin, der richtige Bücher schreibt, keine Unterhaltungsmaschine. Ich sehe mich, das ist jetzt hochfahrend genug, in der Gegend von Fallada, Graham Greene oder Simenon.

Trotzdem käme niemand auf die Idee, Sie für den Nobelpreis zu nominieren.

SIMMEL: Nein, obwohl Heinrich Böll, der den Nobelpreis bekommen hat, in "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" mit den gleichen Mitteln arbeitet, wie ich sie verwende. Da sehe ich keinen Unterschied. Ich habe mir in den letzten zwanzig Jahren bestimmt hundertmal vorgenommen, du mußt etwas mehr Selbstsicherheit und etwas mehr Chuzpe haben im Umgang mit Verlegern, Journalisten und Interviewern. Es gibt, besonders bei den Angelsachsen, unzählige, die mich weit übertreffen, aber es gibt auch eine ganze Reihe von Leuten, die tief unter mir stehen. Es gibt so viele, die auf anspruchsvoll tun, sich mit Bedeutung vollstopfen, und man versteht kein Wort. Die bekommen die herrlichsten Kritiken und werden gelobt, weil sie die Welt, die so unverständlich ist, auch noch unverständlich beschreiben. Ich meine gewisse Autoren bei Suhrkamp, ich will keine Namen nennen. Wenn es mir um meine Zeit nicht zu schade wäre, könnten wir einmal das Experiment versuchen, daß ich mich tarne als einer, der aus einem Tiroler Bergdorf auftaucht, sich aber wegen einer Hasenscharte nicht zeigen kann, und ein Buch schreibt, bei dem die Leute von Suhrkamp kopfstehen und das den Preis der deutschen Industrie bekommt.

Das würden Sie sich zutrauen?

SIMMEL: Aber ich bitte Sie, selbstverständlich! In einer Kritik über das erste Buch, das von mir veröffentlicht wurde, einer Novellensammlung, hat man meinen Stil mit Hemingways "Der alte Mann und das Meer" verglichen. Damals habe ich gesagt, die Form ist wichtiger als der Inhalt. Das habe ich später nie wieder gesagt. Aber daran sehen Sie, daß ich es könnte.

Was ist heute das Ziel Ihres Schreibens?

SIMMEL: Schaun Sie, ich hatte 1945 einen glücklichen Moment. Die Pest der Nazis war vorbei. Wir saßen in den Trümmern von Wien und hatten alle das Gefühl, hier und jetzt beginnt eine neue Zeit, wir werden eine neue Welt aufbauen, und zwar eine bessere. Das war, wenn ich zurückblicke, die schönste Zeit meines Lebens. Damals hab' ich beschlossen, so zu schreiben, wie man es von einem Menschen mit einem halbwegs anständigen Charakter erwarten kann, nämlich völkerversöhnend, dem Frieden dienend, das Gute unterstützend und das Schlechte bekämpfend.

Wissen Sie immer so genau, was gut und was schlecht ist?

SIMMEL: Damals wußte ich das. Aber ich betreibe ja keine Schwarzweißmalerei. Meine Figuren sind sehr differenziert, und ich erkläre auch immer, warum einer böse oder gut ist oder in sich zerrissen.

Andererseits geben Sie zu, daß Sie bewußt vereinfachen.

SIMMEL: Ja, natürlich, damit mich die Leute verstehen.

Glauben Sie, man kann jemandem mit Vereinfachungen das zum Erkennen faschistischer Strukturen notwendige Denken beibringen?

SIMMEL: Das war mein Traum. Aber es geht ja nicht nur um die Verhinderung des Faschismus, es geht um die Verhinderung jeder Gewaltherrschaft. Als ich sehr jung war, habe ich gedacht, natürlich werde ich etwas Positives erreichen, und zwar dann, wenn ich den Leuten nicht mit dem Hintern ins Gesicht springe und sie erschrecke, sondern wenn ich eine Geschichte erfinde, die außerdem noch die Elemente des Reißers hat, und diese Geschichte mit dem Thema, das mein Anliegen ist, so sehr verschachtle, daß die Leute das eine nicht ohne das andere lesen können. Nun sind wir bei der tausendmal erwähnten Verpackung… Wissen Sie, ich habe für elitäre Literatur nicht viel übrig. Ich glaube, wenn Bücher so teuer sind und die Zeiten so schwer und es so viel Schlimmes gibt auf der Welt an Unrecht, Diktatur, Krieg und so weiter, dann hat ein Autor die Pflicht, Bücher zu schreiben, die den Leuten Mut machen oder ihnen etwas erklären. Ich glaube an das Gute im Menschen. Ich glaube, der Mensch ist im Urzustand gut.

Gut schon, aber offensichtlich zu blöd, um die Sachverhalte, um die es Ihnen geht, ohne die Beigabe von Sex and Crime begreifen zu können.

SIMMEL: Nicht zu blöd, sondern überarbeitet. Ich weiß doch, daß die meisten Menschen ein Buch sehr schnell aus der Hand legen, wenn sie davon nicht gefesselt sind. Ich schreibe ja für die einfachen Leute, und ich habe große Vorbehalte gegen einen bestimmten Typ von Intellektuellen. Ich meine gewisse Modephilosophen mit versnobten Kulturansprüchen, die abstruse Theorien aufstellen und von sich sehr überzeugt sind. Ich habe einen Abscheu gegen Ideologien, die ich für alles Übel dieser Welt verantwortlich mache und die ja von Intellektuellen ausgedacht wurden.

Ja, aber die Ideologien würden folgenlos bleiben, wenn es nicht das Heer der Mitläufer gäbe, die sie in die Realität umsetzen.

SIMMEL: Die wird es immer geben. Nach Auskunft eines von mir sehr verehrten Mediziners und Freundes können Sie davon ausgehen, daß 75 Prozent der Menschen schwachsinnig sind, die restlichen 25 Prozent sind mäßig begabt. Wenn einer jetzt hergeht und in einer ungeheuren Hybris, weil er die Welt verändern will, eine Ideologie entwickelt, die in die Hände jener 25 Prozent gelangt, die sie dann auf die schwachsinnigen 75 Prozent loslassen, muß ein Unglück geschehen.

Jetzt sprechen Sie als Menschenverächter.

SIMMEL: Nein, wieso? Wenn einer blöd auf die Welt kommt, kann er doch nichts dafür. Jeder von uns hat genetisch einen gewissen Begabungsfundus. Ich kann mich zu einer gewissen Höhe erziehen, aber wenn es genetisch nicht reicht, dann bleib' ich halt unten.

Sind die Schwachsinnigen jene, die Sie mit Ihren Büchern erreichen wollen?

SIMMEL: Ich kann nur versuchen, mit Worten zu ihnen zu sprechen, die sie verstehen, und ihnen sagen, so geht es nicht, schaut einmal her, was passieren kann, in der Hoffnung, daß sie vielleicht anfangen zu denken.
Aus dem Posteinlauf, den ich bekomme, geht hervor, daß mir das nicht selten gelungen ist. Mir haben alte Nazis geschrieben, die nach der Lektüre meines Buches über das Aufkommen der NPD, „Alle Menschen werden Brüder“, meinten, so etwas wie unter Hitler ist einmal passiert, aber so etwas darf nie wieder passieren. Es hat auch andere, weniger erfreuliche Reaktionen gegeben. Nach meinem ersten großen Erfolg, "Es muß nicht immer Kaviar sein", ist es passiert, daß mich bei einer Weihnachtsfeier ein falscher Freund einigen Herren vorstellte, die mir, so hieß es, etwas zu sagen hätten. Plötzlich entpuppten sich diese Herren als Rechtsradikale. Da gab es dann eine wilde Flucht vom Hofbräuhaus durch ein Klofenster zu meinem Wagen.

Können Sie schießen?

SIMMEL: Nein, aber ich würde es gerne können für den Fall, daß ich mich wehren müßte. Auf der anderen Seite bin ich auch froh, es nicht gelernt zu haben. Ich bin nie Soldat gewesen. Ich habe Chemie studiert und bin, da man während des Krieges dringend Chemiker brauchte, von der Staats-, Lehr- und Versuchsanstalt weg als Chemoingenieur in einen Rüstungsbetrieb gesteckt worden. Das hat mich gerettet. Nach Kriegsende war ich Dolmetscher bei der amerikanischen Militärregierung in Wien, dann Kulturredakteur. Also ich wurde sehr früh hineinkatapultiert in die Welt des Schreibens, und ich bin bis heute nicht wieder aufgetaucht. Ich bin immer noch unter Wasser. Eigentlich bin ich nie wirklich zu mir gekommen. Ich weiß gar nicht, was das bedeutet, sich selbst erkennen. Heißt es, daß man in den Spiegel schaut und sagt, aha, so ein Mensch bist du?

Es heißt, daß man das Böse auch in sich selbst entdeckt.

SIMMEL: Da brauche ich nicht lange zu suchen. Ich habe zum Beispiel in meinem privaten Leben Menschen verletzt, denen gegenüber ich mich in der stärkeren Position befand. Es ist bestimmt kein Vergnügen, mit mir zusammenzuleben. Das sage ich auch gleich allen Frauen, um sie abzuschrecken. Trotzdem hat meine erste Ehe siebzehn Jahre gehalten.

Die erste? Sie meinen die zweite.

SIMMEL: Sie haben recht. Es ist komisch, ich verdränge die erste Ehe. Ich war sehr jung, als ich das erstemal heiratete, es ist schrecklich, aber ich weiß nicht einmal, wann. Die Ehe dauerte, glaub' ich, zwei Jahre. Ich war gerade als Drehbuchautor von Willi Forst entdeckt worden, außerdem Österreichs jüngster Kulturredakteur, da dachte ich, jetzt heiratest du auch noch eine schöne Frau, blödsinnigerweise. Sie hieß Christa. Sie ist nach der Scheidung gestorben.

Haben Sie sie geliebt?

SIMMEL: Mein Gott, was heißt Liebe? Körperlich ist vielleicht schon etwas gewesen, aber geistig überhaupt nicht.

Was ist Ihnen wichtiger, Sex oder Liebe?

SIMMEL: Das schwankt bei mir furchtbar. Es gibt Perioden, in denen mich der Intellekt oder Gespräche mehr faszinieren, und dann gibt es wieder Zeiten, in denen mich das Bett mehr interessiert. In meinem Leben ist es mit Frauen sehr turbulent zugegangen. Ich bin nicht das, was die Presse aus mir gemacht hat. Eine Zeitlang war es schick, einen Bericht über mich mit dem Satz zu beginnen, er sieht aus wie ein biederer Buchhalter. Ich weiß nicht, ob ich so aussehe, aber ich bin bestimmt nie einer gewesen.

Mit wieviel Frauen haben Sie in Ihrem Leben geschlafen?

SIMMEL: Ich hab's nicht gezählt. Ich glaube, es ist guter Durchschnitt, was man halt mit achtundfünfzig so hinter sich bringt.

Wie kommen Sie denn an so viele Mädchen heran?

SIMMEL: Hören Sie, ich habe einen Beruf, da kann ich mich deppert vögeln. Wenn ein Buch von mir verfilmt wird, dann rufen die Mädchen scharenweise hier an, damit ich ihnen eine Rolle verschaffe. Der neueste Trick ist, daß sie mit Babystimme, so als wären sie gerade sechzehn geworden, Grüße von Mutti bestellen. Da frage ich dann, was für eine Mutti? Darauf sagen sie, ja erinnern Sie sich denn nicht mehr, vor dreißig Jahren in Wien, meine Mutti sagt, sie wird Sie ihr Leben lang nicht vergessen, das gibt mir den Mut, bei Ihnen anzurufen, in Ihrem Film sind doch vier Hausdamen, denen die Röcke heruntergerissen werden, ich wäre so glücklich, mich bei Ihnen vorstellen zu dürfen. Es ist auch schon vorgekommen, daß ich auf dem Filmgelände von einer weinenden Komparsin gebeten wurde, mich für sie einzusetzen. Die war ganz verzweifelt, weil sie umsonst gewartet hatte. Da bin ich zum Aufnahmeleiter gegangen und hab' gesagt, geh, tu mir einen Gefallen, es ist doch scheißegal, wer die Rolle spielt, und da er wußte, warum ich ihn bitte, hat er der Kleinen eine Dreitagerolle gegeben, für die sie sogar ein Abendkleid mitbringen mußte, so daß sie auch noch eine Kleiderzulage bekommen hat. Darauf ist sie mir um den Hals gefallen und hat gefragt, wie sie mir danken könne. Da hab' ich gesagt, komm halt mit, und dann passierte es gleich auf dem Parkplatz.

Könnte es nicht sein, daß sie mit Danken etwas anderes meinte?

SIMMEL: Ach, haben Sie eine Ahnung! Sie wissen doch, wie leicht es ist, eine Frau umzulegen, auch ohne Film. Ich war sogar noch so taktlos, sie nicht nach Hause zu bringen, weil ich so müde war. Ich hab' gesagt, sie soll die Straßenbahn nehmen. Da hat sie noch einmal danke gesagt, ist ausgestiegen, und ich bin mit dem Auto in mein Hotel gefahren.

Was machen Sie, wenn Sie der Trieb überkommt, und gerade keine Komparsin parat ist?

SIMMEL: Es gibt ja genügend Huren in der guten Gesellschaft. Ich hatte nie Schwierigkeiten, mich zu versorgen. Man muß nicht unbedingt in einen Puff gehen, obwohl ich zu berufsmäßigen Nutten eine durchaus kumpelhafte Beziehung habe. Das kommt daher, daß ich lange Zeit einen verwandten Beruf ausgeübt habe. Ich habe fünfzehn Jahre meines Lebens, als ich Journalist war, wie eine Hure gehandelt, denn ich habe wahnsinnig viel auf Bestellung geschrieben. Das hat bei den Lesern großen Anklang gefunden. Aber wie viele Liter Whisky ich brauchte, um das zu schaffen, können Sie sich nicht vorstellen. Ich war Alkoholiker, aber äußerlich völlig intakt. Man merkte nichts, wenn ich getrunken hatte. Ich konnte mich, obwohl ich bis oben hin voll war, in den Wagen setzen und von München nach Hamburg fahren. Also sagte ich mir, solange du schreiben kannst, mußt du keine Entziehungskur machen. So naiv war ich damals, bis ich an einen Punkt kam, wo ich merkte, es geht nicht weiter. Es war wie ein epileptischer Anfall. Mich packte das kalte Grauen. Ich fuhr nach Wien, und wie der Zufall es wollte, hatte ich das Glück, einen alten Schulfreund zu treffen, der zugleich Arzt war. Der hat mir das Leben gerettet. Ich unterzog mich einer einwöchigen Schlafkur und danach einer Psychotherapie, die etwa ein Jahr dauerte. Seither trinke ich nicht mehr. Heute versuche ich, mich durch mein Schreiben und durch Sex abzulenken.

Gelingt das immer?

SIMMEL: Nein. Vor einigen Jahren habe ich versucht, mir das Leben zu nehmen. Ich bin auf der Autobahn München-Salzburg zu Fuß im Nebel gegangen, um mich totfahren zu lassen, aber es kam kein Auto. Ich bin ein zu tiefsten Depressionen neigender Mensch. Ich lebe oft gern, aber ich wäre manchmal genauso gern tot, wenn ich nur sicher sein könnte, daß es nach dem Tod wirklich aus ist. Ich hoffe, ich habe keine unsterbliche Seele. Ich möchte, daß mein Körper zerfällt und seine Reste dem Aufbau der Pflanzen und Kräuter dienen, und daß die Gase aus meinem Körper zum Himmel aufsteigen und als Regen wieder zur Erde fallen.


Was war der exotischste Ort, an dem Sie mit einer Frau Geschlechtsverkehr hatten?

SIMMEL: Moment, da muß ich nachdenken. Also der Rücksitz im Auto ist bürgerlich, über den Kofferraum gelegt, ist auch nichts Besonderes. Der verrückteste Ort war, als ich in Rio an der Copacabana gevögelt habe. Da läuft eine Schnellstraße direkt am Meer entlang, die Avenida Atlantica. Dort sind wir unmittelbar am Rand der Fahrbahn gelegen. Einen Meter von meinem Kopf entfernt sausten die Autos vorbei. Das war in den fünfziger Jahren. Das Mädchen hatte mir die Stadt und den Urwald gezeigt. Eigentlich wollten wir es in meinem Hotelzimmer treiben, aber der Drang war so groß, daß es schon auf dem Weg ins Hotel passiert ist.

Wären Sie heute genauso feurig?

SIMMEL: Daran hat sich überhaupt nichts geändert. Das Bett ist zwar bequemer, aber wenn es sich gerade ergibt, mache ich es auch am Stachus in München. Was den Sex betrifft, bin ich vollkommen normal, obwohl ich ansonsten ein Mensch bin, der alles andere als normal ist. Sie würden mich beleidigen, würden Sie mich als normal bezeichnen. Woody Allen ist gegen mich, was Neurosen betrifft, absolut harmlos. Trotzdem hatte ich mit Frauen nie Schwierigkeiten, und ich muß sagen, es sind noch alle mit mir zufrieden gewesen. Ich habe Anerkennungsschreiben aus der Provinz, wenn Sie verstehen, was ich meine.

Könnte Ihnen der Sex das Schreiben ersetzen?

SIMMEL: Nein. Sicher ist der Sex angenehmer, aber die größere Rolle in meinem Leben spielt schon das Schreiben.

Weil Sie damit Ihr Geld verdienen?

SIMMEL: Nicht nur deshalb. Natürlich könnte ich vom Vögeln nicht leben, außer als Gigolo. Aber dazu hätte ich die Geduld nicht. Da müßte ich zum Beispiel mit der Frau einkaufen gehen und, wenn sie das dreißigste Kleid anprobiert, immer noch charmant sein und sagen, Liebling, ich glaube, Grün steht dir besser. Da könnte ich es mir nicht leisten, zu sagen, Alte, leck mich am Arsch, ich will jetzt lieber was Gutes lesen. Ich wäre sehr unfrei. Deshalb habe ich viele Päderasten als Freunde, die ich darum bitte, mit meiner jeweiligen Frau einkaufen zu gehen. Die sitzen stundenlang da, unglaublich geduldig. Das bewundere ich.

Müßten Sie als Gigolo nicht besser aussehen?

SIMMEL: Das glaube ich nicht. Ich bin bestimmt keine Schönheit. Aber komischerweise hat mir mein Aussehen bei Frauen noch nie geschadet. Ich muß wohl ein interessanter Mensch sein. Das hat mein Äußeres aufgewogen. Ich hatte schon in der Schule die üblichen großen Lieben wie alle anderen Jungen, obwohl ich zu dieser Zeit auch noch furchtbare Akne hatte. Ich habe Schälkuren gemacht, wurde bestrahlt, aber es ist immer nur kurzzeitig weggegangen. Heute habe ich nur noch eine sehr grobporige Haut, aber keine Pickel… Darf dieses Interview auch ein wenig ordinär sein?

Ich bitte darum.

SIMMEL: Dann möchte ich Ihnen erzählen, was eine Freundin, die mir lange sehr nahe stand, gesagt hat, als sie gefragt wurde, ob es ihr denn nichts ausmache, daß ich so viele Pickel habe. Sie sagte, am Pimmel hat er doch keine. Wenn Sie das schreiben könnten, wäre ich Ihnen sehr dankbar. Für mich waren die Pickel viel weniger schlimm als mein Stottern. Wenn ich sehr überlastet und aufgeregt bin, stottere ich noch heute. Eine Zeitlang habe ich mir als Alibi eingeredet, mein Geist sei schon immer so weit voraus, daß mein Sprechen nicht nachkommt. Aber das stimmt nicht. Die Ursachen müssen woanders liegen.

Wann hat es angefangen?

SIMMEL: In der Pubertät, genau wie die Akne. Ich glaube, es hatte mit den Zeitläufen zu tun. Es entstand aus der Angst vor diesem ganzen Nazi-Gesindel. Ich habe diese verfluchte Scheiße von Anfang an bewußt miterlebt, denn ich komme aus einer politisch sehr engagierten Familie. Da wurde dauernd über diese Dinge gesprochen. Mein Großvater hat mit August Bebel die ersten Gewerkschaften gegründet. Mein Vater war aktiver Sozialdemokrat. Ich kann mich erinnern, daß in unserem Bekanntenkreis der Hitler von verschiedenen Leuten nachgemacht wurde und daß ich darüber oft lachen mußte. Diese Leute sind dann alle in Konzentrationslagern umgekommen. Mein Vater stand auf den Listen der Nazis ganz oben. Deshalb mußte er emigrieren. Er ist bei Kriegsende in England gestorben. Meine Mutter, die mit mir und meiner Schwester in Wien blieb, wurde mehrmals von der Gestapo zum Verhör vorgeladen. Diese ständige Unsicherheit hat bestimmt in meiner Entwicklung eine Rolle gespielt. Die Angst ist geblieben.


Warum versuchen Sie nicht, darüber zu schreiben?

SIMMEL: Wen interessiert denn das? Ich habe trotz allem immer noch das Gefühl, ich hätte den Leuten etwas mitzuteilen, das wichtiger ist als mein Scheißleben und meine Scheißsorgen. Wem nützt das Geseiere und Gejammer eines Mannes, der mit seinen Schwierigkeiten nicht fertig wird?

Könnten Sie es sich überhaupt leisten, etwas zu schreiben, das finanziell kein Erfolg wird?

SIMMEL: Es wäre nicht einfach. Ich bin ein Gefangener meiner Bindungen und Verpflichtungen. Aber ich habe mir ja, was meine Themen betrifft, schon eine gewisse Freiheit erschreiben können. Ich muß nicht, wie in meiner Illustriertenzeit, alles schreiben, was mir vorgesetzt wird. Ich muß mich nicht prostituieren wie eine Hure, die mit jedem ins Bett geht. Ich muß nicht lügen. Ich habe heute genug Geld, mir meine Stoffe aussuchen zu können. Das ist für jemanden wie mich, der in seinem Leben derartig viel an zusammengestoppelten, auf Erfolg getrimmten Geschichten hat schreiben müssen, schon eine Menge. Ich habe heute, um das dumme Wort zu gebrauchen, eine Lesergemeinde, die mir, solange ich nicht ausflippe, treu bleibt, auch wenn ich ein heikles Thema behandle.

Aber ausflippen dürfen Sie nicht.


SIMMEL: Nein, obwohl… Wenn ich es fertig brächte, ein Buch zu schreiben wie "Wem die Stunde schlägt", würde ich auch in der Bahnhofsmission übernachten.

Haben Sie Kinder?

SIMMEL: Nein, Kinder wollte ich nie, erstens, weil ich Alkoholiker war und dachte, die wären wahrscheinlich geschädigt. Aber es steckte auch eine Portion Egoismus dahinter. Die Vorstellung, ein kreischendes Baby zu haben, das sich anpischt und ankackt und mich nicht schlafen läßt, ist mir unerträglich. Dazu bin ich viel zu nervös.

Fürchten Sie sich vor dem Alter?

SIMMEL: Ich bin ja schon mittendrin. Ich habe Angst vor Krankheiten, nicht vor dem Alter.

Auch nicht, wenn die Potenz nachläßt?

SIMMEL: Nein, denn ich hoffe, daß ich dann interessantere Dinge als den Schwanz im Kopf haben werde. Es gibt einen Roman von Romain Gary, der heißt "Über diese Grenze hinaus gilt Ihr Ticket nicht mehr", das ist eins meiner Lieblingsbücher. Darin unterhalten sich zwei nette ältere Herren, bei denen es mit der Sexualität immer schwieriger wird und die sich, je weniger es funktioniert, immer jüngere Mädchen nehmen, weil sie von den erwachsenen Frauen nur noch ausgelacht werden. Da sagt der eine: Ich weiß nicht, was mit den Mädchen los ist, ihre Löcher werden immer größer. Darauf sagt der andere: Du irrst dich...

Den kenne ich schon.

SIMMEL: ... unsere Schwänze werden immer kleiner.

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Erschienen 1983 in der Januar-Ausgabe des „Playboy“