Interview mit Ingrid Caven



In Paris feiert man dich* als neue Piaf und zweite Marlene Dietrich.**

INGRID CAVEN: Ja und in Berlin als Lilian Harvey.

Ist das nicht blöd, wenn einem, bevor man noch richtig da ist, schon solche Etiketten aufgeklebt werden?

CAVEN: Ich bin ja selbst schuld dran. Ich provoziere das ja. Ich spiel' unheimlich gern andere Leute. Schon als Kind hab' ich Rollen gespielt, um Aufmerksamkeit zu erregen. Das war meine Art, mich bemerkbar zu machen: als Rumpelstilzchen oder Fee oder Prinzessin. Ich hatte immer das Gefühl, mir hört keiner zu, da hab' ich dann so fremde Sätze genommen aus Märchen oder hab' Klavier gespielt oder gesungen. Meine Schwester*** und ich, wir haben unser Zimmer verdunkelt und zu den Platten der Callas gesungen... Was heißt gesungen! Geschrien haben wir, daß die Scheiben klirrten.

Wie haben denn deine Eltern das aufgenommen?

CAVEN: Ich bin schon damals als hochbegabtes Kind eingestuft worden.

Nicht als Verrückte?

CAVEN: Doch, etwas verrückt schon. Aber das wurde akzeptiert, denn irgendwie hat da ja auch eine Leistung dahintergestanden. Das war ja was Interessantes. Ich komme aus einer Familie, wo schon immer Musik gemacht wurde, das war ganz normal. Mein Vater war Zigarrenvertreter. An den Wochenenden und Feiertagen kam die Verwandtschaft, da wurde zum Tanz aufgespielt, und zwischendurch bin ich aufgetreten. Ich war immer so komisch. Die haben dann immer über mich lachen können, das gefiel mir. Manchmal hat es mich auch wütend gemacht.

Wütend, wieso?

CAVEN: Weil das ja alles nicht ich war. Es waren ja immer die Rollen, denen man applaudiert hat. Ich hab' das doch nur gemacht, weil ich dachte, wenn ich nur ich bin, dann liebt mich keiner.

Als Notlösung?

CAVEN: Ja, aber ich muß auch sagen, daß ich es nachträglich als etwas ganz Tolles empfinde, diese Notlösung immerhin gefunden zu haben, weil das doch etwas mit meiner Phantasie, also auch mit mir zu tun hatte. Das war ja was sehr Kreatives. Ich sehe das heute als großes Glück an, daß ich diese Möglichkeit hatte.

Vor deiner Karriere als Sängerin warst du Schauspielerin, hauptsächlich in Fassbinder-Filmen, zwei Jahre auch seine Frau...

CAVEN: Müssen wir darüber reden?

Müssen nicht, aber es war doch ein wichtiges Kapitel in deinem Leben.

CAVEN: Ja, es war wichtig, weil ich da aus nächster Nähe jemanden sehen konnte, der absolut seine eigene Struktur, seine eigenen Möglichkeiten gelebt hat, was auch zu Brutalitäten geführt hat anderen gegenüber. Aber die anderen haben das ja auch wollen. Die wären ja traurig gewesen, wenn er sie nicht gehauen hätte.

Du meinst die Schauspieler, die er entdeckt und mit denen er viele seiner Filme gemacht hat?

CAVEN: Ja, Irm Hermann, Margit Carstensen, Hanna Schygulla... Auch ich hatte damals diese masochistische Seite, aber ich hab' mich immer wieder am eigenen Schopf herausziehen können. Mir hat es gut getan zu erleben, wie weit das bei mir gehen kann, diese Sucht, sich selbst aufzugeben. Das hat mich herausgefordert, weil es ja sehr verführerisch ist, sich jemandem mit Haut und Haar auszuliefern und als Gegenleistung, ich muß es leider so sagen, versorgt zu werden.

Ein typisches Frauenschicksal: Man verkauft seine Freiheit und wird dafür materiell abgesichert.

CAVEN: Das will ich nicht sagen. Wieso ist der Mann, der es nötig hat, seinen Schwanz zur Peitsche zu machen, mehr frei als die Frau, die Lust dabei empfindet, sich damit auf den Kopf hauen zu lassen? Ich bezweifle diese große Freiheit der Macher. Ich hab' gesehen, wie einsam die sind und wie verhärtet. Im Grunde sind die doch froh, wenn jemand kommt, der sich nicht ihrem System unterordnet.

Da möchte ich dir einmal vorlesen, was Fassbinder in einem Interview über dich gesagt hat: »Mit der Ingrid ist es halt schwierig, weil sie so unheimlich viel Persönliches reintut, so daß dann arbeitsmäßig so unheimlich wenig herauskommt. Es kommen halt immer wieder nur Konflikte heraus und keine Figuren... «

CAVEN: Haha, das ist aber nett.

» ... Es hat ihr halt nicht genügt, mit mir verheiratet zu sein, sondern sie wollte als Schauspielerin denselben Stellenwert haben, den meinetwegen Hanna Schygulla oder Margit Carstensen haben, aber den kann sie natürlich nicht haben... «

CAVEN: Nicht denselben, einen anderen wollte ich haben, sonst wär's ja gegangen. Ich hab' in den Filmen vom Rainer immer versucht, ein bißchen kontrapunktisch zu wirken. Meine Rollen waren nie die Opferlämmer und die Hysterikerinnen, sondern Frauen, die ziemlich stur blieben in dem, was sie waren, und so eine Art passiven Widerstand ausgestrahlt haben.

Meist waren es Nutten.

CAVEN: Ja, aber im weitesten Sinne, also eigentlich war das schon die Rolle, die ich in meinem Leben auch heute noch spiele. Sich auf die Bühne stellen, um den Leuten was vorzumachen, das hat ja auch mit Prostitution was zu tun.

Auf deiner eben herausgekommenen Langspielplatte »Der Abendstern« singst du fast ausschließlich Texte von Hans Magnus Enzensberger. Wie ist es zu dieser Verbindung gekommen?

CAVEN: Das war verrückt. Er schrieb mir, daß ihn meine erste Platte so angetörnt hätte, und schickte gleich Texte mit. Ich war zuerst etwas erschrocken und hab' sie nicht angeguckt, erst nach drei Tagen, dann wieder weggelegt, wieder angeguckt und gedacht, verdammt, wie unverschämt, weil da Sachen drinstanden, die mich gefühlsmäßig sehr stark betrafen, obwohl wir uns gar nicht kannten. Das erste, was mir einfiel, war Hitchcock. Da standen lauter so kleine Unheimlichkeiten. Man weiß nie, was wirklich vor sich geht, irgendwie wird da immer gemordet, aber wer ist der Mörder? Mich hat gereizt, daß man diese Texte ganz verschieden interpretieren konnte, daß da keine festen Antworten waren, denn das hat ja mit unserer Situation heute zu tun: Man kann keine Rezepte mehr geben, sondern höchstens die Leute dazu bringen, sich selbst etwas auszudenken.

So wie du das als Kind gemacht hast.

CAVEN: Ja. Ich bin in einem Haus aufgewachsen, da hatten wir die Schornsteine des Industrieviertels direkt gegenüber, aber ich hab' mich sehr früh geweigert, das so zu sehen. Ich hab' mir diese Schlote immer als Bäume gedacht mit Himmel darüber, so daß alles sehr schön war. Ich glaub', meine früheste Leidenserfahrung war die, daß alles gar nicht so schön war, wie ich es wollte. Da hab' ich mir den Dreck einfach weggeträumt. Ich bin ja damals auch stark katholisch gewesen, weil das so schön war, die laute Musik in der Kirche, da dampfte der Weihrauch, und die Roben der Meßdiener glänzten, das war für mich großes Theater. Da hab' ich mich unheimlich hineinsteigern können, in diesen morbiden Genuß an der Schönheit.

Wie hat Enzensberger reagiert, als er hörte, wie du seine Texte singst?

CAVEN: Er hat gesagt: Sie machen ja alles gegen den Strich.

Vielleicht war es ihm etwas zu künstlich.

CAVEN: Kann sein, aber das stört mich nicht. Ich kann ja diese Texte nicht einfach so runterdudeln. Ich möchte schon, daß man merkt, daß das, was da oben auf der Bühne steht, eine Kunstfigur ist, die Schönheit verkörpert, den Traum von Schönheit. Ich hab' einfach nicht das Recht, so zu tun, als wüßte ich nicht, wie man schöne Sachen herstellt. Was ist schon künstlich? Und was natürlich? Ich fände es einen Witz, wenn ich mich da in demselben Kleid hinstellen würde, das ich zum Frühstück anhabe. Das macht ja nicht einmal eine Blume. Die sieht auch am Abend ganz anders aus als am Morgen. Kunst hat immer etwas mit Stilisierung und mit Ästhetik zu tun, denn es ist ja eine geformte Sache. Das ist schon alles gehoben in eine Unwirklichkeit.

Sigmund Freud definiert die Kunst als ein Rauschmittel, das der Mensch nötig hat, um die Welt, so wie sie ist, auszuhalten.

CAVEN: So kann man es sagen.

Das bedeutet, die Kunst ändert nichts, sie ist nur dazu da, das Leiden zu lindern.

CAVEN: Ja, leider, nur das. Das fängt ja schon damit an, daß man die Tatsache, sterben zu müssen, niemals wird ändern können. Ich akzeptiere das überhaupt nicht, ich finde es furchtbar, grauenvoll, ordinär. Aber die Kraft zu haben, sich das täglich vor Augen zu halten und trotzdem zu leben und aus dem Leben was Schönes zu machen, das ist doch ein Zeichen von Vitalität. Ich denke, daß jeder, der das einmal hineinkriegt ins Fleisch und Blut, daß er nur einmal lebt und nie wieder, ein ganz anderes Zeitgefühl hat, auch ein anderes Gefühl für das, was er tut, eine ganz andere Art von Zärtlichkeit anderen Menschen und auch sich selbst gegenüber. Denn das ist ja ein sehr lebensbejahender Standpunkt, weil man dann nicht mehr die Chance hat zu sagen, ich hab' ja noch ein zweites oder drittes oder viertes Leben. Was mich so stört an der deutschen Wohlstandsgesellschaft, ist, daß es hier, obwohl wir jetzt diesen Luxus haben, so unlustig wurde. Da schäm' ich mich manchmal, daß wir bei all unseren Möglichkeiten im Vergleich zu anderen Völkern, die arm sind, so wenig das Leben genießen. Wieso ist unter ärmeren Leuten der direkte, spontane Kontakt oft viel stärker, physischer... ich möchte das dumme Wort bewußt hier gebrauchen: viel herzlicher als bei uns? Wieso? Kannst du mir das sagen?

Ja, weil diese Leute gar nicht so viel Platz haben, um ihre Einsamkeit ausleben zu können. Denen bleibt ja gar nichts anderes übrig, als miteinander Kontakt zu haben. Der Luxus ermöglicht es einem doch überhaupt erst, sich abzusondern und über den Tod zu philosophieren, wie wir das hier tun. Ein Slumbewohner in Kalkutta, der von früh bis spät damit beschäftigt ist, nicht zu verhungern, kann sich solche Gedanken doch gar nicht leisten, weil er dafür weder den Raum noch die Zeit hat. Der würde wahrscheinlich auch mit deinen Liedern nichts anfangen können.

CAVEN: Dort würde ich das auch gar nicht singen. Da würde ich mich ja schämen, bei diesen armen Leuten mit meiner elitären Kunst anzukommen. Die brauchen mich gar nicht, weil die, das klingt vielleicht jetzt pervers, sowieso schon vital genug sind.

Bei deinem Fernsehauftritt in »Bio's Bahnhof«**** hast du deine Lieder als Schlager bezeichnet.

CAVEN: Dabei bleibe ich auch. Ich möchte, daß die Leute mitsingen und schunkeln zu meinen Liedern.

Das halte ich für illusionär, weil ja schon die Musik von Peer Raben das gar nicht zuläßt. Da könnte man jetzt wieder das leidige Thema anschneiden: Was ist der Unterschied zwischen ernster und Unterhaltungsmusik?

CAVEN: Eine Wurst schneidet man an, nicht ein Thema.

Also gut, eine andere Frage: Möchtest du Kinder haben?

CAVEN: Ja, immer noch. Erst neulich habe ich wieder überlegt, ob ich es nicht vielleicht doch noch schaffe, trotz meines Alters rasch noch zwei Kinder zu kriegen.

Hast du den geeigneten Mann dafür schon gefunden?

CAVEN: Dazu kann ich mich im Moment nicht äußern. Mit dem Kopf weiß ich ja, daß es Quatsch ist, aber im Bauch bleibt die Sehnsucht. Ich bin ja von der Veranlagung her eine ganz sentimentale Tante mit all den kitschigen Träumen von ewiger Liebe und Unterwerfung und Glück der Familie. Ich könnte ganz leicht wegschwimmen in diesen Gefühlen.

In einem Pariser Interview hast du gesagt: »Ich bin ein Kind, das schreit und weint, weil es alles besitzen und die ganze Welt aufessen will.«

CAVEN: Ja, bin ich auch. Ich hab' sehr lange gebraucht, um erwachsen zu werden. Ich wollte, daß man mich akzeptiert, egal wie eklig und blöde und störend und faul und nichtsnutzig ich bin. Ich wollte immer das Baby bleiben. Aber das geht nicht, weil das keiner lang aushält. Entweder man bekommt das irgendwann in den Griff, oder man geht halt zugrunde, und das wollte ich offenbar nicht, sonst würde ich ja jetzt nicht hier sitzen.

Hat der Erfolg einen Teil deiner Sehnsüchte befriedigt?

CAVEN: Ach was, der Erfolg ändert gar nichts. Die Probleme bleiben dieselben, die Depressionen, die jahrhundertealten Gedanken, daß im Grunde alles ganz sinnlos und dumm ist. Da sitze ich dann allein in meiner Pariser Wohnung und denke, du lieber Gott, jetzt ist alles so wunderbar, du bist schön, hast Erfolg, wirst geliebt, kannst singen, bist dies und bist das, wieso ist es denn doch nicht so wunderbar? Wieso hab' ich denn auf einmal keine Lust zu irgend etwas? Und dann wird mir das alles zu blöd, und ich versuche einen zu heben, und dann wird es irgendwie schöner, und dann heb' ich noch einen und rauche ein bißchen und schluck' eine Tablette und dann noch eine, und dann find' ich es auf einmal ganz doof, auf dem Sofa zu sitzen, und dann leg' ich mich auf den Boden...

Und dann?

CAVEN: Dann klingelt es an der Tür, und irgendein Besuch kommt. Ich mach' das schon immer so, daß man mich findet.

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*) Mit Ingrid Caven (eigentlich Schmidt) bin ich befreundet. Als sich uns während des Interviews die Eltern der Sängerin zugesellten, entwickelte sich das Gespräch vollends zur Privatunterhaltung. Die Mutter erzählte, schon von früh auf sei ihre Tochter außergewöhnlich herrschsüchtig gewesen. Den Vater habe sie buchstäblich "niedergeknebelt". Eine besonders häufig angewandte Methode, sich durchzusetzen, sei es gewesen, Ohnmachtsanfälle zu simulieren. Die Wurzel für diesen Eigensinn, der sich später in künstlerischen Ehrgeiz verwandelt habe, liege wahrscheinlich in der Tatsache, daß "Ingrid eigentlich gar nicht hätte zur Welt kommen sollen". Ärzte und Bekannte hatten der durch eine Fehlgeburt geschwächten Mutter geraten, abtreiben zu lassen. Sozusagen aus Trotz habe sie das Kind aber nun erst recht haben wollen.

**) Ihr Pariser Debüt als Sängerin hatte Ingrid Caven 1978 in dem ehemaligen Stripteaselokal »Le Pigall's«.

*** die Sopranistin Trudeliese Schmidt,  2004 verstorben

**** Fernsehunterhaltungssendung mit Alfred Biolek


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Erschienen (unter Verwendung der Anrede mit „Sie“) am 11. Januar 1980 in der ZEIT