Muhammad Ali schreibt in seinen »Erinnerungen«: »Wenn man mit einer gebrochenen
Kinnlade, einer zermanschten Nase, einem Schädelbruch, einem entstellten Gesicht
für einen Sieg zahlen muß, dann ist dieser Preis nicht zu hoch, will man der
König der Boxer werden.«
HENRY MASKE: Ich würde nicht diese Worte wählen.
Aber inhaltlich stimmen Sie zu?
MASKE: Natürlich darf ich vor einem Kampf nicht daran denken, was mir passieren
könnte.
Sie haben keine zermanschte Nase und kein entstelltes Gesicht. Nach dem Kampf,
durch den Sie Weltmeister wurden*, sind Sie in der Garderobe gleich zum Spiegel
gegangen, um zu sehen, wie zerstört Sie sind.
MASKE: Ja, im nachhinein kann das schon ein Gedanke sein. Ich wäre nicht gerade
begeistert, eine Narbe davonzutragen. Ich bin, das streite ich gar nicht ab,
auch ein eitler Mensch.
Warum haben Sie sich dann ausgerechnet einen Beruf gesucht, bei dem es das Ziel
ist, auf den Kopf eines anderen einzuprügeln?
MASKE: Für mich ist der Kopf nicht das Ziel, sondern der Ursprung.
Heißt das, Sie halten das Boxen für eine geistige Auseinandersetzung?
MASKE: Ja, was haben denn Sie gedacht?
Ich dachte, es kommt mehr auf die Fäuste an.
MASKE: Die Fäuste sind meine Waffen, aber wie ich sie einsetze, das wird im
Kopf entwickelt. Ich sehe mir die früheren Kämpfe des Gegners auf Video an,
ich studiere ihn vor dem Kampf und vor allem während der ersten Runden. Ich
will ihn kennenlernen, nicht damit ich meine Fäuste, sondern mein Denken auf
ihn einstellen kann.
Zu vieles Denken kann auch zur Lähmung führen.
MASKE: Das ist wahr. Aber ich denke ja nicht vor jedem Schlag nach. Ich muß
alle Abläufe, die im Wettkampf eintreten können, zuvor so oft eingeübt haben,
daß mich im Ring nichts überraschen kann. Ich muß für alle Eventualitäten gewappnet
sein. Im Ring reagiere ich unbewußt. Das geht aber nur, weil ich alle nur möglichen
Züge des Gegners in meinem Unterbewußtsein gespeichert habe. Boxen ist nicht
einfach nur dicke Arme, ein bissel Kondition und los. Das ist ein unheimlich
komplexer Sport. Wer das nicht erkennt, der hat wenig begriffen.
Jas Publikum kommt, weil es Blut sehen will.
MASKE: Das ist schon mal falsch.
Der Maler Jörg Immendorff, der jeden Ihrer Kämpfe besucht, rief Ihnen während
Ihrer Titelverteidigung gegen den Amerikaner David Vedder zu: »Töte ihn!«
MASKE: Sicher gibt es Leute, die sich so artikulieren. Die sind in ihrer Vorstellung
begrenzt. Aber es gibt auch die Genießer, die Ruhigen, die Sachlichen. Die hört
man nicht. Es kommen auch zu einem Autorennen Zuschauer, die nur darauf scharf
sind, daß ein Unfall passiert.
Der Unterschied ist, daß Sinn und Zweck von Autorennen nicht die Unfälle sind,
während es im Wesen des Boxens liegt, daß man den Gegner verletzen will.
MASKE: Das Wesen des Boxens, so wie ich es betreibe, liegt darin, daß ich den
Gegner dazu bringe, sich mit mir zu beschäftigen. Ich locke seine Schwächen
heraus, damit er sich mit meinen Stärken befassen muß. Ich zwinge ihm meinen
Willen auf. Sie können das mit einem Schachspiel vergleichen.
Eine Schachpartie ist nicht mit physischem Schmerz verbunden.
MASKE: Nein, aber Sie müssen beim Boxen wie beim Schach Taktik und Strategie
entwickeln. Es gibt zum Beispiel im Boxsport die Finte. Ich deute einen Schlag
an und sehe zu, wie der Gegner darauf reagiert. Seine Reaktion ermöglicht mir
vielleicht einen Treffer, mit dem er gar nicht gerechnet hat.
Sie täuschen ihn.
MASKE: Ja, eigentlich lüge ich. Das muß auch ein Feldherr tun. Er stellt dreißig
Mann vorne auf, damit der Feind meint, dies sei die Hauptfront, und auf einmal
kommt er von hinten. Es genügt nicht, den Revolver zu ziehen und aus allen Lagen
zu schießen. Ich rede jetzt nicht von der Masse der Boxer, ich rede nicht von
Müller, Meier, Schulze, sondern von Muhammad Ali, im Tennis von Boris Becker.
Ich rede vom Spitzenbereich.
Boris Becker hat inzwischen eine gewisse Distanz gewonnen. Es gelingt ihm nicht
mehr, den Sinn des Lebens darin zu sehen, einen gelben Ball über ein Netz zu
schlagen.
MASKE: Eine Distanz zu dem, was er tut, kann sich ein Boxer nicht leisten, denn
er wird, wenn er nicht voll bei der Sache ist, furchtbar bestraft.
Sie meinen, von der Öffentlichkeit.
MASKE: Nein, körperlich, von seinem Gegner, im Ring.
Er wird niedergeschlagen.
MASKE: Ja, und die Schläge tun dann sehr weh. Boxen kann für einen, der es nicht
kann, sehr gefährlich sein, aber nicht, weil Blut spritzt. Das sieht zwar gefährlich
aus und ist auch nicht schön, das gebe ich zu, aber meist sind die Verletzungen,
die bluten, nur oberflächlich. Das wird genäht, und fünf Tage später ist es
verheilt, so als wäre gar nichts passiert.
Für Sieg oder Niederlage kann eine blutende Wunde entscheidend sein, weil dem
Verletzten der technische Knockout droht.
MASKE: Das ist richtig.
Daraus ergibt sich, daß Sie auf die Wunden Ihrer Gegner einschlagen müssen,
um Ihre Chance zu nutzen.
MASKE: Ja, das sind natürlich Situationen, wo ich mir sage, es gibt eine Möglichkeit,
weil der Gegner abgelenkt ist durch die Verletzung. Daraus werde ich meinen
Vorteil ziehen. Da will ich ganz ehrlich sein. Aber ich breche nicht in Jubelschrei
aus, nur weil der andere zu bluten beginnt.
Dürfen Sie während des Kampfes Ihre Gefühle zeigen?
MASKE: Nein, das darf ich nicht. Das wäre das Falscheste, was ich machen kann,
denn ich will mir vor meinem Gegenüber doch keine Blöße geben. Ich werde ihm,
wenn er mir Schmerz zufügt, nicht zeigen, au, das tut weh, sondern ich werde
das überbrücken, ich werde so tun, als wäre nichts. Ich werde lächeln.
Fällt Ihnen das schwer?
MASKE: Das fällt mir schon schwer, denn ich bin eigentlich ein sei gefühlvoller
Mensch. Aber ich würde mich ja auch nicht auf den Markplatz stellen und meine
Gefühle zeigen, denn das wird mit Sicherheit als eine Schwäche gedeutet. Ich
habe gelernt, mich zu beherrschen. Es wartet doch nur jeder darauf bei dem anderen
eine Schwäche zu finden. Wer Gefühle zeigt, ist immer der Unterlegene. Es gibt
sehr wenige, die dann sagen, okay, Junge, Kopf hoch, das Leben geht weiter.
Die meisten nützen das aus, um dir zu schaden. So ist die Welt.
Schlimm.
MASKE: Ja, aber nicht zu ändern. Wenn man anfängt, über die schlimme Welt nachzudenken,
kann man leicht ängstlich werden.
Das dürfen Sie nicht riskieren.
MASKE: Nein, denn ich habe mir eine Aufgabe gestellt, die meine hundertprozentigen
Einsatz fordert. Es gibt Dinge, die ich nur oberflächlich betrachten kann. Es
gibt Gedanken, die ich wegschieben muß. Die Welt ist heute so kompliziert geworden,
politisch, gesellschaftlich. Die Natur ist bedroht. Da kommt der Punkt, wo ich
nur hoffen kann, daß sich andere um diese Probleme kümmern. Glücklicherweise
gibt es die Grünen. Die sind einem nicht immer angenehm, aber sie haben doch
manches bewegen können.
So haben Sie bis vor vier Jahren nicht gedacht.
MASKE: Nein.
Sie sind in der DDR aufgewachsen.** Sie waren Mitglied der SED und Leutnant
der Nationalen Volksarmee.
MASKE: Ja, aber ich muß Ihnen sagen, eine Waffe habe ich nie in der Hand gehabt.
Wie konnten Sie das vermeiden?
MASKE: Ich hatte das Glück, nach meiner Einberufung zu einem Boxturnier fahren
zu müssen. So ist mir die Grundausbildung erspart geblieben.
Sie können nicht schießen?
MASKE: Nur auf dem Rummel.
Warum sind Sie in die SED eingetreten?
MASKE: Das habe ich ganz bewußt getan, weil ich die Hoffnung hatte, etwas bewirken
zu können, wenn ich in der Partei eine Rolle spiele.
Politisch?
MASKE: Nein, aber in dem Bereich, in dem ich mich bewege, im Sport. Es gab in
unserem Team Mitläufer, die nach dem Motto, gemeinsam gewinnen, allein verlieren,
nur davon lebten, was andere taten. Das hat mich gestört. Aber ich habe mir
sehr schnell den Zahn ziehen lassen, weil ich merkte, daß ich nichts ändern
kann.
Wie standen Sie zu dem, was die Partei politisch verkündet hat?
MASKE: Ich sage ganz ehrlich, ich habe vieles, was uns ideologisch vermittelt
wurde, als Gedanke sehr gut gefunden. Dazu stehe ich heute noch. Auch die Kirche
predigt ganz tolle Sachen. Aber die Wirklichkeit ist nicht so.
Die Kirche verspricht das Paradies erst im Jenseits. Der Kommunismus hat den
Himmel auf Erden versprochen. '
MASKE: Daran habe ich nie geglaubt, denn ich habe doch in meiner nächsten Umfeld,
bei den Menschen, mit denen ich Umgang hatte, gesehen, daß das nicht funktionieren
kann. Das Ideal war, daß jemand in einen Laden geht und sich nur so viel nimmt,
wie er braucht. Keiner sollte mehr als der Nachbar haben. Aber der Mensch ist
doch so, daß er den andere übertreffen will. Das muß man gar nicht negativ sehen.
Der Mensch ist strebsam. Er will in einem gesunden Machtkampf der Bessere sein.
Das haben Sie von sich aus erkannt.
MASKE: Ja, aber ich habe darüber nicht weiter nachgedacht. Ich habe es verdrängt.
Uns wurde gelehrt, daß der Kapitalismus irgendwann untergeht, und zwar notgedrungen.
Das wurde als gesetzmäßig dargestellt. Hätte ich das bezweifelt, wäre ich in
einen Zwiespalt gefallen, denn ich mußte doch in diesem Staat weiterleben.
Es war ja nicht alles schlecht. Man hat zum Beispiel in der DDR angstfreier
gelebt. Man konnte dem Chef des Betriebes, in dem man beschäftigt war, sagen,
weißt du, du kannst mich mal, und wurde trotzdem nicht rausgeschmissen. Warum?
Weil es ein Arbeitsrecht gab. Man konnte sich zwar nicht auf die Straße stellen
und sagen, mit gefällt der Honecker nicht. Aber im persönlichen Bereich konnte
man offen reden. Heute können Sie sich hinstellen und sagen, der Kohl ist ein
Arschloch. Es tut Ihnen keiner was. Aber haben Sie dadurch etwas bewirkt? Dort,
wo Sie täglich zu tun haben, an Ihrem Arbeitsplatz, müssen Sie doch die Klappe
halten.
Was ist für Sie Freiheit?
MASKE: Freiheit gibt es nicht. Demokratie heißt zwar Freiheit. Aber sind wir
jetzt frei? In den Läden liegen die tollsten Sachen, aber was nützt Ihnen das,
wenn Sie das Geld nicht haben, um sie zu kaufen? Ich habe einmal in Finnland
in einem sehr teuren Hotel gewohnt, aber vor diesem Hotel schlief ein Penner.
Der hatte sich auf die Kloritze gelegt, damit er etwas Wärme bekam.
Freiheit ist auch die Freiheit zum Scheitern.
MASKE: Schön und gut, aber was hilft dem Normalverbraucher, der Probleme hat,
so ein Spruch? Man macht es sich leicht, wenn man sagt, die Leute im Osten sind
alle blöd, weil sie nicht begreifen, was Marktwirtschaft ist. Siebzehn Millionen
können nicht lauter Blöde sein. Die sind in dem Glauben erzogen worden, daß
der Staat für sie sorgt. Das war ihre Realität. Das war ihr Leben. Mir kann
doch keiner erzählen, daß auch nur ein einziger von den sechzig Millionen aus
den alten Bundesländern es heute besser wüßte, hätte er davor all die Jahre
im Osten gelebt.
In einem früheren Interview· sagten Sie: »Ich bin ein Typ, der zeigt, was der
Osten kann.«
MASKE: Das habe ich bestimmt nicht gesagt.
Ist es falsch?
MASKE: Es ist nicht unbedingt falsch. Es hat sich so ergeben, daß die Menschen
im Osten in mir ein Vorbild sehen. Ich bin ein Hoffnungsträger. Auf der einen
Seite macht mich das stolz, auf der anderen Seite empfinde ich es als Belastung,
weil es eine Riesenverantwortung ist.
Ein anderer Satz, der Ihnen zugeschrieben wird, lautet: »Ich bin eine Mixtur
aus preußischem Sozialismus und Kleinbürgertum, mit einem Schlag Kapitalismus
gespickt.«
MASKE: Auch dieser Satz stammt nicht von mir. Er geistert seit einiger Zeit
durch die Presse. Wer ihn kreiert hat, weiß ich bis heute nicht. Aber vielleicht
stimmt er sogar. Man müßte mir nur erläutern, was er bedeuten soll.
Mit Kleinbürgertum ist Ihre Herkunft gemeint.
MASKE: Ja, aber das stimmt schon mal nicht. Mein Vater war Kranschlosser, meine
Mutter war in der Lohnbuchhaltung. Ich bin ein Arbeiterkind.
Preußisch wird landläufig ein geradliniger, ordnungsliebender Mensch genannt.
MASKE: Das ist doch gut.
Als Sozialist könnte man Sie bezeichnen, weil Sie sozialistische Ideale hatten.
MASKE: Ja, die waren doch sicher nicht schlecht. I
Bleibt noch der »Schlag Kapitalismus« übrig.
MASKE: Auch damit habe ich keine Probleme, wenn man darunter die Fähigkeit,
sich durchzusetzen, versteht.
Sie haben früh begriffen, daß das Leben ein Konkurrenzkampf ist.
MASKE: Ja, aber warum? Weil der Sport das einzige war, wo es schon In der DDR
eine knallharte Marktwirtschaft gab. Da hieß es nicht, dabeisein ist alles,
sondern wer keine Medaille nach Hause brachte, der wurde beim nächsten Mal nicht
mehr aufgestellt.
Wann haben Sie mit dem Boxen angefangen?
MASKE: Als ich sechs Jahre alt war. Ein Junge aus meiner Klasse hatte mich zu
einem Boxtraining mitgenommen. Mir hat dieser Sport gleich gefallen, vielleicht
weil das etwas war, was nicht jeder machte. Die anderen spielten Fußball. Boxen
war etwas Besonderes.
Das genügt nicht als Erklärung.
MASKE: Einen anderen Grund weiß ich nicht.
Die amerikanische Schriftstellerin Joyce Carol Oates schreibt in ihrem Essay
»Über Boxen«, das eigentliche Motiv für die im Boxring ausgelebte Gewalt sei
eine von ihrem ursprünglichen Ziel umgeleitete Wut auf das Unrecht, das in der
Welt geschieht.
MASKE: Wut ist ein schlechter Berater, weil man die Kontrolle verliert. Gewinnen
können Sie nur, wenn Sie sich unter Kontrolle haben.
Kann es sein, daß Sie, um das zu lernen, Boxer geworden sind?
MASKE: Das kann sein, denn ich bin von Natur ein spontaner Typ, und ich habe
unter den Folgen meiner Spontaneität schon als Kind gelitten.
Inwiefern?
MASKE: Ich war leicht zu verletzen.
Wer hat Sie verletzt?
MASKE: Ich wurde zum Beispiel wegen meines Namens gehänselt.
Ihres Nachnamens?
MASKE: Ja, denn das war kein normaler Name. Damals habe ich begonnen, einen
Schutzschild um mich herum aufzubauen. Ich habe alles Weiche in mir unterdrückt.
Ich bin vom Zehn-Meter-Brett gesprungen, obwohl ich Angst davor hatte. Ich bin
eigentlich ein sehr ängstlicher Mensch.
Sie haben sich Gewalt angetan.
MASKE: Ich habe mich überwunden. Wer A sagt, der muß auch B sagen. So ist mein
Charakter. Ich stelle mir eine Aufgabe, und dann versuche ich, ihr gerecht zu
werden, auch wenn ich das zuvor gar nicht wollte.
Ein Zurück gibt es nicht.
MASKE: Nein.
Haben Sie sich als Knabe gefallen, wenn Sie sich im Spiegel betrachteten?
MASKE: Ich war zufrieden.
Sie haben, wenn Sie lächeln, sehr sanfte, fast feminine Züge.
MASKE: Das glaube ich nicht.
Ich überlege, ob Sie vielleicht Ihre Weiblichkeit unterdrücken wollten.
MASKE: Einen Hang zu Männern hatte ich nie.
Ich meine Ihre weiblichen Eigenschaften.
MASKE: Es ist für einen Mann doch nicht schlecht, wenn er Eigenschaften hat,
die man sonst eher bei Frauen findet.
Hemingway, der ein großer Boxfan war, wurde als Kind wie ein Mädchen gekleidet.
Man nimmt an, dies sei der Grund, weshalb er sich später so betont männlich
gab.
MASKE: Hat Hemingway selbst geboxt?
Nur zum Spaß.
MASKE: Sehen Sie, das ist der Unterschied. Ich lebe meinen Sport. Das bedeutet,
daß ich ihn zwar mit ganzem Herzen, aber sachlich betreiben muß.
Ohne einen gewissen Fanatismus können Sie nicht zur Spitze kommen.
MASKE: Kann eine Frau nicht fanatisch sein?
Das ist die Frage.
MASKE: Es gibt im Sport doch genügend Frauen, die in der Lage sind, Spitzenergebnisse
anzubieten. Mir ist klar, daß Frauen es in der Gesellschaft schwerer haben,
sich durchzusetzen. Aber ich hatte es auch nicht leicht. Dem Amateur Henry Maske,
der aus dem Osten kam, hat doch zuerst keiner zugetraut, daß er sich als Profi,
noch dazu international, würde beweisen können. Mir ging es wie einer Frau.
Aber ich habe mich nicht hingestellt und gejammert, sondern ich habe versucht,
durch Leistung zu überzeugen. Frauen, die emanzipiert sein wollen sollten, statt
zu reden, zeigen, wozu sie fähig sind.
Das tun doch viele.
MASKE: Ja, sicher.
Jetzt gibt es sogar schon Boxerinnen.
MASKE: Ist doch in Ordnung.
Gefällt es Ihnen, wenn Frauen boxen?
MASKE: Darum geht es nicht.
Können Sie sich einen Mike Tyson als Frau vorstellen?
MASKE: Nein, aber das möchte ich gar nicht, weil ich diese Art zu boxen sehr
unschön finde, Da wird nur blind auf den anderen eingeschlagen, und nach zwei,
drei Runden ist Schluß.
Das amerikanische Publikum will das offenbar sehen. Die Hallen sind voll.
MASKE: Ja, die Hallen sind voll, aber warum ist das so? Weil der Amerikaner
leider sehr oberflächlich geworden ist. Der lebt diese Brutalität auch im Alltag,
und das wird durch die Medien noch unterstützt. Sie müssen sich nur ansehen,
wieviel Gewalt das amerikanische Fernsehen zeigt. Aber es gibt ja nicht nur
Mike Tyson, es gibt Sugar Ray Leonard, es gibt Marvin Hagler, es gibt Roberto
Duran.
Marvin Hagler sagte in einem Interview, wenn er Blut sieht, wird er zum Stier.
MASKE: Trotzdem war das ein Superboxer.
Roberto Duran ist vor allem für seine Nehmerqualitäten berühmt.
MASKE: Ja, das gehört doch dazu. Ein Boxer muß, wenn er gewinnen will, auch
einstecken können.
Der frühere Weltmeister im Mittelgewicht Jake LaMotta, der glaubte, jemanden
getötet zu haben, empfand Schläge, die er im Ring bekam, als eine gerechte Strafe.
Als er erfuhr, daß er kein Mörder war, begann sein Abstieg.
MASKE: Was hat das mit diesem Gespräch zu tun?
Es gibt die These, der Faustkampf sei eine Art Selbstbestrafung, Der Boxer sühne
im Ring eine verborgene Schuld.
MASKE: Das trifft nicht auf mich zu.
Warum setzen Sie sich freiwillig Schmerzen aus, denen jeder normale Mensch versucht
auszuweichen?
MASKE: Sie meinen, im Training?
Ich meine, im Kampf
MASKE: Die Treffer, die Sie im Kampf bekommen, sind meist eher schmerzlos. Ein
blaues Auge tut nicht groß weh. Es gibt einen Schmerz, der schlimmer ist als
der körperliche. Ich meine, wenn Sie verlieren, das ist doch Schmerz ohne Ende.
Eine Niederlage im Boxsport ist wie eine Steinigung.
Denken Sie vor dem Kampf daran, daß Sie verlieren könnten?
MASKE: Ich denke daran, aber ich sage mir, daß ich es mit allen Mitteln verhindern
muß.
Trotzdem kann es passieren.
MASKE: Es darf nicht passieren, denn ich weiß doch, daß die gesamte Presse schon
in den Startlöchern sitzt und nur darauf wartet, daß der Maske geschlagen wird,
weil er ihr zu aalglatt, zu clean und zu anständig ist.
Zu langweilig.
MASKE: Ja, aber das ist doch Quatsch. Die 13 000 Zuschauer, die zu meinen Kämpfen
in die Westfalenhalle nach Dortmund kommen, tun das doch nicht, weil sie sich
langweilen wollen.
Ihr Kollege René Weller hat Sie einen Baldrian-Boxer genannt.
MASKE: Solchen Leuten kann man das Maul nur durch Leistung stopfen.
MASKE: Der Berliner Graziano Rocchigiani, der in Ihrer Gewichtsklasse auch schon
Weltmeister war, hat, wenn Sie kämpfen, Schwierigkeiten, sich wach zu halten.
MASKE: Wissen Sie, wenn sich jemand auf so primitive Art äußern muß, um noch
einen Kampf zu bekommen und etwas Geld zu verdienen, dann muß er das mit sich
selbst ausmachen. Ich finde es grauenvoll. In keiner anderen Sportart geht man
so tief unter die Gürtellinie. Im Boxsport erwartet man, daß es einen Guten
und einen Bösen gibt, und der Böse muß sich dann mit verbalen Ausfällen in Szene
setzen.
Wird es zu dem schon mehrmals angekündigten und verschobenen Kampf zwischen
Ihnen und Rocchigiani kommen?
MASKE: Im Moment ist das kein Thema.*** Die Frage ist, ob es dieser Mann überhaupt
noch verdient, von mir geschlagen zu werden.
An Ihrem Sieg zweifeln Sie nicht.
MASKE: Nein, denn ich habe bewiesen, daß ich für jeden Gegner die richtige Antwort
finde.
Ihr Manager Wilfried Sauerland hat nach Ihrem Titelkampf gegen den Amerikaner
Ernesto Magdaleno, bei dem Sie härter zuschlagen mußten als je zuvor, mit Genugtuung
festgestellt, nun sei in Ihnen das Tier erwacht.
MASKE: Der Kampf gegen Magdaleno war insofern eine Bewährungsprobe, als man
gesehen hat, daß ich auch einen so schlagstarken Gegner bezwingen kann.
Hat Sie der Vergleich mit einem Tier nicht gestört?
MASKE: Doch, denn ein Tier ist nicht menschlich. Menschlichkeit zeichnet sich
durch Bewußtsein aus, und da ich ein Boxer bin, der Wert darauf legt, mit dem
Kopf zu gewinnen, lasse ich mich ungern mit einem Tier vergleichen.
Ein Tier kann nicht denken.
MASKE: Eben.
Es kann weder lügen noch böse sein.
MASKE: Wollen Sie damit sagen, daß jemand, der denkt, böse ist?
Nein, aber ohne das Denken wäre Böses nicht möglich. Das menschliche Hirn ist
die Quelle des Bösen. Im Boxkampf, in dem es in letzter Konsequenz darum geht,
den Gegner so schwer zu treffen, daß er nicht mehr klar denken kann, drückt
sich, so meine ich, eine tiefe Verzweiflung aus.
MASKE: Dem kann ich nicht folgen.
Aus Verzweiflung über die Existenz des Bösen schlagen sich Boxer gegenseitig
die Köpfe ein.
BOXER: Das ist mir zu kompliziert gedacht. Ich war auf ein normales, oberflächliches
Interview eingestellt. Was Sie sagen, ist mir ganz fremd. Wir sprechen über
verschiedene Dinge. Ich bin Sportler. Ich kann doch jetzt nicht hier anfangen
spinnen.
Ob man das Boxen noch als Sport bezeichnen kann, scheint mir fraglich.
MASKE: Wer das bezweifelt, hat keine Ahnung.
Sie selbst haben es eine Metapher für das Leben genannt.
MASKE: Das habe nicht ich gesagt. Das hat der Jan Hoet**** mir vermittelt.
Haben Sie ihm widersprochen?
MASKE: Nein, ich kann das schon unterschreiben.
Was, glauben Sie, wollte er damit zum Ausdruck bringen?
MASKE: Ich verstehe es so, daß sich im Boxsport, so wie wir es Leben eigentlich
immer fordern, zwei Menschen in einer klaren Auseinandersetzung gegenüberstehen.
Sie meinen, das Leben sollte so wie ein Boxkampf sein?
MASKE: Ja, denn wer ist denn heute noch ehrlich genug, sich hinzustellen und
zu sagen, so und so denke ich, das ist meine Haltung, dazu stehe ich, das versuche
ich durchzusetzen, und wenn mir das nicht gelingt, dann verliere ich, dann muß
ich akzeptieren, daß ein anderer besser ist? Wer hat denn heute noch diesen
Mut? Die heutige Gesellschaft ist doch ziemlich korrupt. Nun könnte man streiten,
ob es auch Boxer gibt, die mit unfairen Mitteln kämpfen. Natürlich gibt es die.
Mich hat sogar einmal einer gebissen.
Wohin?
MASKE: In die Schulter. Aber das ist kein Erfolgsrezept. Im Leben können Sie
mit solchen Methoden nach oben kommen. Im Boxsport wird ein Mensch, der einen
schlechten Charakter hat, in der untersten Klasse bleiben.
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* Weltmeister der Berufsboxer im Halbschwergewicht nach Version der IBF (International
Boxing Federation) wurde Henry Maske am 20. März 1993 durch einen Punktsieg
über den Amerikaner "Prince" Charles Williams in Düsseldorf.
** Für die DDR, in der es nur das Amateurboxen gab, errang Maske 1988 in Calgary
den 0lympiasieg, 1989 in Moskau den Weltmeistertitel.
*** Am 27. Mai 1995 entging Maske in Dortmund gegen Rocchigiani nur knapp einer
Niederlage, bei der Wiederholung des Kampfes am 14. Oktober in München siegte
er klar nach Punkten.
**** belgischer Kunsthistoriker, lud 1992 als Leiter der documenta in Kassel
Henry Maske zu einem Schaukampf ein
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Erschienen am 19. August 1994 in der ZEIT