Interview mit Hans Magnus Enzensberger



Im Nachwort zu Ihrem Buch »Diderots Schatten« fragen Sie: »Was ist ein Intellektueller?« Die Antwort fällt wenig freundlich aus.

HANS MAGNUS ENZENSBERGER: Wieso?

Die moralische Selbstüberforderung der, so wörtlich, »unbewaffneten Eierköpfe« habe zu Pharisäertum, Heuchelei und Dogmatismus geführt.

ENZENSBERGER: Ja, gut, aber das ist ja kein Einwand gegen diese Art von Beschäftigung, sondern das bezieht sich darauf, wie diese Leute sich selbst einschätzen. Da gibt es welche, die verfallen einem moralischen Größenwahn. Das ist natürlich schlecht. Denn zum Job des Intellektuellen gehört die Selbstreflexion, und wenn er größenwahnsinnig wird, dann übt er seinen Beruf schlecht aus wie ein Bäcker, der schlechte Brötchen bäckt. Das wird man doch kritisieren dürfen.

Beziehen Sie diese Kritik auch auf sich selbst?

ENZENSBERGER: Das mag schon sein. Wer über seinen eigenen Beruf spricht, der redet unvermeidlicherweise auch von sich selbst.

Sie waren 1968 einer der Wortführer der Studentenbewegung. Sie wollten den politischen Umsturz in Deutschland. Die chinesische Kulturrevolution nannten Sie ein »unentbehrliches, verführerisches Konzept«.

ENZENSBERGER: Na ja, diese ganze Rhetorik war natürlich Quatsch, das ist ja leicht einzusehen. Ich habe Phrasen gedroschen wie alle anderen auch, das leugne ich gar nicht. Aber das ändert nichts daran, daß der politische Aufbruch notwendig war, denn er hat dieses Land, die Bundesrepublik Deutschland, überhaupt erst bewohnbar gemacht. Davor war es unbewohnbar.

Das ist es heute, so schreiben Sie, in viel stärkerem Maße.

ENZENSBERGER: Das ist nicht wahr.

In Ihrem 1993 publizierten Essay »Ausblicke auf den Bürgerkrieg« warnen Sie vor der Illusion, bei uns herrsche Friede. Jeder U-Bahn-Wagen könne sich in ein »Bosnien en miniature« verwandeln.

ENZENSBERGER: Gut, aber dagegen kann man doch einiges unternehmen.

Der Staat, so fordern Sie, solle sein Gewaltmonopol besser nützen.

ENZENSBERGER: Ja, sicher.

In den sechziger Jahren haben Sie sich über diesen Staat aufgeregt, weil er gegen jene, die ihn abschaffen wollten, Gewalt einsetzte.

ENZENSBERGER: Damals galt es, unsere freiheitliche Verfassung gegen eine politische Clique zu schützen. Heute wollen ein paar wild gewordene Brandstifter und Amokläufer die zivilisatorische Ordnung zerstören.

Sie wollen das Chaos.

ENZENSBERGER: Ja.

Und davor soll der Staat uns bewahren?

ENZENSBERGER: Das ist seine Funktion.

Früher haben Sie das ganz anders gesehen. In Ihrem 1987 erschienenen Buch »Ach Europa« preisen Sie die Improvisationskunst der Italiener, die auch in chaotischen Verhältnissen noch recht gut leben können. Die durch den Staat gesicherte Ordnung sei zu einem Anachronismus geworden. Womöglich werde man sich, so wörtlich, »an die alltägliche Koexistenz mit dem Chaos gewöhnen müssen«.

ENZENSBERGER: Ja, das sage ich voraus. Aber das heißt noch nicht, daß ich es wünsche.

Wir Nordländer, schreiben Sie, hätten zu viele Aufgaben an den Staat delegiert, weil wir »zu stur, zu festgefahren und zu verklemmt« seien, um auf eigene Faust vorzugehen.

ENZENSBERGER: In diesem Italien-Aufsatz steht aber auch, daß eine Gesellschaft ohne Rechtssystem nicht die Lösung ist.

In Ihrem Gedicht »Utopia« aus den fünfziger Jahren feiern Sie die Unordnung als eine Art paradiesischen Zustand.

ENZENSBERGER: So empfand ich das damals.

Die Anarchie war Ihr Ideal.

ENZENSBERGER: Das ist richtig.

Man könnte meinen, Sie hätten Angst vor der eigenen Courage bekommen.

ENZENSBERGER: Mmh.

Heißt das »ja«?

ENZENSBERGER: Nein, ich nehme nur Ihre Geschichte zur Kenntnis.

Ist sie falsch?

ENZENSBERGER: Man könnte sie auch anders erzählen. Man könnte sagen, da ist jemand in einer Zwangsordnung aufgewachsen, und danach kam eine wunderbare Zeit der Anarchie. Die dauerte nur ein paar Monate, aber das prägt einen Menschen in diesem Alter. Ich war sechzehn am Ende des Krieges. Es gab damals keine Regierung in Deutschland. Es gab die amerikanische Militärregierung. Aber die war eigentlich eine Fiktion. In diesen wenigen Monaten habe ich das Glück maximaler Freiheit erlebt. Doch dann kam die Ordnung wieder mit gemischten Signalen. Vieles von der abgeschüttelten Zwangsordnung kehrte zurück. Das war weniger angenehm. Die fünfziger Jahre waren sehr heavy in diesem Land, muffig, reaktionär. Nichts hat sich bewegt, überall diese Nazischeiße. Da bin ich ausgewichen.

Sie sind nach Skandinavien ausgewandert.

ENZENSBERGER: Ja, ich wollte da raus. Ich bin abgehauen. Ich war dann fast zehn Jahre weg und habe langsam gelernt, was man an der Zivilisation schätzen kann und was nicht. Das hängt von Erfahrungen ab, die man macht. Die Ordnung, in der ich aufgewachsen bin, war ja das Gegenteil von Zivilisation.

Sie war bedrohlich.

ENZENSBERGER: Natürlich.

Und das kam wieder mit Adenauer?

ENZENSBERGER: Zu einem großen Teil, ja. Deshalb bin ich nach Norwegen gegangen, wo es eine freiheitliche Gesellschaft gab, und bin mit Unterbrechungen dort geblieben, bis irgendein Solarplexus mir sagte, daß in Deutschland etwas im Gange ist, daß sich die Lage gewandelt hat. 1966 hatte ich das Gefühl, jetzt könnte endlich etwas passieren, und bin nach Berlin gezogen. Das war eine wunderbare Gelegenheit. Endlich rührte sich etwas. Gut, ich war kein Student, meine Güte, ich war zehn Jahre zu alt, ich hatte schon etwas erlebt. Das hat mich von diesen Leuten getrennt. Ich war eine andere Generation. Aber ich wollte das nicht an mir vorbeigehen lassen. Ein Schriftsteller kann sich doch gar nichts Besseres wünschen als eine revolutionäre Bewegung. Sie können es auch Modernisierung nennen. So etwas geschieht in Deutschland nur alle fünfzig bis hundert Jahre. Ich wollte das nicht verpassen.

Sie glaubten an die Möglichkeit zur Veränderung.

ENZENSBERGER: Ich glaubte an die Notwendigkeit von Veränderung, und tatsächlich hat sich ja sehr viel verändert. Das kann Ihnen jeder in meinem Alter bezeugen. Bis in die sechziger Jahre war jede deutsche Schule ein unerträglicher Ort. Ich hatte es doch am eigenen Leibe erlebt. Die Lehrer an meiner Schule waren Terroristen gewesen. Ich mußte mich wehren. Politik ist Notwehr, nichts anderes, und wenn Sie dann eine Chance sehen, das nicht als Einzeloperation, sondern mit anderen zusammen zu machen, dann ergreifen Sie diese Chance.

Sie haben den Ungehorsam gepredigt.

ENZENSBERGER: Ja, auch.

Aber Sie wissen, der Gehorsam ist ein menschliches Grundbedürfnis.

ENZENSBERGER: Richtig.

Das haben Sie außer acht gelassen.

ENZENSBERGER: Jetzt wird es besser. Jetzt sind wir nicht mehr in einem Interview, sondern in einer richtigen Diskussion.

Heute wird an deutschen Schulen mit Rauschgift gehandelt, und die Schüler lauern einander mit Klappmessern auf.

ENZENSBERGER: Davon rede ich nicht. Was heute ist, das steht auf einem anderen Blatt.

Macht es Sie nicht verzweifelt, zu sehen, was aus Ihrem Ideal einer freien Gesellschaft geworden ist?

ENZENSBERGER: Die Verzweiflung ist nicht mein Thema.

Aber Sie müssen doch Ihre Ziele von damals und die heutige Realität in Beziehung setzen. Niemand hat diese Realität in so düsteren Farben beschrieben wie Sie. Ein »Autismus der Gewalt« breite sich aus. Wer in Metropolen wie Hamburg oder Berlin auf die Straße gehe, könne sich seines Lebens nicht sicher sein.

ENZENSBERGER: Was hat denn das mit dem Jahr 68 zu tun?

Jedes Kind weiß, daß Freiheit gefährlich ist.

ENZENSBERGER: Also hören Sie, daß Leute auf der Straße totgeschlagen werden, das habe ich nie unter Freiheit verstanden, das können Sie mir doch nicht anhängen, das ist doch blöd.

Aber Sie haben, so schreiben Sie, früh erkannt, daß der Mensch nicht von Natur gütig ist.

ENZENSBERGER: Ja, und?

Folgt daraus nicht, daß er, wenn man ihn läßt, zum Totschläger wird?

ENZENSBERGER: Wissen Sie, Sie sprechen manchmal in sehr großen Begriffen. Sie sprechen von Verzweiflung, von Freiheit und Chaos. Das sind alles Dinge, die im menschlichen Leben sehr vieles bedeuten können. Es kommt auf den Kontext an. Ich bin kein Theoretiker, ich bin ein Erfahrungsmensch. Im Zweifelsfall entscheidet bei mir die Erfahrung. Wenn die Erfahrung mich eines Besseren belehrt, werfe ich jede Begriffskonstruktion von Plato bis Marx und von Marx bis Wittgenstein über den Haufen. Das ist letzten Endes dann alles Wurst. Die Alternative zu den Verhältnissen im Jahr 1968 war nicht eine beliebige Freiheit, in der man Leute totschlägt, sondern es ging darum, eine autoritätsfixierte Gesellschaft in eine mehr demokratische zu verwandeln.

Und das, meinen Sie, ist gelungen?

ENZENSBERGER: Ja, das meine ich. Sie können doch nicht wegdiskutieren, daß die Menschen in diesem Land heute ein ganz anderes Selbstbewußtsein als damals haben. Ein Lehrer verhält sich zu seinen Schülern vollkommen anders als in den fünfziger Jahren, ein Vorgesetzter zu seinen Untergebenen, ein Arzt zu seinen Patienten. Der Obrigkeitsstaat existiert nicht mehr. Den hatten wir aber. Ich habe es doch erlebt. Die Studentenrevolte war zivilisatorisch eine Notwendigkeit. Dazu stehe ich nach wie vor, um es einmal ganz klar zu sagen.

Notwendig erscheint im nachhinein alles, was geschieht, wenn Sie es historisch betrachten.

ENZENSBERGER: Ja, aber es muß welche geben, die das Notwendige tun. Ich bin kein Fatalist.

Ein Fatalist sitzt doch nicht da und tut nichts.

ENZENSBERGER: Natürlich nicht.

Der ist ja auch tätig. Nur glaubt er nicht, daß die Welt im ganzen zu ändern ist. Der flickt vielleicht in Bosnien ein von einer Granate zerrissenes Kind zusammen, obwohl er weiß, daß es eine Welt ohne Gewalt und Kriege nie geben wird. Der glaubt nur, daß er diesem einen Kind helfen kann.

ENZENSBERGER: Ja, sicher.

Der ist fatalistisch und dabei sehr human.

ENZENSBERGER: Ja, ist doch gut.

Der hat nicht die Absicht, eine revolutionäre Aktion zu starten.

ENZENSBERGER: Ja, weil die Verhältnisse es ihm nicht erlauben. Was einer tun kann, hängt von der Lage ab. Erkenne die Lage, hat einmal ein deutscher Dichter gesagt, der Herr Benn. Nicht weil ich mir das Jahr 1968 gewünscht habe, ist es zustande gekommen, sondern die Lage war plötzlich da. Ich habe mich zu dieser Lage verhalten. Ich mußte mich auch zu den Nazis verhalten.

Damals waren Sie noch sehr jung.

ENZENSBERGER: Ja, aber die wollten mich halt herumschubsen. Die wollten mich sogar in eine Uniform stecken. Dagegen habe ich mich gewehrt. Ich habe mich geweigert, die HJ-Tracht zu tragen, aber nicht aus politischen Gründen, sondern weil ich mir nicht gern befehlen lasse. Das war kein politischer Akt, sondern eine viszerale Entscheidung.

Eine was?

ENZENSBERGER: Das kam aus den Eingeweiden.

Wo standen Ihre Eltern politisch?

ENZENSBERGER: Das war so Bildungsbürgertum. Da gab es die weit verbreitete Haltung, zu sagen, mit diesen Leuten, den Nazis, könne man doch nicht gemeinsame Sache machen, das sei doch ein Gschwerl, ein Gesindel. Das heißt aber nicht, daß man Widerstand leistete.

Alfred Andersch hat die Wut Ihrer frühen Gedichte mit einem Haß auf Ihre bürgerliche Herkunft zu erklären versucht.

ENZENSBERGER: Ja, das kann er doch tun.

Wollen Sie dazu etwas sagen?

ENZENSBERGER: Nein. Denn, sehen Sie, es gibt über mich so viele Geschichten. Es gibt die Bruder-Leichtfuß-Geschichte von dem, der überall mitmacht und dauernd seine Überzeugungen wechselt, es gibt die Geschichte vom Verräter, der unzuverlässig und kein guter Genosse ist, es gibt die Deutschland-Geschichte über einen, der mit seiner Heimat Probleme hat. Das sind Legenden, mit denen man leben muß. An all diesen Geschichten ist etwas dran. Keine würde ich als absolut falsch bezeichnen. Aber warum soll ich sie mir zu eigen machen? Die anderen sollen ruhig ihre Storys erfinden. Die dürfen auch schimpfen. Ich betrachte das mit großer Gelassenheit.

Das stimmt nicht.

ENZENSBERGER: Doch.

Als vor einem Jahr in der ZEIT eine Glosse erschien, in der sie als »schönhubernd« bezeichnet wurden, hat Sie das sehr berührt.

ENZENSBERGER: Aber ich habe nicht darauf reagiert.

Sie haben dieses Interview lange nicht geben wollen.

ENZENSBERGER: Würden Sie einem Blatt, das Sie für einen Nazi hält, ein Interview geben?

Das ist nicht die Frage, sondern es geht um die Grenzen Ihrer Gelassenheit.

ENZENSBERGER: Nein. Ich nehme mir nur die Freiheit, dort zu publizieren, wo es mir am besten gefällt.

Die Glosse in der ZEIT war eine Antwort auf einen von Ihnen in der »Neuen Züricher Zeitung« veröffentlichten Artikel, in dem Sie sich unter anderem über die Modegewohnheiten heutiger Frauen äußern.*

ENZENSBERGER: Ja, das war doch ein sehr lustiger Aufsatz.

Der Feminismus, hieß es da, habe »als unerreichbaren, aber oft nachgeahmten Idealtypus den Trampel hervorgebracht«.

ENZENSBERGER: Das ist doch amüsant. Jede Bewegung hat auch ihre lächerlichen Auswirkungen. Das ist wie in der Pharmazie. Bei einer guten Arznei muß man immer mit negativen Nebenwirkungen rechnen. Wir haben zu Beginn von der revolutionären Rhetorik gesprochen, die oft nur dummes Gerede war, leerer Quatsch, extremistischer Blödsinn. Trotzdem war die Studentenbewegung genauso wie die Frauenbewegung ein politisch notwendiger Schritt.

Hatten Sie die Einsicht, daß von den Linken gequatscht wird, schon zu der Zeit, als Sie selbst noch dazugehörten?

ENZENSBERGER: Aber sicher. Ich habe schon damals geschrieben, das Ganze sei ein einziger Karneval. Nur wird das weniger gern zitiert. Das habe ich 1969 geschrieben. Damals wurde mir das übelgenommen.

Sie hatten ein distanziertes Verhältnis zu den Ereignissen.

ENZENSBERGER: Ja.

Wie konnten Sie aus der Distanz heraus den nötigen Kampfgeist entwickeln?
 
ENZENSBERGER: Lieber Herr Müller, wenn Sie in einer Demonstration durch Neukölln gehen, zum Beispiel, und man ruft: »Für ein rotes Westberlin«, das wurde damals gerufen, und Sie sehen oben an den Fenstern die Frauen, die da, auf Kissen gelehnt, herunterschauen und ihren Ohren nicht trauen, dann haben Sie doch, wenn Sie nicht ganz verblödet sind, einen Hintergedanken, also es wird Ihnen klar, daß es hinter dem Gedanken, der sich durch die Demonstration ausdrückt, noch einen anderen geben muß. Es gibt doch hinter jedem Gedanken einen Hintergedanken, und dieser Hintergedanke ist oft der spannendere. Die Welt ist ja widersprüchlich. Aber das liegt nicht an mir. Dafür kann ich nichts.

Das heißt, Sie sind mit einem leisen Schmunzeln bei dieser Demonstration mitmarschiert.

ENZENSBERGER: Nicht mit einem Schmunzeln. Ich sage ja nicht, daß das Demonstrieren nur Unsinn war. Das war, soweit es eben reichte, auch eine ernsthafte Sache. Da wurde etwas bewegt. Da wurde etwas in Gang gebracht. Da wurden Dinge gesagt, die endlich gesagt werden mußten, Herrgott noch mal. Die Bundesrepublik, wie wir sie heute kennen, ist doch damals überhaupt erst entstanden. Daß es da auch Auswüchse gab, dumme Verdächtigungen, Fanatismus, das macht doch nichts, das kommt in solchen Milieus immer vor. Fragen Sie einmal eine kluge Frau, die im Feminismus eine wichtige Rolle spielt, mit wem sie es dort zu tun bekommt. Da müssen Sie sich mit irgendwelchen verrannten Lesben oder dogmatischen Suffragetten zusammentun. Aber das nimmt man in Kauf, weil man die Sache im ganzen für nötig hält. Man muß sie ja nicht lebenslänglich betreiben.

Das klingt so, als hätten Sie für die linke Sache das Opfer gebracht, sich mit Dummköpfen auseinanderzusetzen.

ENZENSBERGER: Nein, so war es nicht. Es hat ja auch Spaß gemacht. Es war auch sehr lustig. Es gab auch Highs. Sie müssen sich vorstellen, ein paar tausend Leute machen irgendwo etwas, und ganz Deutschland steht Kopf. Es hat doch auch seinen Reiz, zu sehen, wie man mit geringsten Mitteln eine hundertmal mächtigere Institution in Panik versetzen kann.

Sie meinen, den Staat?

ENZENSBERGER: Ich meine den SFB**, um ein Beispiel zu nennen. Der wurde besetzt und hat danach fünf Jahre lang die Rolläden nicht hochgezogen. Solche Angst hatten die. Im Bayerischen Rundfunk gibt es noch heute eine Eingangskontrolle.

Sie glauben doch nicht, daß das mit Ihrer Aktion vor achtundzwanzig Jahren zusammenhängt.

ENZENSBERGER: Na gut, es kann sein, daß das inzwischen zur Gewohnheit geworden ist.

Haben Sie den SFB nur besetzt, um dort Angst zu verbreiten?

ENZENSBERGER: Nein, ich habe den armen Genossen, die auf ihren alten Printmaschinen Flugblättchen druckten, gesagt, sie sollen das machen, damit sie mit ihrer Propaganda mehr Leute erreichen, und dann sind die hingegangen und haben verlangt, daß man ihnen Sendezeit zur Verfügung stellt.

Das ist doch zynisch.

ENZENSBERGER: Wieso?

Sie waren der Drahtzieher im Hintergrund. Die Genossen mußten zum Fronteinsatz.

ENZENSBERGER: Ja, Arbeitsteilung ist doch nichts Schlechtes.

Peter Weiss hat Sie einmal einen Spieler genannt.

ENZENSBERGER: Ach, der Weiss, der war ja in Wirklichkeit ein Ästhet, ein Künstler, der in diesen politischen Strudel geraten ist und gar nichts verstanden hat, weil er alles für bare Münze nahm. Er hat dann lauter marxistische Bücher gelesen und alles geglaubt, was da behauptet wurde.

Sie haben das nicht geglaubt?

ENZENSBERGER: Für mich war der Marxismus ein Werkzeugkasten. Ich finde die marxistische Idee immer noch brauchbar. Ich habe sie nicht in den Mülleimer geschmissen. Aber sie taugt nicht für alles. Wenn ich einen Nagel in die Wand schlagen will, muß ich einen Hammer benutzen. Aber wenn ich den Nagel herausziehen will, nützt mir ein Hammer nichts.

Wie würden Sie Ihr Verhältnis zu Günter Grass beschreiben?

ENZENSBERGER: Wir kennen uns viele Jahre. Unsere Kinder sind miteinander befreundet. Daß wir uns politisch nie einig waren, ist ja bekannt. Der Günter war immer ein guter Sozialdemokrat. Im Grunde hat er sich nie geändert.

Ein konsequenter Mensch.

ENZENSBERGER: Ja.

Eigentlich müßte Ihnen das tief zuwider sein.

ENZENSBERGER: Warum?

In Ihrem Essay »Das Ende der Konsequenz«, der 1980 erschien, plädierten Sie für mehr Beweglichkeit.

ENZENSBERGER: Ja gut, sicher gibt es da Temperamentsunterschiede.

»Gebenedeit sei die Anpassung«, schreiben Sie. Prinzipientreue habe in Deutschland zu Selbstzerstörung und Barbarei geführt.

ENZENSBERGER: Ja, das ist doch nicht falsch. Warum soll man auf etwas beharren, wenn man verstanden hat, daß es Unsinn ist?

Sie haben sich nie gescheut, Denkfehler zuzugeben.

ENZENSBERGER: Nein.

In Ihrer 1974 publizierten Aufsatzsammlung »Palaver« fordern Sie einen »emanzipatorischen Mediengebrauch« zur »Mobilisierung der Massen« und träumen von einer »Interaktion der Teilnehmer«, durch die sich der Revolution »subversive Möglichkeiten« eröffnen.

ENZENSBERGER: Das habe ich mir längst abgeschminkt. Das war ein Irrtum. Das habe ich auch öffentlich korrigiert.

Heute halten Sie den Fernsehapparat für eine »buddhistische Maschine«, die dem Zuschauer die »Annäherung an das Nirwana« ermöglicht.***

ENZENSBERGER: Ja, als Sozialhygiene hat das durchaus seine Funktion.

Machen Sie selbst Gebrauch davon?

ENZENSBERGER: Selten. Ich brauche diese Medizin Fernsehen nicht, weil ich nicht tagelang in einer schlecht gelüfteten Firma sitze mit dem Fräulein Lehmann, das im Vorzimmer gegen mich intrigiert. Mir genügt es, die Zeitung zu lesen. Ich muß aber auch sagen, daß ich es für ein seltsames Bedürfnis halte, sich jeden Abend diese Leichenschau anzusehen.

Sie meinen die Nachrichtensendung.

ENZENSBERGER: Ja, das ist doch pervers. Ich habe dieses Bedürfnis nicht. Ich muß das Messer im Bauch nicht sehen. Ich schaue mir auch nicht diese Filme an, in denen reihenweise die Leute erschossen werden.

Das kann man doch nicht auf die gleiche Stufe stellen.

ENZENSBERGER: Doch, das hat psychologisch den gleichen Kern.

Das eine ist Realität, das andere ist Erfindung.

ENZENSBERGER: Für mich ist das, was die Nachrichten zeigen, keine Realität. Die Abbildung ist nicht die Wirklichkeit.

Nein, aber Sie wissen, daß das, was die Tagesschau sendet, wirklich geschieht.

ENZENSBERGER: Das weiß ich nicht. Die rumänische Revolution****, bei der man Tausende Menschen auf Plätzen versammelt sah, war doch eine einzige Täuschung. Ich fahre seit zwanzig Jahren immer wieder nach Jugoslawien. Ich kenne dort viele Leute. Jeder, mit dem ich gegessen, getrunken, mich unterhalten habe, hat für mich mehr Realität als alle Fernsehbilder. Ein Bild ist abstrakt.

Gut, aber die verstümmelten Körper nach einem Granateneinschlag auf dem Marktplatz von Sarajewo entstammen doch nicht dem Szenario eines Horrorfilms. Das haben Kameras aufgenommen.

ENZENSBERGER: Die Kameras stehen immer nur dort, wo etwas geschieht, das gerade in den Schlagzeilen ist, und die Absicht, die dahintersteckt, ist es, unsere Empörung zu wecken. Dagegen wehre ich mich, weil nichts daraus folgt, überhaupt nichts, null.

Ein sensibler Mensch reagiert mit Verzweiflung.

ENZENSBERGER: Ja, aber was ändert das?

Das ist nicht vorauszusehen. Die Verzweiflung stellt zunächst nur einen Endpunkt dar.

ENZENSBERGER: Jetzt sprechen Sie in eigener Sache. Ich weiß doch, Sie sind ein Verzweiflungsspezialist. Aber das führt uns nicht weiter. Ich bin kein Philosoph. Ich habe nichts davon, wenn ich mir Bilder ansehe, die mich verzweifelt machen.

Aber diese Bilder überfallen Sie doch. So schnell können Sie gar nicht ausschalten. Die kommen ja gleich nach Helmut Kohl.

ENZENSBERGER: Ich schaue mir auch den Kohl nicht an. Das wäre ja Zeitverschwendung. Der sagt doch nie was. Das ist in höchstem Maß unproduktiv. Lieber beschäftige ich mich mit meiner Tochter oder arbeite. Es gibt tausend Sachen, die mich interessieren. Man muß weglassen können, ignorieren, denen das Maul stopfen. Man muß Prioritäten setzen.

Um das zu können, müssen Sie wissen, was wichtig ist.

ENZENSBERGER: Ja, das weiß ich doch. Ich weiß genau, was mir schmeckt.

Objektiv hat alles den gleichen Wert.

ENZENSBERGER: Ja gut, wenn Sie die Welt in toto betrachten, also von oben, von einer göttlichen Warte aus, dann ist alles gleich. Aber diese Perspektive kann ja nur der Weltherrscher haben, der Alleswisser. Der bin ich nicht. Der will ich auch gar nicht sein.

Weil Sie dann wahnsinnig würden.

ENZENSBERGER: Ja, oder total verzweifelt. Die totale Verzweiflung ist ja nichts anderes als die Negation der Allmächtigkeit.

Sind Sie ein glücklicher Mensch?

ENZENSBERGER: Ich komme ganz gut zurecht.

Das ist keine Antwort.

ENZENSBERGER: Wenn ich mein Leben mit dem anderer Leute vergleiche, muß ich sagen, es geht mir nicht schlecht. Ich ertrage das Leben. Ich beklage mich nicht. Ich hasse es, mich zu beklagen.

In Ihrem Gedicht »Chinesische Akrobaten« beschreiben Sie einen glücklichen Augenblick. »Eine Minute lang«, heißt es da, »während sich schneller und schneller und höher und höher immer mehr leere Teller drehen geisterhaft leicht am Himmel, aaaaaaah, vergißt die Angst ihren Hunger und die Lust ihre Angst.«

ENZENSBERGER: Das ist doch gut.

Ja, aber was bedeutet es?

ENZENSBERGER: Das ist der Triumph des Künstlers, der die Angst überwindet eine Minute lang.

Die Angst vor der Lust.

ENZENSBERGER: Ja, die ist doch sehr verbreitet, sonst sähe die Welt heute anders aus.

Sind Sie dieser Künstler?

ENZENSBERGER: Das kann schon sein. Aber ich will Ihnen keine Selbstbeschreibungen liefern. Sie werden von mir keine Herzensergießungen hören. Die Poesie ist eine Möglichkeit, über Dinge zu sprechen, über die man eigentlich nicht sprechen kann. Wer das lesen will, kann es tun. Dabei sollte es sein Bewenden haben. In den Gedichten ist mein Privates gut aufgehoben. Sie zu schreiben, entlastet mich. Das ist nicht aufdringlich. Das bleibt diskret. Ich bin gern unauffällig. Die Leute sollen sich nicht für mich, sondern für meine Bücher interessieren.

Sie wollen nicht offen über Ihre Gefühle sprechen.

ENZENSBERGER: Nein.

In der »Süddeutschen Zeitung« war kürzlich zu lesen, Sie wären ein Mensch, der am Sex keine Freude hat.

ENZENSBERGER: Aha.

Behauptet wird das von einer namentlich nicht genannten Studentin, mit der Sie offenbar ein Verhältnis hatten.

ENZENSBERGER: Ja, meinetwegen. Das kann man doch schreiben. Wir haben eine Pressefreiheit. Die ist etwas Lästiges. Aber die muß man ertragen. Das sind die Unkosten der Demokratie. Wer Pressefreiheit haben will, muß auch den Groschenjournalismus erdulden. Da sitzt in irgendeiner Redaktion so ein Mensch, der muß halt sein Geld verdienen. Aber warum soll ich mich daran beteiligen?

Haben Sie den Artikel denn nicht gelesen?

ENZENSBERGER: Nein.

Wollen Sie ihn haben?

ENZENSBERGER: Wahrscheinlich ist sowieso alles erlogen.

Über Frauen können wir uns wohl nicht unterhalten.

ENZENSBERGER: Doch, warum nicht?

Sie sind zum dritten Mal verheiratet.

ENZENSBERGER: Ja, aber das sind nur die standesamtlich dokumentierten Beziehungen.

Daneben gab es noch andere?

ENZENSBERGER: Natürlich. Soviel kann ich schon sagen, ich habe von Frauen viel mehr als an Universitäten gelernt, politische Dinge, ästhetische Dinge, philosophische Dinge. Ich habe ganze Welten gelernt. Die Frau ist das ideale Medium, um zu lernen, weil man durch die Intimität einen viel direkteren Zugang zum Wissen bekommt. Ein erotisches Verhältnis ist immer auch ein Erkenntnisverhältnis. Mit einer Frau lernt man mühelos, verstehen Sie? Alles fliegt einem zu. Das ist ganz toll.

Sind Sie schon einmal für längere Zeit allein gewesen?

ENZENSBERGER: Ja, in jüngeren Jahren.

War das schwer?

ENZENSBERGER: Es war nicht angenehm. Aber, wissen Sie, ich finde, die Jugend ist sowieso keine beneidenswerte Phase des Lebens. Ich verstehe gar nicht, warum die Leute so einen Kult damit treiben. Ein junger Mensch ist labil, unsicher, schwankend, hat keine Souveränität, macht jede Dummheit mit. Denken Sie nur an diese Klamottensucht, ein Leben in der Diskothek, schrecklich. Wenn der eine ein Motorrad hat, muß der andere auch eines haben. Das ist doch entsetzlich. Man muß froh sein, wenn man das überstanden hat.

Sie wollen Ihr Leben unter Kontrolle haben.

ENZENSBERGER: Ja, ich will doch nicht dieser Lappen sein, mit dem die Welt geputzt wird.

In Ihren Jugendgedichten ist häufig vom Tod die Rede.

ENZENSBERGER: Ja, der Tod ist natürlich ein wiederkehrendes Thema in diesen Jahren. Der Gedanke an den Tod ist eine Obsession, wenn man jung ist, auch der Gedanke, sich umzubringen.

Haben Sie es versucht?

ENZENSBERGER: Nein, aber daran gedacht habe ich schon. Es gibt ein Adoleszenzpathos und eine Adoleszenzmelancholie. Dagegen ist auch gar nichts zu sagen. Das muß so sein. Ein Mensch, der nie an Selbstmord gedacht hat, ist doch irgendwie sonderbar. Mit dem stimmt doch was nicht.

Was hat Sie gerettet?

ENZENSBERGER: Ich glaube, ich habe mir im Laufe der Zeit einen Sinn für die Komik des Lebens erworben. Je älter ich werde, desto deutlicher sehe ich, daß das Leben eine Komödie ist, wenn auch mit viel schwarzem Humor, eine Tragikomödie.

Und Sie sind der Zuschauer.

ENZENSBERGER: Nicht nur. Ich operiere ja auch. Aber ich habe mir abgewöhnt zu glauben, daß ich mit dem, was ich tue, etwas Bestimmtes erreichen kann. Ich kann es nur anbieten. Was andere damit anfangen, weiß ich nicht.

Sie haben Ihre Illusionen verloren.

ENZENSBERGER: Ich entsinne mich nicht, welche gehabt zu haben.

In einem Interview, das unlängst im »Stern« erschien, sagten Sie, der Mensch könne ohne Utopien ganz gut leben, aber nicht ohne Wünsche.

ENZENSBERGER: Ja, die Wünsche sind nicht aus der Welt zu schaffen.

Als Beispiel nannten Sie den Wunsch nach Gerechtigkeit.

ENZENSBERGER: Richtig.

Aber Gerechtigkeit ist doch die größte Utopie, die es gibt.

ENZENSBERGER: Moment, lassen Sie mich das erklären.

Sie verneinen die Notwendigkeit von Utopien und behaupten zugleich, der Mensch könne ohne den Glauben an die Möglichkeit einer gerechten Welt nicht existieren.

ENZENSBERGER: Nein, ich sage, der Wunsch ist das Primäre. Zuerst sind die Wünsche da. Die Utopie ist ein Rezept, das den Wunsch in ein Schema preßt. Ich behaupte, daß dieses Schema die Menschen wenig interessiert. Sie glauben nicht an Rezepte. Sie glauben nicht, daß die Verstaatlichung der Produktionsmittel automatisch zu einer gerechten Gesellschaft führt. Trotzdem haben sie den Wunsch nach Gerechtigkeit.

Obwohl sie wissen, daß er sich nie erfüllen wird?

ENZENSBERGER: Ja, sicher. Wünsche sind keine Willenssache. Die entstehen gleichsam hinter unserem Rücken von selbst. Alle Leute wünschen sich zum Beispiel die glückliche Liebe, obwohl sie wissen, daß sie nicht sehr wahrscheinlich ist.

Ich bilde mir ein, ich habe sie schon erlebt.

ENZENSBERGER: Na wunderbar, schön für Sie.

Ich kann mich, obwohl ich sehe, daß andere unglücklich lieben, an ihr erfreuen. Es deprimiert mich aber, zu wissen, daß Kinder zu Krüppeln geschossen werden, auch wenn das in dem Land, in dem ich lebe, gerade nicht geschieht.

ENZENSBERGER: Da kann ich Ihnen jetzt auch nicht helfen.

Es ist doch schwer zu ertragen, daß es keinen Frieden ohne Krieg, kein Recht ohne Unrecht, das Gute nicht ohne das Böse gibt. Es bleibt immer ein Gleichgewicht...

ENZENSBERGER: Ja, gut.

... weil alles nur durch sein Gegenteil denkbar ist.

ENZENSBERGER: Das mag schon sein. Nur ist mir das zu abstrakt. Ihre Argumente sind mir, wenn ich das einmal einflechten darf, immer eine Spur zu hoch angesetzt. Ich bin kein Weltweiser. Ich kann das Welträtsel nicht lösen. Ich bin ein bescheidener Arbeiter im Weinberg, der versucht, sich über die eigene Konfusion etwas klarer zu werden.

Das klingt nach Resignation.

ENZENSBERGER: Nein, wieso? Ich lebe doch. Ich zahle meine Miete, ich esse, ich schreibe...

Sie meinen, solange sich jemand nicht das Leben nimmt, muß er noch Hoffnung haben.

ENZENSBERGER: Natürlich. Solange jemand nicht bei der Bank seine Daueraufträge storniert, soll er mir nichts von Resignation erzählen.

Was halten Sie für Ihre wichtigste Lebensleistung?

ENZENSBERGER: Das kann ich nicht sagen.

Sind es die politischen Essays oder mehr die Gedichte?

ENZENSBERGER: Vielleicht ist »Der Untergang der Titanic«***** ein Werk mit einer längeren Halbwertzeit. Also das sehe ich als mein Hauptwerk an. Das hat formal einen gewissen Drive. Der war gar nicht leicht herzustellen. Aber bitte, ich möchte nicht, daß es so aussieht, als wollte ich hier Reklame machen. Ich ersuche Sie dringend, das zu vermeiden.

Man kann doch sagen, daß das Ihre bedeutendste Schöpfung ist.

ENZENSBERGER: Ja, aber nicht, weil ich es behaupte.

In welcher Verfassung müssen Sie sein, damit ein Gedicht entsteht?

ENZENSBERGER: Das weiß ich nicht. Ein bißchen bekommt man geschenkt, der Rest ist Arbeit.

Geschenkt von wem?

ENZENSBERGER: Sagen wir so, im Körper wird etwas ausgeschüttet. Das biochemische Korrelat zu dem, was wir Eingebung nennen, sind Botenstoffe, die man als Endorphine bezeichnet. Man hat einen Flash. Der Anlaß, aus dem ein Gedicht entsteht, ist ein plötzlicher Flash. Der hat nichts mit Vernunft zu tun. Denn das Dichten ist doch eine absurde Tätigkeit. Wer will schon Gedichte haben? Die gesellschaftliche Nachfrage nach Gedichten ist bekanntlich gering. Betriebswirtschaftlich gesehen ist das vollkommen unergiebig.

Ihr Geld verdienen Sie mit den Zeitungsartikeln.

ENZENSBERGER: Ja.

Dreißigtausend Mark bekommen Sie für einen längeren Aufsatz.

ENZENSBERGER: So ungefähr.

Damit gehören Sie zusammen mit Martin Walser und Botho Strauß zum Trio der Höchstbezahlten.

ENZENSBERGER: Ja, aber sonst verbindet mich wenig mit diesen beiden. Besonders mit Botho Strauß lassen Sie sich ungern in einem Atem nennen. Gott, das ist ein sehr talentierter Mann. Aber seine Präokkupationen sind nicht die meinen. Ich finde es indezent, sich so als tragische Figur darzustellen. Über das Tragische richtig zu sprechen, ist schwer, weil das sehr leicht zu Selbststilisierungen führt, zur Selbstheroisierung, zum Kitsch. All diese Attitüden gefallen mir nicht.

Soll man über das Unheil ironisch schreiben?

ENZENSBERGER: Ja, man kann das ja durchblicken lassen. Man kann es andeuten. Es gibt immer ein kleines Fenster, wo man durchschauen kann. Wenn das latent bleibt, gut, aber darauf herumzureiten, das liegt mir nicht.

Tut Botho Strauß das?

ENZENSBERGER: Ja, ich meine, dieses ganze Zeug aus den zwanziger Jahren, auf das er sich dauernd beruft, Ludwig Klages, Rudolf Borchardt, all diese überständigen, abgeblaßten Motive ... Ich weiß nicht, warum er sich in die so verbeißt. Ein begabter Mensch muß doch erkennen, daß das keine relevanten Themen mehr sind. Aber ich will nicht über Kollegen sprechen. Das kann man den Reich-Ranickis dieser Welt überlassen. Die sollen sich die Schriftsteller der Reihe nach hernehmen und ihnen ihre Urteile verpassen. Das ist nicht meine Sache.

Über Botho Strauß haben Sie sich schon früher geäußert.

ENZENSBERGER: Wo?

In einem Artikel in der FAZ über die Lyrik der achtziger Jahre.

ENZENSBERGER: Ich habe keine Namen genannt.

Aber Sie haben zitiert. Dadurch waren die Namen leicht zu erraten.

ENZENSBERGER: Ich habe einen Zustand beschrieben. In unserer Kultur gilt der Lyriker als Gefühlsmensch, der ruhig auch doof sein kann. Über die fatalen Folgen, die das mitunter hat, habe ich mir Gedanken gemacht.

Sie gelten als der reine Verstandesmensch.

ENZENSBERGER: Das ist genauso falsch.

Ihr Bruder Christian sagt, auf Herzensbildung hätten Sie »immer heruntergeschaut«.

ENZENSBERGER: Ach, der Christian, der weiß doch nichts.

Das Herz sei für Sie nicht die Mitte des Menschen.

ENZENSBERGER: Ja, laß sie doch alle reden! Ich meine, Gefühlsmensch, Verstandesmensch, mit solchen Begriffen jagt man Gespenster. Pappfiguren sind das, denen in der Wirklichkeit nichts entspricht. Ich habe sehr starke Gefühle bei manchen Gedanken und sehr starke Gedanken bei manchen Gefühlen. Ich verstehe diesen Gegensatz nicht. Ich liebe zum Beispiel die Mathematik. Meine Liebe zur Mathematik ist ein Höhenrausch, und ein Höhenrausch ist ein Gefühl. Also was soll dieser Quatsch? Das sind Klischees. Blödsinn ist das. Warum soll jemand, der Verstand hat, gefühllos sein? Warum soll eine gescheite Frau keine Gefühle haben? Viele Männer haben Angst vor gescheiten Frauen. Dabei ist eine gescheite Frau viel erotischer, weil sie ein ganzer Mensch ist, weil sie ein Hirn hat. Was soll daran störend sein?

Es heißt, kluge Frauen reden zu viel.

ENZENSBERGER: Wieso denn? Man kann doch aus Klugheit auch schweigen. Also das stimmt doch alles nicht. Das ist doch ganz dumm. Dummer Männerquatsch ist das, dummer Männerunsinn. Ich halte diese Trennung von Gefühl und Gedanke für künstlich und überflüssig. Wollten Sie darauf unser Gespräch aufbauen?

Nein.

ENZENSBERGER: Daß Sie das überhaupt vorbringen, finde ich unverzeihlich. Ein Denker, der beim Denken nicht fühlt, ist ein schlechter Denker. Zuerst muß eine Passion da sein. Der Körper muß mitspielen. Der Kopf allein genügt nicht. Das Denken ist eine vitale Beschäftigung.

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* Der Artikel hieß »Klamotten-Theater, ein Nekrolog auf die Mode« und erschien am 10. September 1993.

** Sender Freies Berlin

*** zitiert aus »Das Nullmedium« in: »Mittelmaß und Wahn«, erschienen 1991

**** Volksaufstand, der am 25. Dezember 1989 mit der Hinrichtung des Diktators Nicolaie Ceausescu endete

***** Versepos in 33 Gesängen, erschienen 1978

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Erschienen am 20. Januar 1995 in der ZEIT