Sie wollten als junger Mann Charakterdarsteller werden. Ihre Fernsehkarriere
haben Sie als Abstieg bezeichnet.
HANS-JOACHIM KULENKAMPFF: Ja, aber ich hatte auch großes Glück, denn müßte ich
heute mein Geld beim Theater verdienen, dann müßte ich vertreten, daß die Töchter
von König Lear auf der Bühne in einen Eimer pinkeln und der Herzog von Burgund
das dann säuft. Ich möchte auch nicht Hamlet auf dem Motorrad spielen oder mich
im Schlamm auf dem Boden wälzen. Den heutigen Regisseuren ist doch scheißegal,
was der Autor will. Ein gütiges Geschick hat mich davor bewahrt, das machen
zu müssen.
Auch über das Fernsehen haben Sie sich verächtlich geäußert.
KULENKAMPFF: Nicht verächtlich.
Man könne dreißig Programme empfangen, aber, Zitat: »Dreißigmal Scheiße ist
auch nur Scheiße.«
KULENKAMPFF: Das hat mein Sohn* gesagt.
Aber Sie wiederholen es gern.
KULENKAMPFF: Es ist ja auch richtig. Nur hat das nichts mit Verachtung zu tun.
Ich weiß, wie schwer es ist, Fernsehen zu machen. Was mich schmerzt, ist, daß
der Anspruch, mit dem wir angetreten sind, ich war ja von Beginn an dabei, ein
viel höherer war als der jener Leute, die heute das Sagen haben. Ich glaube,
daß das Fernsehen in den letzten vierzig Jahren das Verhalten der Menschen maßgeblich
beeinflußt hat. Wäre man einen anderen Weg gegangen, hätte man sie positiv beeinflussen
können.
Hat das Fernsehen die Menschen verblödet?
KULENKAMPFF: Es hat sie unempfindlich gemacht. Eine Untersuchung hat kürzlich
ergeben, daß in Amerika ein Kind von seinem vierten bis vierzehnten Lebensjahr
sechzehntausend Morde im Fernsehen sieht. Man sagt immer, der Mensch sei ein
Produkt seiner Umwelt. Zur Umwelt gehört auch das Fernsehen. Ich bin überzeugt,
daß die Brutalitäten und Gemeinheiten, die das Fernsehen von morgens bis abends
zeigt, zu einer Steigerung der Kriminalitätsrate führen.
Die Leute wollen das offenbar sehen.
KULENKAMPFF: Ja, aber sie müssen ja nicht alles, was sie wollen, bekommen. Wozu
gibt es Gesetze? Ließe man den Menschen immer tun, was er will, gäbe es auf
der Welt nur noch Mord und Totschlag. Man richtet sich nach den Einschaltquoten.
Die höchste Einschaltquote hätte eine Sendung, in der man Hinrichtungen zeigt.
Die Zuschauer müßten entscheiden können, ob das durch Erhängen, Vergasen oder
auf dem elektrischen Stuhl geschieht.
Das ist der Nachteil der Demokratie im Fernsehen.
KULENKAMPFF: Nein, das ist der Nachteil des Kapitalismus. Das Fernsehen ist
ein Riesengeschäft geworden. RTL erzielt allein in diesem Jahr mit nur tausend
Beschäftigten mehr als 200 Millionen Mark Reingewinn, und das wird sich noch
steigern.
Die Alternative wäre, dirigistisch von oben einzugreifen.
KULENKAMPFF: Nicht von oben, sondern von einem höheren Anspruch her. Ich bin
in einer Zeit jung gewesen, in der es noch gar kein Fernsehen gab. Damals war
die Kriminalität nicht so hoch.
Dafür gab es Krieg.
KULENKAMPFF: Ja, aber in den Krieg ist man doch aus hehren Motiven gezogen,
nicht aus den kleinen, gemeinen Beweggründen, aus denen man eine Bank überfällt.
In den Krieg ging man, um sein Vaterland zu verteidigen. Damals waren die Deutschen
noch Patrioten. Sie haben das letzte Hemd ausgezogen, haben ihr Gold geopfert,
ihre Skier, ihre Winterkleidung. Das macht heute keiner. Sie haben jeden Sonntag
Eintopf gefressen, und das alles aus Überzeugung, für ein gutes Ziel, wie sie
glaubten. Oder ist Patriotismus was Böses? Ich unterstelle auch Herrn Milosevic
nicht, daß er aus purer Bosheit in Bosnien einmarschiert.
Das Böse tarnt sich immer mit edlen Motiven.
KULENKAMPFF: Ja, sehen Sie! Keiner sagt, wir vernichten jetzt Babylon, damit
es endlich verschwunden ist. Die Araber sagen, wir vernichten Israel, damit
dort ein blühendes Reich Gottes entstehen kann. Jede Zerstörung wird erklärt
durch einen höheren Zweck.
Ist das nicht furchtbar?
KULENKAMPFF: Das ist die menschliche Natur. Schon Goethe sagte, weh dem, der
Böses in die Welt bringen muß. Der Mensch ist doch ein armes Schwein. Man muß
mit ihm Mitleid haben. Das Leben ist kein Honigschlecken. Schon die Tatsache
zu leben, ist eine Leistung. Deshalb habe ich Respekt vor einem Mann, der, sagen
wir, achtzig Jahre hat leben müssen. Der hat was geleistet, ob er wollte oder
nicht, ich bin ja jetzt selber ein alter Kacker, der hat geliebt, gesoffen,
geraucht, gelitten, war krank, gesund, hat Menschen verloren, die ihm nahestanden.
Das Leben als solches auszuhalten, ist schwer genug.
Was war das Schrecklichste in Ihrem Leben?
KULENKAMPFF: Das weiß ich nicht.
1957 ist Ihr erster Sohn bei einem Autounfall tödlich verunglückt. Er war vier
Jahre alt.**
KULENKAMPFF: Ja, das war sicher das Schrecklichste. Aber darüber rede ich nicht.
Ist es Ihnen unangenehm, öffentlich Schmerz zu zeigen?
KULENKAMPFF: Man sagt, es gibt eine Intimsphäre. Ich meine, die bezieht sich
auch auf das Psychische. Herr Adenauer hat sich beim Beten im Kölner Dom fotografieren
lassen. Das hat ihm vielleicht sogar Stimmen gebracht. Ich würde mich, ginge
ich in die Kirche, beim Beten nicht fotografieren lassen. Jeder intelligente
Mensch weiß, daß auch jemand wie ich schmerzliche Erlebnisse hatte. Ich bin
kein Mensch von einer gleichbleibenden Fröhlichkeit. Auch ich weine, wenn mir
danach zumute ist.
Sie haben im Zweiten Weltkrieg an der Ostfront gekämpft.
KULENKAMPFF: Wen interessiert denn das?
1943 wurden Sie mit erfrorenen Zehen in die Heimat entlassen.
KULENKAMPFF: Ja, die Zehen habe ich mir selbst abgeschnitten. Das hat auch Amundsen
getan. Warum soll ich das hier erzählen? Jeder anständige Mensch schneidet sich
im Winter die Zehen ab. Solche Katastrophen geraten mir, wenn ich darüber spreche,
schon nach kurzer Zeit zur Satire und nach vierzig Jahren zum reinen Blödsinn.
Ich habe im Krieg so viel Grauenvolles gesehen, Schlachtfelder, auf denen Tausende
Tote lagen. Das wird, Gott sei Dank, immer wieder vergessen. Sonst könnte man
gar kein normaler Mensch mehr werden. Auch was die Serben und Kroaten sich antun,
wird man in fünfzig Jahren vergessen haben.
Manche verdrängen es heute schon.
KULENKAMPFF: Ja, weil sie nicht persönlich betroffen sind.
Aber sie sehen die Fernsehbilder.
KULENKAMPFF: Das ist doch harmlos.
Zerstückelte Leichen, verstümmelte Kinder...
KULENKAMPFF: Man sieht im Fernsehen nicht, wie es geschieht, und wenn, dann
denken die Leute, es sei ein Krimi. Man stumpft ab mit der Zeit, und das muß
auch so sein. Wenn Sie im Krieg den ersten Erhängten sehen, zittern Sie noch
am ganzen Leib, dann sehen Sie einen zweiten und dritten, und schließlich interessiert
Sie das einen Scheiß, weil Sie ja nicht bei jedem Aufgehängten verrückt spielen
können. Gewöhnung kann auch etwas Positives sein.
Dumm sein und Arbeit haben, das ist das Glück.
KULENKAMPFF: Habe ich das gesagt?
Nein, Gottfried Benn.***
KULENKAMPFF: Ich kenne viele Blöde, die sehr unglücklich sind. Ich glaube nicht,
daß Dummheit glücklich macht. Ich möchte nicht noch dußliger sein, als ich es
ohnehin schon bin. Man kann durch Wissen alles mögliche werden, skeptisch, zynisch,
vielleicht sogar tolerant, unglücklich nicht.
Aber hoffnungslos.
KULENKAMPFF: Das ist richtig. Ich bin kein hoffnungsvoller Mensch. Ich könnte
mir denken, daß der Mensch auf die Erde gekommen ist, um sie irgendwann zu vernichten,
nicht mit Absicht, sondern weil sein Naturell es verlangt. Er will immer mehr
haben, alles vergrößern, verbessern, ewiges Wachstum. Dadurch bringt er sich
und alles andere um. In der Medizin werden Dinge erfunden, von denen man jetzt
schon weiß, daß sie uns schaden werden. Ich bin überzeugt, hätten wir die Möglichkeit,
etwas zu erfinden, um mit einem Knopfdruck einen ganzen Kontinent in die Luft
zu sprengen, wir würden diese Erfindung machen. Der Mensch will sich ausbreiten.
Er will besitzen. Was einer hat, müssen alle haben. Man verschuldet sich bis
zu den Haarwurzeln, um ein dickes Auto zu kaufen, ein Haus, eine Jacht, und
plötzlich, weil die Konjunktur ein bißchen rückläufig ist, geht ein großes Gezeter
los. Solange die Wirtschaft florierte, hat der Staat noch und nöcher Geld ausgegeben.
Nun gibt es einen Anflug von Stagnation, schon macht er Schulden wie ein Stabstrompeter,
obwohl es immer hieß, es käme überhaupt nicht in Frage, sich zu verschulden.
Sie hätten Politiker werden sollen.
KULENKAMPFF: Das wäre ich gern geworden, aber ich wäre es nur acht Tage geblieben.
Meine Frau sagt immer, ich müßte Diktator werden. Denn wenn ich etwas vorschlage
und es wird nicht so gemacht, wie ich sage, dann gehe ich. Ich kann doch nicht
die Verantwortung für, sagen wir, ein Finanzsystem übernehmen, wenn das, was
ich für richtig halte, nicht geschieht oder durch Kompromisse verwässert wird.
Ich würde zum Beispiel, um dem deutschen Osten auf die Beine zu helfen, eine
Vermögensabgabe beschließen. Unter Herrn Hitler wurde jede Rede mit einem »Sieg
Heil« auf den Führer beendet, nach 1948 hieß es, unser höchstes Ziel sei ein
wiedervereinigtes Deutschland. Das haben wir jetzt. Aber keiner ist bereit auch
nur eine Mark dafür zu bezahlen. Wir haben unserer Patriotismus auf den Müllhaufen
der Geschichte geworfen Als ich vor dreißig Jahren in einer Quizsendung das
Wort »DDR« benutzte, oh Gott, da haben sie alle geschrien. Herr Springer hat
mich in seiner Zeitung zur Sau gemacht. Aber wo sind sie jetzt, diese Superpatrioten,
diese Arschlöcher? Warum stiftet der Springer-Verlag nicht eine halbe Milliarde,
oder Herr Burda, Herr Bertelsmann? Was tu Mercedes für die Brüder und Schwestern
im Osten? Was macht BMW?
Sie haben sich auch später noch öfter den Mund verbrannt.
KULENKAMPFF: Ja, ich habe Herrn Geißler**** mit Goebbels verglichen. Das war
eine Verwechslung. Ich hatte Herrn Stoiber***** gemeint weil der sagte, die
Nationalsozialisten seien auch Sozialisten gewesen. Aber die schlimmste Verfolgung
habe ich dadurch erlitten, daß ich in einem offenen Brief den damaligen Außenminister
Willy Brandt als einen fähigen Politiker bezeichnete, den ich mir auch als Kanzler
vorstellen könnte. Das ging von Morddrohungen bis zu Bergen verpackter Scheiße,
die man mir mit der Post geschickt hat. Ich bekam Polizeischutz. Jetzt warte
ich auf die Entschuldigungsbriefe. Denn heute ist Herr Brandt der große Staatsmann,
der Friedensfürst. Herr Kohl hat gesagt, er habe sich oft bei ihm Rat geholt.
Warum entschuldigt sich der nicht bei mir?
Helmut Kohl hat Ihnen doch keine Scheiße geschickt.
KULENKAMPFF: Das weiß ich nicht. So weit, daß ich die Scheiße der Politiker
von der anderer unterscheiden kann, bin ich noch nicht. Aber das werde ich auch
noch lernen.
Demnächst werden Sie die ZDF-Sendung »Der große Preis« übernehmen.******
KULENKAMPFF: Ja, man hat mich auf Knien darum gebeten. Ich wollte nicht.
Der »Spiegel« hat Sie in diesem Zusammenhang als »TV-Geront« apostrophiert.
KULENKAMPFF: Ja, aber was ist ein Geront?
Ein Greis.
KULENKAMPFF: Im alten Sparta war das ein Mitglied eines aus achtundzwanzig weisen
Männern bestehenden Gremiums, das den König beraten hat. Das war ein ehrenwertes
Amt. Warum gibt es so etwas nicht in Deutschland? Darin würden, quer durch die
Parteien, die besten Köpfe sitzen, Helmut Schmidt, Hans-Jochen Vogel, Willy
Brandt, Franz Josef Strauß, Gott hab sie selig, auch weniger populäre Leute.
Die würden sich zu strittigen Fragen ein Urteil bilden, und wenn sie einig wären,
müßte sich der Kanzler an ihre Beschlüsse halten. Es ist doch falsch, das Wissen
so fähiger Politiker, nur weil sie ausgeschieden sind, nicht zu nutzen.
Wie weit, glauben Sie, beeinflussen einzelne Menschen den Verlauf der Geschichte?
KULENKAMPFF: Das hat Goethe in seinem Stück »Egmont« klar ausgedrückt. "Wie
von unsichtbaren Geistern gepeitscht, gehen die Sonnenpferde der Zeit mit unsers
Schicksals leichtem Wagen durch, und uns bleibt nichts, als mutig gefaßt die
Zügel festzuhalten und bald rechts, bald links, vom Steine hier, vom Sturze
da, die Räder wegzulenken."
Ziemlich fatalistisch.
KULENKAMPFF: Das finde ich nicht. Ein Fatalist ist ein Mensch, der sagt, mir
ist scheißegal, was passiert. Sie können sicher sein, daß ich, wenn ich mir
ein Bein breche, das schienen lasse, obwohl ich sagen könnte, ist doch wurst,
in ein paar Jahren bin ich sowieso tot.
Das ist der Selbsterhaltungstrieb.
KULENKAMPFF: Ja, den habe ich. Aber Sie können sich ja, wenn Sie wollen, in
den Garten setzen und warten, bis ein Fuchs kommt und Sie frißt. Die Geier tragen
dann Ihre Knochen davon. Wenn Ihnen alles egal ist, dann frage ich, warum leben
Sie?
Weil ich geboren bin.
KULENKAMPFF: Warum bringen Sie sich nicht um?
Weil dazu ein Motiv nötig ist. Auf die Welt kommt man ungefragt.
KULENKAMPFF: Soll ich Sie umbringen? Wenn Sie es mir schriftlich geben, daß
Sie das wollen, tue ich Ihnen den Gefallen aus Gastfreundschaft.
Besitzen Sie eine Waffe?
KULENKAMPFF: Ja, aber die darf ich nur innerhalb des Hauses benutzen. Ich meine,
Sie müssen doch einen Grund haben, warum Sie zu mir gefahren sind.
Ich muß ja Geld verdienen.
KULENKAMPFF: Das ist Quatsch. Sie können sich in Deutschland überall auf die
Straße legen, man wird Sie auflesen, in warme Decken hüllen und Ihnen beim Roten
Kreuz einen Tee verpassen. Dann kommen Sie in die Psychiatrie und werden behandelt.
In Deutschland kann heute niemand verhungern. Also warum lungern Sie hier herum?
Aus demselben Grund, aus dem Sie, wie Sie in einem Interview sagten, zur Fernsehunterhaltung
gekommen sind. Ich bin zu feige, um mein gesichertes Leben aufs Spiel zu setzen.
KULENKAMPFF: Sie haben recht, ich bin aus Feigheit zur Unterhaltung gegangen.
Ich wollte mein Kind ernähren. Es war kurz nach dem Krieg. Wir hatten kein Bad.
Meine Tochter mußte in einem Koffer schlafen. Das war sehr lustig. Ich war Schauspieler,
hatte schon den Orest gespielt, den Ferdinand in »Kabale und Liebe«, auch selbst
inszeniert. Nebenbei habe ich im Rundfunk Romane gelesen. Die Sendung hieß »Das
lebendige Buch«. Im gleichen Programm gab es ein Quiz, »Doppelt oder nichts«,
und als der Quizmaster ausfiel, sagte jemand, er kenne so einen Garderobenkomiker,
der könnte das vielleicht übernehmen. Darauf hat mich der Rundfunkintendant
zu sich kommen lassen und gefragt, ob ich es einmal probieren wolle. Mich hat
das überhaupt nicht interessiert. Aber ich fürchtete, wenn ich so unhöflich
wäre, das Angebot abzulehnen, würde man mir auch die Lesungen streichen. Ich
hatte Angst um meine achtzig Mark. So nahm das Unheil seinen Lauf oder das Heil.
Wollen Sie etwas trinken, ein Glas Wein, Sekt, Bier, Schnaps, Whisky, Kognak?
Nein, ich muß Auto fahren.*******
KULENKAMPFF: Das macht doch nichts. Die Ausfahrt werden Sie schon finden, und
alles andere wird sowieso vom Schicksal bestimmt.
War Ihr Vater Nationalsozialist?
KULENKAMPFF: Oh Gott, da fragen Sie mich was! Ich glaube nicht, daß er Parteimitglied
war. Den Hitler hat er abgelehnt, aber nicht aus politischen Gründen, sondern
weil Hitler Gefreiter war. Mein Vater war Offizier, und auch sonst gab es in
der Familie nur höhere Grade. Sogar ein General war darunter. Ich bin der einzige,
der es zu nichts gebracht hat.
Hatten Sie einen Widerwillen gegen das Militärische?
KULENKAMPFF: Ich hatte keine Lust, Leute zu drillen. Wer sich nicht gern befehlen
läßt, dem fällt es auch schwer, anderen zu befehlen. Mein Oppositionsgeist war
schon immer stark ausgeprägt. Dazu kommt meine Schwatzhaftigkeit und ein fanatischer
Freiheitswille.
Was verstehen Sie unter Freiheit?
KULENKAMPFF: Das tun zu können, was ich tun will.
Das setzt einen gewissen Wohlstand voraus.
KULENKAMPFF: Ja, Freiheit ist zunächst einmal Freiheit von Not. Der Mensch fühlt
sich frei, wenn er genug zu fressen hat. Er will ein Dach über dem Kopf, im
Winter einen warmen Arsch, fünf Stunden Arbeit am Tag und eine gesicherte Zukunft.
Ich habe einmal den bösen Satz gesagt, hätten die Bürger der DDR den Lebensstandard
der Schweiz gehabt, dann hätten sie sich gewünscht, daß man die Mauer noch höher
baue, damit wir nicht zu ihnen hinüberkommen. Die fühlen sich doch jetzt viel
unfreier als vor der Vereinigung, weil sie arbeitslos sind, kein Geld für die
Miete haben und sich nichts kaufen können. Etwas ganz anderes ist die geistige
Freiheit. Die gibt es überall. Denken können Sie auch in einer Diktatur, was
Sie wollen.
Nur müssen Sie es für sich behalten.
KULENKAMPFF: Das ist in einer Demokratie nicht viel anders. Da werden Sie zwar,
wenn Sie offen reden, nicht körperlich oder seelisch gefoltert, aber sie verlieren
Ihren Beruf, Ihr Renommee. Sie werden geschmäht und zur Sau gemacht. Der Herr
Stoiber hat als Mitglied des bayerischen Rundfunkrats eine ganze Fernsehserie
abgewürgt, in der ich spielen sollte. Die hieß »Der Donaudampfschiffahrtsgesellschaftskapitän«.
Die Drehbücher habe ich noch. Das sollten sechs Teile werden. Dadurch ist mir
eine Viertelmillion an Gage entgangen. Es ist falsch zu glauben, wir hätten
hier Redefreiheit. Man muß sich auch in einer Demokratie genau überlegen, ob
man riskieren will, seinen Lebensstandard zu senken, indem man sagt, Herr Möllemann
ist ein Arschloch oder Herr Waigel oder Herr Blüm.********
---------------
* Kai Joachim Kulenkampff, praktizierender Arzt in Wien
**) Der Unfall ereignete sich auf der Autobahn
zwischen Stuttgart und Ulm. Kulenkampffs PKW, den seine Frau Gertraud lenkte,
geriet, als sie einem ausscherenden Lastwagen ausweichen wollte, von der
Fahrbahn ab und überschlug sich mehrmals.
***) Gottfried Benn, "Eure Etüden":
Eure Etüden,
Arpeggios, Dankchoral
sind zum Ermüden
und bleiben rein lokal.
Das Krächzen der Raben
ist auch ein Stück -
dumm sein und Arbeit haben:
das ist das Glück.
Das Sakramentale -
schön, wer es hört und sieht,
doch Hunde, Schakale
die haben auch ihr Lied.
Ach, eine Fanfare,
doch nicht an Fleisches Mund,
daß ich erfahre,
wo aller Töne Grund.
****) Heiner Geißler, CDU, von 1977 bis 1989 Generalsekretär seiner Partei, 1982 bis 1985 Bundesminister für Jugend Familie und Gesundheit, 1991 bis 1998 stellvertretender Fraktionsvorsitzender im Bundestag
*****) Edmund Stoiber, CSU, 1988 bis 1993 bayerischer
Innenminister, danach bis 2007 bayerischer Ministerpräsident
******)
"Der große Preis“, von Wim Thoelke bis Dezember 1992 moderiertes
TV-Ratespiel, von Kulenkampff im Januar 1993 übernommen, aber wegen sinkender
Zuschauerzahlen schon im Juni wieder abgegeben. Seine Nachfolgerin wurde die
Münchner Fernsehmoderatorin Carolin Reiber. 1994 wurde die Sendung ganz
eingestellt.
*******)
Das Interview fand in Kulenkampffs Haus in Seeham bei Salzburg statt.
********) Jürgen Möllemann, FDP, von 1991 bis 1993
Bundeswirtschaftsminister (2003 Selbstmord mit dem Fallschirm); Theo Waigel,
CSU, von 1989 bis 1998 Bundesfinanzminister; Norbert Blüm, CDU, 1982 bis 1998
Bundesarbeitsminister
----------
Erschienen am 24. Dezember 1992 in der ZEIT