Interview mit George Tabori



Sie sind Jude. Ein Großteil Ihrer Familie ist von den Deutschen ermordet worden. Ihr Vater wurde vergast.

GEORGE TABORI: Ja, in Auschwitz.

Welche Ihrer Angehörigen sind noch umgekommen?

TABORI: Es war so. Meine Eltern wohnten in Budapest, wo es zu Anfang des Krieges für Juden noch nicht so gefährlich war. Andere Familienmitglieder waren in der Tschechoslowakei und Rumänien, zwei Onkel in Zagreb. Der eine war Stoffhändler, der andere hatte ein Grammophongeschäft. 1941 ist mein Vater überall hingefahren, hat sie gesammelt und nach Ungarn geholt. Eine Zeitlang haben in unserer kleinen Wohnung zwanzig Leute gelebt.

1944 ordnete Hitler die Vernichtung der Juden in Ungarn an.

TABORI: Ja, mein Bruder und ich waren schon emigriert.

Was geschah mit den anderen?

TABORI: Onkel Geza, der Stoffhändler, und Onkel Alex, der einen Buchladen hatte, kamen nach Auschwitz. Tante Martha, eine Schwester meiner Mutter, und Tante Gisela sind anderswo umgekommen. Es gab auch mehrere Cousins und Cousinen. Tante Bella ist schon vorher an Krebs gestorben. Ihre Tochter ist einmal hinausgegangen, um Brot zu kaufen. Man hat sie dann ohne Kopf gefunden, von einer Granate zerfetzt. Das war während der Belagerung durch die Russen, die besonders lange gedauert hat, denn in Budapest hatten sich 30 000 Deutsche verschanzt.

Was fühlen Sie, wenn Sie heute an diese Ereignisse denken?

TABORI: Ich fühle Schmerz.

Nicht auch Haß auf die Mörder?

TABORI: Nein.

In Deutschland werden wieder jüdische Gräber geschändet und Synagogen in Brand gesteckt.

TABORI: Ich weiß.

Haben Sie Antisemitismus auch am eigenen Leib erfahren?

TABORI: Nein. Ich lebe hier seit fünfundzwanzig Jahren, aber ich habe noch keinen Nazi getroffen.

In München sind Sie telefonisch beleidigt worden.

TABORI: Ja, einmal.

Man schlug Ihnen vor, Ihr nächstes Stück in einem Ascheneimer auf dem Oktoberfest aufzuführen.

TABORI: Das war der einzige Fall. Ich weiß, daß es Nazis gibt, aber es interessiert mich nicht, nachzubohren. Mir sind die Paradejuden zuwider, die einen Lebensinhalt aus dieser Frage machen, Ralph Giordano et cetera. Ich mag diese Leute nicht, die sagen, hier sind die Juden und auf der anderen Seite die bösen Deutschen. Ich habe das nie so empfunden, auch während des Krieges nicht. Das kann ein Fehler sein.

Ein Thema, das Sie immer wieder beschäftigt hat, ist die eigene Schuld.

TABORI: Ja.

Obwohl Sie doch Opfer, nicht Täter waren.

TABORI: Ich fühlte mich schuldig als Überlebender, den Toten gegenüber. Ich hatte ein verhältnismäßig leichtes Leben im Krieg. Ich habe wenig gelitten, denn ich bin schon 1936 nach London gegangen.* Ich war nie in einer ähnlichen Situation wie diese zwanzig Verwandten. Erst nach dem Krieg ist mir bewußt geworden, welchem Schrecken ich dadurch entkommen war.

Besonders schuldig fühlten Sie sich Ihrem Vater gegenüber.

TABORI: Darüber habe ich geschrieben, ja. Aber ich weiß nicht, was daran wirklich stimmt. Wenn man das eigene Leben so wie ich literarisch verarbeitet hat, kann man zwischen Wahrheit und Fiktion nicht unterscheiden. Wahrscheinlich sind meine Schuldgefühle schon früher entstanden, denn ich war in der Familie der Sonnyboy. Mein Bruder, der sechs Jahre älter war, kränkelte dauernd, begann erst sehr spät zu sprechen und wurde verprügelt. Ich habe schon mit eineinhalb Jahren sehr schön gesprochen, trug Gedichte vor und wurde geliebt. Ich war der Günstling, den alle mochten. Ich erinnere mich, daß ich einmal, als ich merkte, daß mein Bruder schmollend in einer Ecke saß, beim Aufsagen eines Gedichtes, um ihn nicht zu verletzten, mit Absicht genuschelt habe. Ich habe mich klein gemacht. Das tue ich heute noch.

Sie schreiben, Sie hätten Ihrem Vater als Knabe den Tod gewünscht.

TABORI: Ja, aber ich bin nicht sicher, daß das wirklich so war. Ich habe Freud gelesen, und da steht, jeder Junge möchte den Vater töten.

Sie haben das nicht auf sich bezogen?

TABORI: Doch, auch. Es gab schon Konflikte. Mein Vater war politischer Journalist und hat mich, als ich fünfzehn, sechzehn war, als Sekretärin benutzt. Ich mußte seine Artikel tippen, denn er konnte das nicht. Vielleicht habe ich ihn deshalb gehaßt. Später habe ich darüber eine Kurzgeschichte geschrieben, die leider verloren ging. Darin gibt es ein Gespräch zwischen meiner Schreibmaschine und mir. Die Schreibmaschine will, daß ich politische Bücher schreibe, aber ich schreibe nur dumme Liebesbriefe. Dagegen wehrt sie sich. Am Schluß dreht sie durch und springt aus dem Fenster. Mein Vater hat das gelesen und mich dafür sehr gelobt.

Als sie von seinem Tod erfuhren, fragten Sie sich, ob Sie den Nazis nun danken sollten.

TABORI: Naja, das war mein schwarzer Humor, in den ich geflüchtet bin.

Sie seien, so schreiben Sie, hin- und hergerissen gewesen zwischen Erleichterung und Rachegefühlen.

TABORI: Das war nicht ernst gemeint.

Martin Heidegger spricht von der Schuld des Menschen von Anfang an, die allein darauf beruht, daß man lebt und andere sterben.

TABORI: So kann man es sehen. Jemand, der annimmt, daß das Schuldgefühl im Leben eine Konstante ist, muß nach Erklärungen suchen.

In Ihrem Roman »Original Sin«, zu deutsch »Erbsünde«, der 1947 erschien, beschreiben Sie einen Mann, der seine Frau umgebracht hat. Er fragt sich nach dem Motiv und kommt dahinter, daß er sich schuldig fühlte, weil er in seiner Jugend an dem Abend, an dem sein Vater starb, in einem Bordell gewesen war. Das Schuldgefühl ist der tiefere Grund für die Tat.

TABORI: Daran habe ich nicht gedacht, als ich das schrieb. Das sind Sublimierungen.

Ja, aber leicht zu entschlüsseln.

TABORI: Achtzig Prozent aller Schriftsteller schreiben Mördergeschichten. Woher das kommt, weiß ich nicht. Ich habe das damals nicht analysiert.

Hätten Sie Ihren Vater vor der Deportation retten können?

TABORI: Ich glaube, ja. Es wäre möglich gewesen. Denn ich war britischer Presseoffizier und wußte, daß es in Ungarn für die Juden gefährlich wird. 1941 habe ich ihn aus Istanbul angerufen und nur so beiläufig gesagt, er solle mich doch mit der Mutter besuchen kommen. Also ich habe ihn nicht gedrängt. Das habe ich mir nie verziehen. Ich habe die Lage harmloser dargestellt, als sie war.

Wider besseres Wissen?

TABORI: Ja.

Warum?

TABORI: Das weiß ich nicht. Das ist eine Sache, die ich einmal untersuchen sollte.

Sind Sie ein gläubiger Jude?

TABORI: Nein.

Vielleicht ist das der Grund.

TABORI: Das kann sein. Ich habe das Jüdische in mir bis zu einem gewissen Zeitpunkt verdrängt. Es gab auch in Ungarn schon vor dem Krieg Antisemiten. Ich habe nicht hingesehen. Ich wollte nicht, daß man mir sagt, du bist so oder so. Ich wollte selbst bestimmen, wann ich mich als Jude fühle, wann nicht.

Das war nach dem Holocaust nicht mehr möglich.

TABORI: Nein. Spätestens nach Auschwitz mußte ich mich mit der Tatsache, daß ich Jude bin, auseinandersetzen. Gleich nach dem Krieg habe ich einen Roman begonnen. Der hieß »Pogrom«. Darin wollte ich das Leben in einem KZ beschreiben. Doch dann merkte ich, daß das nur jemand kann, der selbst dort gewesen ist. Danach habe ich zwanzig Jahre gewartet, bis ich mich mit dem Thema wieder beschäftigt habe.

Daraus entstand Ihr Theaterstück »Die Kannibalen«.**

TABORI: Ja. Damals lebte ich noch in Amerika.

Zuvor hatten Sie sich einer Psychotherapie unterzogen.

TABORI: Ja, weil ich nicht weiterkam. Ich hatte 500 Seiten für eine erste Szene geschrieben, endlose Notizen. Aber es wurde nichts. Deshalb bin ich zu einer Therapeutin gegangen, einer alten, fast tauben Dame. Der habe ich ganz tolle Träume erzählt. Ich dachte, sie hört mich nicht. Eines Tages gestand ich ihr, daß ich das meiste erfunden hatte. Darauf sagte sie, das sei nicht schlimm, auch aus Lügen könne man über einen Menschen sehr viel erfahren. Von da an habe ich mich mit meiner Lügerei abgefunden.

Wann stand für Sie fest, daß Sie Schriftsteller werden?

TABORI: Das stand schon immer fest, denn meine Familie war voll von Schreiberlingen, wenn auch nicht guten. Mit achtzehn habe ich meinen ersten Roman geschrieben. Der hieß »Greta« und basierte auf einer schlechten Erfahrung mit einer Frau. Da ist etwas Seltsames passiert. Ich hatte vor, daß sich die Frau am Ende das Leben nimmt. Ich wollte sie dafür, daß sie mich verlassen hatte, bestrafen. Doch als ich im letzten Kapitel zu ihr ins Zimmer kam, lag sie im Bett und war ganz okay. Sie hat sich geweigert, sich umzubringen. Die Figur hat sich gegen den Autor gewehrt. Das war ein sehr schönes Buch. Leider ist es verschollen.

Albert Camus hat behauptet, im Grunde wünscht sich jeder Mann den Tod der Geliebten.

TABORI: Das ist übertrieben.

Interessieren Sie sich für das Böse im Menschen?

TABORI: Ja, aber ich weiß nicht, ob ich darüber sprechen will.

In Ihrem Theaterstück »Mein Kampf« zeigen Sie sogar für Hitler Verständnis.

TABORI: Natürlich.

Seine Untaten erklären Sie damit, daß er in seiner Jugend keine Liebe bekam.

TABORI: Wie soll man es sonst erklären?

Auch der Jago in Ihrer Inszenierung von Shakespeares »Othello« wird zum Verbrecher, weil er sich ungeliebt fühlt.

TABORI: Ja, aber das ist nicht der einzige Grund. Erklärungen sind immer fragwürdig, auch wenn sie einleuchtend scheinen. Davon abgesehen glaube ich schon, daß die Liebe aus uns bessere Menschen macht.

Meinen Sie, das Böse ist aus der Welt zu schaffen?

TABORI: Die Welt ist so groß.

Sie sind Optimist?

TABORI: Nein.

Wie schützen Sie sich vor der Verzweiflung?

TABORI: Indem ich Theater mache. Wenn man so viel arbeitet wie ich, ist man von allem anderen abgelenkt. Was sonst in der Welt geschieht, erlebt man dann nur als Geschichten, die in der Zeitung stehen.

In einem Aufsatz mit dem Titel »Spiel und Zeit« schreiben Sie über Ihre Theaterarbeit: »Wir haben absolut nichts geleistet, als den gleichen Scheiß mit einer anderen Brühe oder Soße neu anzurichten, und all diese Klagen, diese Wut, wofür? Ein bißchen Macht, eine gelegentliche Eitelkeitssalbung, und alles im Namen der Kunst.«

TABORI: So dachte ich damals.

Wie denken Sie heute?

TABORI: Soll ich offen sein?

Bitte.

TABORI: Ich bin seit einem Jahr in einem Zustand der Unsicherheit. Ich weiß nicht mehr, woran ich mich halten soll.

Haben Sie den Spaß am Theater verloren?

TABORI: Wenn ich auf die Probe gehe, entstehen schon Lustgefühle. Ich bin mit Menschen zusammen. Die sagen dies und das. Die wollen etwas. Das lenkt mich ab für eine gewisse Zeit. Doch dann kommt plötzlich der Gedanke, ich will nicht mehr, ich höre auf.

Möchten Sie etwas anderes machen?

TABORI: Ich bin auf der Suche. Ich frage mich, was ich bin, wer ich bin. Das ist neu. Das hat vielleicht mit meinem Alter zu tun. Ich habe mich früher viel mit der Vergänglichkeit des Lebens beschäftigt, aber ich habe nie wirklich daran geglaubt. Ich dachte, ich würde ewig leben. Das geht jetzt nicht mehr, und ich weiß nicht, wie ich damit zurechtkommen soll.

Haben Sie Angst vor dem Sterben?

TABORI: Nein, aber ich denke daran. Ich hatte voriges Jahr einen Schlaganfall. Ich habe durch eine mißglückte Operation einen Teil meiner Sehkraft verloren. Ich bin halb taub. Dazu kommt, daß eine Beziehung zu Ende ging, die zehn Jahre gedauert hat.

Meinen Sie Ihre Ehe?

TABORI: Nein.

Sie hatten eine Geliebte?

TABORI: Ja.

Weiß Ihre Gattin davon?

TABORI: Sie weiß es, und sie ist wunderbar. Sie hat darunter gelitten, aber sie hat es hingenommen. Sie ist eine Heilige.

Das kann man leicht sagen, wenn man mit einer anderen ein Verhältnis hat.

TABORI: Was hätte ich machen sollen? Es war eine Art von Besessenheit und ist es noch immer. Diese Liebe hat mich am Leben gehalten. Die Frau*** ist um vieles jünger als ich. Als sie sagte, daß sie sich trennen wolle, habe ich den Generösen gespielt. Ich dachte, ich würde gut damit fertig werden. Aber dann schlug der Körper zurück. Ich wurde krank. Ich habe seit vorigen Sommer nichts mehr geschrieben. Ich kann mich nicht mehr so ausdrücken, wie ich es früher konnte. Es gibt einen englischen Spruch, der heißt, I've lost my girlish laughter, ich habe mein mädchenhaftes Lachen verloren. Wahrscheinlich ist es das Ende. Ich will es noch nicht akzeptieren. Ich wehre mich. Aber im Unbewußten, dort, wo die Wahrheiten liegen, habe ich resigniert.

Nur weil diese Frau Sie verlassen hat?

TABORI: Ja.

Aber in diesem Zustand können Sie doch morgen nicht auf die Probe gehen.

TABORI: Ich hoffe, daß es bis morgen besser wird.

Sie inszenieren ein Stück von Hans Magnus Enzensberger.****

TABORI: Ja, es ist schwer, weil Enzensberger nichts von Theater versteht. Aber ich mag ihn. Ich muß es tun. Es wird meine letzte Arbeit auf dem Theater sein.

Was kommt danach?

TABORI: Ich will wieder schreiben. Mir gehen jede Nacht, wenn ich nicht schlafen kann, Ideen für neue Stücke im Kopf herum.

Erzählen Sie.

TABORI: Die erste Geschichte handelt von einem Ehepaar, das in Portofino auf Urlaub ist. Der Mann schreibt Kriminalromane. Zufällig wohnt im selben Hotel ein Kritiker, der ihn immer verrissen hat. Das Ehepaar beschließt, den Kritiker umzubringen. Doch der sitzt nebenan in der Bar und hört alles mit. Als die beiden gehen, spricht er den Schriftsteller an und sagt, was er sich ausgedacht habe, sei genauso schlecht wie seine Romane. Darauf faßt das Ehepaar einen neuen Plan. Die Frau soll den Kritiker, indem sie ihn verführt, in eine Falle locken. Aber auch das geht schief, weil der Kritiker die Absicht durchschaut. Gefällt es Ihnen?

Na ja.

TABORI: Es gefällt Ihnen nicht.

Doch, es ist witzig.

TABORI: Ich habe mir gestern nacht auch gedacht, warum erfinde ich so blöde Geschichten, mit denen ich mir nie wirklich nahe komme? Ich bin auf der Suche nach etwas, das verdrängt in meinem Inneren liegt. Aber ich weiß noch nicht, was es ist.

Vielleicht sollten Sie sich für eine Weile zurückziehen, um es herauszufinden.

TABORI: Das kann ich nicht. Ich kann nicht mit Hunden und Katzen und meiner Frau zu Hause sitzen.

Nein, aber ohne Hunde und Katzen und Ihre Frau.

TABORI: Ohne Liebe?

Ohne Ablenkungen.

TABORI: Sie haben recht. Ich müßte es ausprobieren.

Ihr sehnlichster Wunsch, sagen Sie, sei es, einmal zwei so präzise Sätze wie Franz Kafka zu schreiben.

TABORI: Ja, aber um wie Kafka schreiben zu können, müßte ich mehr gelitten haben. Mir ging es zu gut. Ich hatte keinen wirklichen Leidensweg. Ich bin vor dem Leiden davongerannt. Man kann nicht genial und gleichzeitig glücklich sein. Ich habe mich mit meiner Mittelmäßigkeit abgefunden. Ich bin ein mittelmäßiger, in Ungarn geborener Fremdling, der zufällig auch geschrieben hat.

Nach dem Krieg arbeiteten Sie als Drehbuchautor in Hollywood.

TABORI: Das habe ich gemacht, um Geld zu verdienen.

Zu Ihrem Bekanntenkreis gehörten Berühmtheiten wie Thomas Mann, Brecht, die Garbo, Charly Chaplin und Tennessee Williams.

TABORI: Mit Chaplin war ich befreundet. Brecht war für mich wichtig, weil ich durch ihn zum Theater kam. Die Garbo hatte, als ich sie traf, ihre Glanzzeit schon hinter sich. Aus Angst vor Falten klebte sie sich Pflaster über die Stirn. Auf einer Geburtstagsparty bin ich einmal nach ihr auf die Toilette gegangen. Sie hatte vergessen herunterzulassen. Das hat mich schockiert. Ich war damals noch ziemlich bürgerlich. Tennessee Williams lernte ich später kennen. Als sein Stück »Die Katze auf dem heißen Blechdach« Premiere hatte, haben wir uns auf dem Broadway getroffen. In Amerika sitzt ein Autor bei der Premiere nicht im Zuschauerraum, sondern geht vor dem Theater spazieren. Wie Sie wissen, gibt es am Broadway viele Theater, die nah beieinander liegen. Aus einem drang, als wir vorbeigingen, lautes Gelächter. Williams war entsetzt. Er fragte mich: Warum lachen die Leute? Ich zeigte auf das Plakat über dem Eingang. Wir standen vor dem falschen Theater. Er hatte gedacht, sein Stück würde ausgelacht. Für einen amerikanischen Autor ist es das Schlimmste, wenn die Premiere danebengeht.

Für Sie nicht?

TABORI: Nein, mir hat das nie so viel ausgemacht.

Ihren letzten großen Mißerfolg hatten Sie mit dem Stück »Der Großinquisitor« in München. Einige Zuschauer verließen während der Vorstellung den Saal. Am Schluß wurden Sie ausgebuht.

TABORI: Das hat mich amüsiert, weil achtzig Prozent des Textes von Dostojewski sind.

Der Theaterkritiker Peter Iden konstatierte »senile, zotige Geschwätzigkeit« und meinte, Sie hätten Christus beleidigt.

TABORI: Peter Iden ist ein Antisemit.

Ein harter Vorwurf.

TABORI: Sonst hätte er nicht so geschrieben.

Auch andere Kritiker fanden das Stück und die Inszenierung mißlungen.

TABORI: Mir hat es gefallen. Aber natürlich findet man immer Fehler. Perfekt ist nur Gott. Peter Stein mag glauben, daß er Vollkommenes schafft. Das ist sein gutes Recht. Ich glaube das nicht. Mich hat im Theater immer das Leben, nicht die Kunst interessiert. Das erste Kunstwerk, das ein Mensch produziert, ist seine Scheiße. Eine meiner frühesten Erinnerungen ist, daß ich auf dem Topf sitze, während drei Frauen, meine Großmutter, meine Mutter und das Kindermädchen, um mich herum stehen und mich überreden wollen, hineinzumachen. Es war schwer, aber ich habe mich sehr bemüht, denn damals war es üblich, Kindern, die auf dem Topf versagten, einen Einlauf zu machen. Davor hatte ich Angst. Vielleicht habe ich deshalb heute so große Scheu, auf Schauspieler Zwang auszuüben.

Claus Peymann hat Sie, bezogen auf Ihre Regiearbeit, als »absolute Sau« und» Tyrannen erster Güte« bezeichnet.

TABORI: Mit Peymann ist es nicht leicht. Ich habe ihn unlängst in einem Interview einen Lügner genannt. Er war sauer auf mich. Darauf habe ich ihm einen Brief geschrieben und ihm erklärt, daß das Lügen nichts Böses sei.

Gab es einen besonderen Grund für Ihre Behauptung?

TABORI: Nein, er lügt dauernd, und er weiß, daß er lügt. Er weiß auch, daß ich es weiß. Er ist das Gegenteil von mir. Aber ich mag ihn trotzdem. Mein nächstes Stück wird »Der Lügner« heißen.

Das gibt es schon von Goldoni.

TABORI: Das macht nichts. Auch »Peer Gynt« ist ein Stück über das Lügen. Wir lügen alle, weil wir die Wahrheit nicht kennen oder verschweigen, wenn wir sie kennen. Darauf ist unsere ganze Zivilisation aufgebaut.

In Ihrem Stück »Goldberg-Variationen« sagt die weibliche Hauptfigur: »Tiere sind die besten Schauspieler, weil sie nicht lügen.«

TABORI: Ja, Gobo ist als Schauspieler wunderbar.

Wer?

TABORI: Mein Hund.

Leider haben Sie es auf dem Theater mit Menschen zu tun.

TABORI: Ich habe auch schon Tiere verwendet, Schafe, Elefanten, sogar einen Geier. Der war sehr klug und sehr lieb.

Können Sie den Unterschied zwischen Ihrer Art, zu probieren, und der Ihrer Kollegen beschreiben?

TABORI: Ich versuche, meine Führungsposition nicht herauszukehren. Ich lasse den Schauspielern so viel Freiheit wie möglich. Ich behandle sie nicht als Gegenstände. Für mich ist der Schauspieler wichtiger als die Rolle. Ich animiere ihn, seine wahren Gefühle zu zeigen.

Offenbaren Sie auf der Probe auch Ihre Gefühle?

TABORI: Nein.

Sie beobachten, wie sich die Schauspieler seelisch entblößen.

TABORI: Ja, ich möchte sie kennenlernen.

So entsteht Macht.

TABORI: Wieso?

Weil Sie der Überlegene bleiben.

TABORI: Ich gebe zu, daß es mir schwerfällt, aus mir herauszugehen. Ich kann zum Beispiel nicht weinen. Ich habe meine wichtigsten Jahre in England verbracht. Dort lernt man, sich zu beherrschen. Ich finde das falsch. Aber ich kann es nicht ändern. Ich bin ein verschlossener Mensch. Man sieht mir nicht an, was ich fühle.

Auch nicht, wenn Sie lieben?

TABORI: Doch. Wenn ich liebe, werde ich kindisch und blöd. Liebe wirkt regressiv. Man verliert die Kontrolle.

Das klingt jetzt so negativ.

TABORI: Nein, es ist positiv. Ich habe mir immer gewünscht, in den Armen einer Geliebten zu sterben.

In Ihrem Stück »Peepshow« stirbt der Held, während er mit der eigenen Mutter schläft. Seine letzten Worte sind: »Ich freue mich, euch anzuzeigen, daß ich heute nacht starb, im Schoß meiner gesegneten Mutter, zurückkehrend mit einem zärtlichen Krampf in den intimsten aller Familienkreise.«

TABORI: Ja, er formuliert seinen Nachruf. Das ist eine Anspielung auf die Geschichte des Ödipus, die ich für das perfekteste Drama halte. Ich war, als ich das schrieb, therapeutisch beeinflußt.

Samuel Beckett haben Sie als pathologischen Fall bezeichnet.

TABORI: Dazu stehe ich. Beckett war durch das Verhältnis zu seiner Mutter geprägt. Sein ganzes Leben war von Pathologie bestimmt. Anfangs hat er sich dagegen gewehrt. Später erkannte er, daß er über nichts anderes sprechen kann. Er nannte das seine Dunkelheit. Er wußte nun, wer er war. Er akzeptierte sich. Das hat ihn befreit. Erst danach hat er seine berühmten Werke geschrieben.

Sie teilen die Menschen in Gesunde und Kranke ein.

TABORI: Wir sind alle krank.

Wären wir gesund, sagen Sie, hätte es kein Auschwitz gegeben.

TABORI: Und keinen Beckett.

Ist das nicht furchtbar?

TABORI: Was?

Daß aus derselben Quelle das Schrecklichste und das Schönste entsteht.

TABORI: Es ist ein Witz, und jeder gute Witz ist eine Tragödie. Deshalb wird es das Theater noch geben, wenn es längst kein Kino und kein Fernsehen mehr gibt, als Abbild der Wirklichkeit und als Zuflucht für die, die es machen. Denn wir Theatermacher sind Fliehende. Wir retten uns in eine Art Utopie. Eine Theaterprobe spiegelt für kurze Zeit das ideale Leben wieder. Menschen treffen sich. Sie haben ein gemeinsames Ziel. Sie arbeiten. Sie diskutieren. Und am Ende findet nicht der Tod, sondern eine Premiere statt.

Werden Sie darauf verzichten könnten?

TABORI: Wahrscheinlich nicht.

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*) George Tabori, geboren am 24. Mai 1914 in Budapest, floh 1936 über Wien und Prag nach London, war zwei Jahre Leutnant der britischen Armee, ging 1947 nach Hollywood und arbeitet seit 1969 als Theaterautor und Regisseur in Deutschland und Österreich.

**) Das Stück, in dem Insassen eines Konzentrationslagers die Leiche eines Mithäftlings verspeisen, wurde 1968 am Berliner Schiller-Theater uraufgeführt.

*** die Schauspielerin Leslie Malton

**** "Delirium"

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Erschienen am 6. Mai 1994 in der ZEIT