Interview mit Elisabeth Bergner 1973

(anläßlich ihrer Dreharbeiten zu Maximilian Schells Film "Der Fußgänger" in München)



Mögen Sie es, befragt zu werden?

ELISABETH BERGNER: Nein, überhaupt nicht. Ich hasse es. Je weniger wir über Persönliches reden, desto wohler werde ich mich fühlen. Ich gebe Ihnen dieses - wie sagt man? - Interview nur, weil ich über Maximilian reden möchte.

Wie hat er Sie dazu gebracht, nach so langer Zeit wieder zu filmen?

BERGNER: Ja, das ist ein großes Wunder. Seine Assistentin rief mich in London an, aber ich sagte, nein, ich fühle mich sehr geehrt, aber lasse sehr danken, tut mir sehr leid, ich will nicht. Zu meiner ungeheuren Überraschung hat sie geantwortet: Warum nicht? Das hat mich völlig überrumpelt. Da habe ich ganz dumm gesagt, na, das kann ich Ihnen am Telefon nicht erklären. Dann hat Maximilian mir das Skript geschickt, und obgleich die Szene mit mir gar keine Texte hatte und ich überhaupt keinen Zusammenhang sah mit dem Rest des Filmes, habe ich von da an die Einladung viel ernster genommen. Ich habe ihn gefragt, warum er mich bräuchte, da sagte er, das könne er mir am Telefon nicht erklären, und dann ist er ganz unverbindlich zu mir gekommen und hat mich so überzeugt von der Reinheit und künstlerischen Ehrlichkeit seiner Bemühungen, daß ich mich verhaftet gefühlt habe, da mitzumachen, und wenn ich nur die Bleistifte für ihn hätte spitzen müssen.

Wissen Sie inzwischen, was Sie in der Rolle zu machen haben?

BERGNER: Überhaupt nichts. Ich sitze mit sechs anderen uralten Damen* um einen Tisch herum. Wir reden lauter Unsinn und trinken Tee.

Was ist der Inhalt des Unsinns?

BERGNER: Das darf ich nicht sagen. Wir unterhalten uns über Vergangenheit und Gegenwart und Zukunft, geben unsere Weisheiten zum Besten. Ich verlasse mich vollkommen auf Maximilian, daß er weiß, warum er das braucht.

Sie waren schon in den Zwanzigerjahren ein Theater- und Stummfilmstar. 1930 drehten Sie ihren ersten Tonfilm, "Ariane". Belastet es Sie, mit der eigenen Legende zu leben?

BERGNER: Das ist sehr weit weggerückt heute. Es ist mir endlich gelungen, das wegzuschieben. Ich nehme an, daß ich zu der Zeit, als das kam, als es mir neu war, als sich diese Karriere aufbaute von Rolle zu Rolle, davon schon sehr besoffen war. Aber ich war genügend drin, so daß ich mich heute nicht mehr erinnern kann, wie es mir geschmeckt hat. Ich weiß nur, daß es, je älter ich wurde, mehr und mehr von mir fortgerückt ist, so daß ich mich jetzt ziemlich außerhalb dieser Legende befinde.

Kennen Sie das Theaterstück von Peter Handke, »Der Ritt über den Bodensee«, in dem Sie als Mythos erscheinen?

BERGNER: Ich kenne es, aber ich hab's nicht verstanden. Man hat es mir geschickt, ich hab' es gelesen. Bei meinem ersten Auftreten schreibt er: Elisabeth Bergner tritt auf, sie ist sehr schön. Da hab' ich gelacht und gedacht: Das ist ein Genie! Ich muß ehrlich sagen, ich hab' es dann nicht mehr verstanden. Aber ich hab' die Berliner Aufführung gesehen und fand sie bezaubernd.

War es Ihr Ehrgeiz, ein Filmstar zu werden?

BERGNER: Nein, bestimmt nicht. Das ist ohne mein Zutun geschehen. Ich wußte ja gar nicht, wie ich wirke. An die Wirkung von Stimme und Augen habe ich nie gedacht. Aber sicher hatte ich die Ambition, spielen zu können. Den Erfolg wollte ich schon, ganz ohne Frage.

In einem Interview aus dem Jahr 1928 haben Sie die Faszination, die von Ihnen ausging, mit dem Wort "Instinkt" zu erklären versucht.

BERGNER: Das würde ich auch heute noch sagen. Ich bin zu meinen Charakterisierungen ohne jedes Konzept gekommen. Ich habe nie ein Konzept gehabt und auf Proben nie viel gewonnen. Ich war nie eine Probenschauspielerin. Ich habe immer erst mit dem Publikum angefangen, eine Rolle zu formen, und dann war es da.

Die Regisseure waren nicht wichtig...

BERGNER: Das will ich nicht sagen, daß sie nicht wichtig waren. Aber sie waren nicht immer Helfer, das heißt, sie haben mich oft nicht befreien können von meiner Befangenheit auf den Proben, von der Angst, die ich vor jeder Rolle hatte. Ich hatte vor jeder Rolle furchtbare Angst. Der beste für mich war der Hilpert**. Und im Film waren nur die Drehbücher wichtig. Ich habe immer selbst mitgearbeitet am Drehbuch.

1957 hat Sie der Theaterkritiker Stephan Linhardt folgendermaßen beschrieben: »Seltsam brüchig und erregend gurrt eine leise, lockende Stimme, aufflackernd aus der zarten, zerbrechlichen Gestalt eines naiv-kapriziösen Weibkindes... hilflos und rührend im Zucken der schmalen Schultern, im leichten Aufschlag des träumenden Blickes, im bebenden Heben der Brauen, in der beseelten Geste der Blumenhände.« Was dachten Sie, als Sie das über sich lasen?

BERGNER: Ich hab's nicht gelesen. Wenn Sie das alles gelesen haben, gebe ich Ihnen den Rat, suchen Sie darin nicht mich, suchen Sie den Schreiber!

Sehen Sie sich die Theaterstücke und Filme von heute an?

BERGNER: Selbstverständlich. Ich sehe jedes Stück und jeden Film... fast jeden. Diese Sachen, wo man nur schießt und mordet, oder diese Sexfilme, die interessieren mich nicht. Nachdem ich es ein paarmal angeschaut und himmelschreiend gefunden habe, will ich das nicht mehr sehen.

Sie mußten als Jüdin 1933 aus Deutschland emigrieren, kehrten 1954 zurück, aber sie blieben nicht. Warum leben Sie heute wieder in London?  

BERGNER: Weil ich mich dort wohl fühle. Ich habe mich in England verliebt. Außerdem hat mich sehr unglücklich gemacht, was ich in Deutschland in der Literatur und auf dem Theater sehe. Ich finde hier so viel Haß, so viel erschreckende Respektlosigkeit vor Namen wie Luther und Goethe und Schiller. Das verstehe ich nicht. Das ist doch grauenhaft, diese vollkommen unbegründete, böswillige, sinnlose Zerstörung, ohne etwas dafür zu geben, ohne es wirklich erklären zu können. Das beklage ich sehr. Ich habe gefragt, warum zum Beispiel der Dieter Forte in seinem Stück den Luther kaputtmacht.*** Man hat mir gesagt, weil er in den Bauernkriegen versagt hat. Aber das ist doch lächerlich. Man hat doch eine Intelligenz, die dazu da ist, um zu messen, worauf dieser Ruhm eines Goethe oder Luther beruht, was die uns gegeben haben. Ein Dichter wie Schiller, der gesagt hat, mein Herr, geben Sie Gedankenfreiheit, und die Tür zu einer Revolution aufgemacht hat, auf diesem Satz basieren doch alle Revolutionen, und da macht man einen Popanz daraus! Dieser Zynismus ist Unbildung, Blindheit. In diese Luft habe ich mich nie zurückgesehnt. In England ist das ganz anders. Da haben die Schriftsteller und Regisseure Einfälle, ohne darauf angewiesen zu sein, einen Shakespeare oder Marlowe, einen ihrer Götter, in Stücke zu reißen, damit sie ihren Namen als Sensation irgendwo gedruckt sehen können. Das ist in England ganz unvorstellbar. Ein wirkliches Talent muß nicht zerstören... Aber ich habe das Gefühl... ich hoffe... ich rieche, daß man aus dieser Negation wieder herauskommt... So, und jetzt schmeiße ich Sie hinaus!

-----------------------

*) Käte Haack, Johanna Hofer, Lil Dagover, Francoise Rosay, Peggy Ashcroft und Elsa Wagner

**)  Heinz Hilpert (1890 - 1967), Theaterregisseur

***) Dieter Forte, »Martin Luther & Thomas Münzer oder die Einführung der Buchhaltung«, uraufgeführt 1970 in Basel

-------------


Erschienen am 6. Februar 1973 in der Münchner "Abendzeitung"