Wie wichtig ist für Sie Selbstbeherrschung?
EGON BAHR: Sehr wichtig.
Trotzdem haben Sie öffentlich geweint, als Willy Brandt stürzte.
BAHR: Wenn ich gewußt hätte, daß Fernsehkameras auf mich gerichtet sind, hätte
ich es unterdrückt.
Sind Sie so sehr Herr Ihrer Gefühle?
BAHR: Nicht Herr der Gefühle. Aber ich hätte den Ausdruck des Gefühls wohl unterdrücken
können.
Empfinden Sie es als unmännlich, zu weinen?
BAHR: Nein, das ist Quatsch.
Soll eine Frau im Bundestag das auch unterdrücken?
BAHR: Ich finde, ja. Das hat mit Unterschieden zwischen Mann und Frau überhaupt
nichts zu tun.
Hat es Ihnen politisch geschadet?
BAHR: Nein, aber das ist doch keine Frage der Nützlichkeit, sondern das ist,
wenn Sie so wollen, ein Ergebnis meiner humanistischen Bildung. Ich habe gelernt,
man muß sich beherrschen. Das kann falsch sein. Aber Gefühle nicht zu zeigen,
bedeutet ja nicht, keine Gefühle zu haben. Es muß einen Bereich geben, in dem
der Mensch er selbst ist, ohne das nach außen zu kehren.
Denken Sie bei dem, was Sie tun, nie an die Folgen für Ihr politisches Wirken?
BAHR: Oh doch! Aber um alles in der Welt, wir sind doch auch Menschen. Absolut
gesehen, muß der politische Mensch immer noch Mensch bleiben, das heißt, er
kann nicht für sich in Anspruch nehmen, Übermensch zu sein, sonst wird es schrecklich.
Einen, der jede Schwäche ablehnt, halte ich für gefährlich. Man kann von einem
Staatsmann Autorität erwarten. Autorität und Demokratie schließen einander nicht
aus. Autorität aber erfordert die Fähigkeit einer gewissen Selbstbeherrschung.
Ich verlange von einem Politiker, der Verantwortung trägt für das Schicksal
vieler, mehr Selbstkontrolle, als ich sie von einem Normalbürger verlange. Insofern
ist der Normalbürger freier.
Wie weit soll das gehen? Soll der Politiker eine Maske tragen?
BAHR: Nein. Ich sage nicht, daß ich etwas anderes scheinen will als ich bin,
sondern ich sage, ich muß kühl und überlegt bleiben gerade in schwierigen Situationen.
Ich muß berechenbar bleiben. Ich darf nicht ausflippen in Drucksituationen.
Sonst funktioniert es nicht.
Was funktioniert nicht?
BAHR: Man hätte dann keine Führung.
Was wäre die Folge?
BAHR: Das Chaos.
In Ihrem Buch "Was wird aus den Deutschen?" schreiben Sie, es sei zweifelhaft, ob die Massenkommunikationsgesellschaft den jeweils besten Mann an die Spitze wählt oder den, der sich nur am besten verkauft.
BAHR: Diesen Satz habe ich geschrieben, weil das Auswahlprinzip in Amerika für
mich mit großen Zweifeln verbunden ist. Ich stelle fest, daß sich
Ermüdungserscheinungen in der Demokratie ergeben. Ich bin sicher, daß es in
Amerika erstklassige Leute gibt, ich bin aber nicht sicher, daß diese Leute
auch an die Spitze kommen.
Und in Deutschland?
BAHR: Unser Auswahlprinzip ist jedenfalls besser. Denn bei allem, was gegen den
mühsamen Prozeß des Sich-Durchsetzens in den Parteien gesagt werden kann,
glaube ich doch, daß er eine bessere Schule ist als der Weg über die public
relations, der in Amerika darüber entscheidet, ob jemand hochkommt.
Trotzdem ist ein Bundeskanzler Egon Bahr unvorstellbar.
BAHR: Abgesehen davon, daß ich das gar nicht sein will und auch nie sein
wollte, muß man die eigenen Grenzen kennen. Wenn Sie zusammenstellen, was alles
von einem Kanzler verlangt wird, dann gibt es nur relativ wenige, die das
erfüllen. Ich verlange von einem Kanzler Charakter, geistige Stärke, übrigens
auch physische Stärke, denn um das durchzustehen, muß man auch körperlich stark
sein. Ich verlange außerdem, daß von einem Kanzler eine gewisse Ausstrahlung
und Überzeugungskraft ausgeht.
Was fehlt Ihnen von diesen Eigenschaften?
BAHR: Ich bin kein großer Volksheld. Nehmen Sie Adenauer! Dessen große Kunst
war es, komplizierte Vorgänge sehr einfach darstellen zu können. Das ist nicht
meine Stärke. Ich bin zu sehr an die Überzeugung gebunden, daß Dinge sehr
differenziert und kompliziert sind und daß Nuancen entscheidend sein können.
In welchem Maße erfüllt der gegenwärtige Kanzler, Helmut Kohl, Ihre
Forderungen?
BAHR: Erstens hat er Machtbewußtsein, das ist schon sehr wichtig, zweitens
vermittelt er immer noch, allerdings nachlassend, das Gefühl, Probleme lösen zu
können. Ob seine Kraft politisch und intellektuell ausreicht, ist jedoch
fraglich.
Kann die Kraft eines Staatsführers überhaupt ausreichen, die heute anstehenden
Probleme zu lösen?
BAHR: Es gibt keinen omnipotenten Politiker. Aber daß wir objektiv fähig wären,
über global gültige Kriterien und Regeln zu sprechen, denen sich dann alle zu
unterwerfen hätten, damit, erstens, der Friede erhalten bleibt und, zweitens,
unsere Umwelt nicht zerstört wird, steht für mich außer Frage. Die oberste
Priorität heute ist, dafür zu sorgen, daß die Welt nicht untergeht durch die
Entfesselung atomarer Kräfte. Die zweite Priorität wird sein, dafür zu sorgen,
daß die Menschheit nicht ihre Lebensgrundlagen vernichtet. Es wäre schon eine
gewaltige Sache, eine Stabilisierung des Verbrauchs zu erreichen, auch eine
Stabilisierung der zunehmenden Zahl von Menschen. Diese Aufgabe erfordert eine
Revolution des Denkens, die in den Köpfen der Entscheidungsträger beginnen muß.
Wäre es nicht auch ein Fortschritt im Denken, würden die Politiker Ihre
Verzweiflung eingestehen angesichts der Probleme, die sie nicht lösen können?
BAHR: Das glaube ich nicht. Denn wenn die Menschheit nicht lernt, vernünftig zu
sein, wird sie zugrunde gehen.
Verzweiflung ist doch nicht unvernünftig.
BAHR: Nein, aber was heute not tut, ist Einsicht. Wir müssen zu der Erkenntnis
kommen, daß nicht Zuwachs der Wert an sich ist, sondern die Selbstbegrenzung.
Der Weg über die Verzweiflung ist nur der zweitbeste Weg, denn da werden erst
ein paar Millionen mehr Menschen sterben müssen, entweder durch einen Atomkrieg
oder durch blanken Hunger. Sicher ist die Situation im Prinzip so, daß man
andauernd schreien müßte. Aber Schreien überzeugt nicht.
Wo beginnt bei Ihnen persönlich die Selbstbegrenzung, also der Verzicht auf
materiellen Zuwachs?
BAHR: Diese Frage finde ich schrecklich.
Aber man muß doch so fragen. Ihre Konzepte sind einleuchtend. Aber was ändert
sich?
BAHR. Es ist eine gewaltige Änderung eingetreten, zum Beispiel dadurch, daß
Sie es für richtig halten, mit mir über diese Konzepte zu sprechen,
zweitens dadurch, daß so viele Menschen in so vielen Erdteilen zeigen, daß sie
die Dimension der Probleme ahnen, noch nicht erkennen, noch nicht intellektuell
durchgedacht haben, aber ahnen. Das ist eine tolle Veränderung. Insofern ist
der Instinkt dieser Menschen manchmal mehr wert als der Bewußtseinsstand von
Politikern mit dem Ergebnis, daß solche Fragen politische
Entscheidungskriterien werden. Das ist nicht mehr zurückzudrehen.
Was ahnen die Menschen?
BAHR: Daß der wirtschaftliche Zuwachs nicht das einzige Kriterium für eine
bessere Zukunft ist.
Für diese Erkenntnis kämpfen Sie.
BAHR: Ja.
Aber Sie verzichten auf nichts.
BAHR: Sehen Sie mal, es würde doch keinen Sinn machen, zum Beispiel auf das
Telefon zu verzichten. Ich muß doch die Instrumente, die da sind, benutzen.
Nur, ich darf mich nicht zum Sklaven der Instrumente machen. Ich muß sie
beherrschen.
Wieviel Luxus brauchen Sie?
BAHR: Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Ich habe relativ früh relativ viel
verdient, denn ich gehörte schon 1950 zu den bestbezahlten Journalisten in
Deutschland. Ich war Bonner Korrespondent beim RIAS und habe zusätzlich für den
westdeutschen und hessischen Rundfunk Kommentare gesprochen. Geld ist etwas
Schönes, wenn man nicht davon abhängig ist.
Was haben Sie sich mit Ihrem Reichtum geleistet?
BAHR: Ich habe mir 1950 für fünftausendachthundert Mark einen Mercedes gekauft. Achthundert Mark hatte ich gerade übrig, die fünftausend habe ich mir geliehen und in Raten zurückgezahlt. Das empfand ich als richtigen Luxus, fast ein bißchen gewagt.
Ihr
politisches Leben begann 1946. Sie durften zum erstenmal wählen.
BAHR: Ja, ich hab‘ SPD gewählt.
Warum?
BAHR: Weil ich den Mut der Sozialdemokraten bewunderte, die Zwangsverschmelzung
mit den Kommunisten abzulehnen. Es sollte doch in West-Berlin die SPD mit der
KPD zur SED verschmolzen werden.
Was empfanden Sie, als Sie Ihr Kreuz in der Wahlzelle machten?
BAHR: Es war ein Gefühl, Einfluß zu haben, und zwar vor dem Hintergrund einer
Zeit, in der es lange so gewesen war, daß der einzelne seine Meinung nicht
dokumentieren konnte, sondern von außen bestimmt war. Ich empfand das als etwas
Großes.
Fühlen Sie sich heute vergleichsweise ohnmächtig, obwohl Ihr Einfluß weit
größer ist?
BAHR: Bis zu einem gewissen Grad ja.
Darf das ein Politiker sagen, ohne seine Karriere aufs Spiel zu setzen?
BAHR: Er darf sagen, daß er sich ohnmächtig fühlt, er darf sogar sagen, daß er
pessimistisch ist. Aber es gibt einen grundlegenden Unterschied zwischen jenen,
die die Politik beobachtend begleiten, und jenen, die etwas verändern wollen.
Bei ersteren stellt sich das Gefühl der Ohnmacht nicht so leicht ein.
Andererseits kann sich ein Politiker einbilden, er trüge etwas bei zur
Veränderung.
BAHR: Das mag sein. In der Politik gibt es natürlich auch Leute, die glauben,
sie könnten Politik durch Aktion ersetzen, und eine
Selbstbeschäftigungseuphorie entwickeln. Ich will keine Namen nennen.
Braucht ein Politiker Phantasie?
BAHR: Na, unbedingt. Ich glaube, daß die Phantasie, gespeist aus den
Erkenntnissen dessen, was heute wahrzunehmen ist in der Verlängerung auf die
Zukunft, für die Politik unentbehrlich ist, wenn sie mehr sein soll als nur
Verwaltung. Phantasie setzt sich um im Denken und dann im Reden und Schreiben.
Churchill hat gesagt, es gibt nichts Großes, das nicht als Utopie begann. Ich
muß die Phantasie haben, mir etwas vorstellen zu können, bevor ich darauf
hinstreben kann. Insofern sind Politik und Philosophie Verwandte.
Hegel sah im Politiker nur ein Werkzeug im vorherbestimmten Lauf der
Geschichte.
BAHR: Ganz so ist es nicht. Ich glaube, der Mensch ist in der Lage, sein
Schicksal selbst zu bestimmen. Sicher gibt es da Grenzen, aber der
Entscheidungsraum, den wir haben, ist groß genug. Ich bin nicht der Auffassung,
daß wir einem Kismet gegenüberstehen, einer Vorherbestimmung, ohne selbst etwas
tun zu können.
Wie groß sind die Chancen, einen Weltuntergang abzuwenden?
BAHR: Weniger als 50 Prozent. Das hat sich in den letzten Jahren sogar noch
verschlechtert, weil der Lernprozeß der Menschen sehr langsam vor sich geht.
Wir tun zu wenig, um die Umweltfragen zu lösen, zu wenig, um die Entwicklung
auch nur zu stoppen, in der wir darauf zusteuern, unseren Planeten unbewohnbar
zu machen. Wir sind auch zu sehr Gefangene von Machtideen des 19. Jahrhunderts,
einem Freund-Feind-Denken, ohne zu realisieren, daß wir alle, auch bei
politisch unterschiedlicher Auffassung, dazu verdammt sind, auf diesem Planeten
zu leben oder zu sterben.
Wie wirkt sich das Wissen, daß das Ende der Menschheit mit mehr als
50-prozentiger Wahrscheinlichkeit bevorsteht, auf Ihren Alltag aus?
BAHR: Ich kann schlechter schlafen.
Haben Sie Angst?
BAHR: Wer bei den heutigen Möglichkeiten der Entwicklung keine Angst hat, ist
für mich unbegreiflich.
Also ist Ihnen Ihr Parteifreund Helmut Schmidt unbegreiflich, der gesagt hat:
„Fürchtet euch nicht! Angst ist etwas Irrationales“.
BAHR: In dieser Haltung ist er mir unbegreiflich, ja. Aber ich sage auch, ich
darf mich der Angst nicht ergeben. Ich sehe eine Entwicklung, die ich für
schrecklich halte, aber ich darf trotzdem nicht resignieren, sondern muß
angehen gegen diese Entwicklung.
Wohin die Angst führt, kann man nicht wissen.
BAHR: Nein, aber es gibt da einen Unterschied zwischen dem politisch Handelnden
und dem politisch Nicht-Handelnden.
Ein Politiker darf die Angst nicht zeigen, weil das seine Karriere gefährdet.
BAHR: Nein, Entschuldigung, die Frage ist doch, ob die Angst der Ausdruck eines
Gefühls ist oder das Ergebnis von Wissen. Ich sage, die Welt wird untergehen,
wenn sie nicht lernt, der Vernunft zu folgen, aber diese Vernunft muß auch die
Ursachen der Angst einschließen.
Nehmen Sie Schlaftabletten?
BAHR: Manchmal, nicht immer. Ich hab‘ zum Beispiel schlecht schlafen können
während der Gespräche mit Herrn Gromyko 1970 in Moskau. Ich bin nachts
aufgewacht, denn das Gehirn arbeitet weiter, und bin alle Argumente wieder und
wieder durchgegangen, die kritischen Punkte, die möglichen Antworten. Aber ich
habe keine Schlaftablette genommen, weil ich am nächsten Tag klar sein wollte,
lieber etwas müde, denn die Müdigkeit verschwindet in dem Augenblick , wo man
am Tisch sitzt, da wird etwas eingeschossen, Adrenalin. Ich hab‘ auch während
der Schlußphase der Genfer Abrüstungsverhandlungen letztes Jahr* sehr
schlecht geschlafen. Immer wieder kamen diese verdammten Raketen. Ich bin aufgewacht
und hab an Raketen gedacht.
Warum haben Sie ihrer Aufstellung zugestimmt?
BAHR: Weil ich die politische Entwicklung falsch eingeschätzt habe.
Darf sich ein Politiker irren?
BAHR: Er darf sich irren. Aber das bedeutet nicht, daß er nicht an Erkenntnissen
festhalten muß, die er einmal gewonnen hat. Meine Überzeugung, daß
Entspannungspolitik notwendig ist, hat sich durch die irrtümliche Einschätzung
einzelner Faktoren überhaupt nicht verändert. Ich sehe nach wie vor dazu keine
Alternative. Würde ich von dieser Auffassung abgehen, müßte ich sagen, ich habe
mich so grundsätzlich geirrt, daß das einem Scheitern gleichkäme. Dann müßte
ich aufhören.
Scheitern ist nicht erlaubt.
BAHR: Augenblick! Jetzt müssen wir mit Vokabeln vorsichtig umgehen. Wenn ich
mir die hinter uns liegende Wahlen vorstelle, dann kann ich in meinen Zielen
gescheitert sein. Dieses Scheitern ist nicht nur erlaubt, es ist manchmal sogar
unausweichlich. Ich glaube, daß ein politischer Charakter sich nicht entwickeln
kann ohne Niederlagen. Wie man mit Niederlagen fertig wird, entscheidet über
die Kraft eines Menschen. Wenn ich aber feststellen müßte, daß die
Grundauffassungen falsch sind, die ich seit zwanzig Jahren vertrete, wäre das
ein Scheitern, das Konsequenzen hätte.
Sie müßten Ihren Beruf aufgeben.
BAHR: Ja.
Wäre das schlimm für Sie?
BAHR: Ziemlich schlimm, denn das ist doch ein wesentlicher Teil meines Lebens.
Können Sie im Privatleben Ihren Beruf vergessen?
BAHR: Das totale Abschalten gibt es für einen Politiker nicht, genauso wenig
wie für einen Forscher, einen Schriftsteller oder Komponisten. Jemand, der
komponiert, komponiert immer. Wenn der am Meer spazierengeht, läuft das Gehirn
weiter. Etwas anderes ist die Fähigkeit zur Entspannung. Ich kann entspannen
während der Sportschau. Auch ein Western ist für mich echte Erholung.
Wann haben Sie Zeit nachzudenken?
BAHR: Da sehe ich einen Mangel. Da besteht die Gefahr, daß die Instrumentarien
und Apparate, die in Gang gehalten werden wollen und die den Terminkalender vorschreiben,
so beherrschend werden, daß das Nachdenken zu kurz kommt. Ich habe die Zeit zum
Nachdenken zum Beispiel, wenn ich die Bahn statt das Auto benutze. Aber ich
gebe zu, hier sind Schwierigkeiten. Ich sehe die Entartungserscheinungen der
Demokratie.
Aber welches System wäre besser? Die Diktatur ist keine Alternative.
Die haben Sie kennengelernt.
BAHR: Ja.
Sie sind im Dritten Reich aufgewachsen.
BAHR:
Ja, ich war siebzehn, als der Krieg begann.
Stimmt es, daß Sie sich über die Erfolge der deutschen Wehrmacht freuten?
BAHR: Ja, das war ein Irrtum. Andere haben auch ihre Jugendirrtümer. Ich bin in
dem Zwiespalt aufgewachsen, Hitler eigentlich für ein Unglück zu halten, aber
doch nicht wünschen zu können, daß meinem Land ein Unglück passiert. Also fand
ich die Olympischen Spiele in Berlin und den Einmarsch in Österreich fabelhaft.
Das war ganz primitiver Stolz. Mein Vater hatte gesagt, es kommt Krieg, und
wenn Krieg kommt, gehen wir unter. Aber bis 1939 gab es gar keinen Krieg,
sondern Deutschland wurde immer schöner und größer, und als es dann anfing,
habe ich festgestellt, wir gehen nicht unter, sondern wir siegen.
Waren Sie durch die Nazi-Propaganda beeinflußt?
BAHR: Ja, keine Frage, vom Rundfunk, von der Umgebung und auch von der
klassischen Bildung. Denn das ist natürlich auch ein Stück Römertum, daß der
einzelne wenig ist und daß man bereit sein muß, sich und andere zu opfern, wenn
es um Rom geht.
Würden Sie sich heute notfalls für Deutschland opfern?
BAHR: Also die Mittel heiligen nicht den Zweck, und nicht jeder Zweck heiligt
die Mittel. Ich bin heute, mühsam genug, zu der Auffassung gekommen, daß alle
Einzelziele sich unterzuordnen haben der Erhaltung der Menschheit, das heißt
der Erhaltung des Friedens.
Ist für Sie eine Lage denkbar, in der ein Bundeswehrsoldat schießen muß?
BAHR: Das ist die Frage, wie weit Verteidigungsbereitschaft oder
Verteidigungsfähigkeit friedenserhaltend ist oder nicht. Die Rechtfertigung der
gesamten Verteidigungspolitik besteht darin, friedenserhaltend zu wirken.
Aber man gibt doch jemandem nicht ein Gewehr in die Hand, damit er nie
abdrückt.
BAHR: Doch. Der einzige Sinn ist es, nicht abzudrücken.
Das ist ein logischer Widerspruch.
BAHR: Das ist exakt der logische Widerspruch der Abschreckung, mit dem wir
leben müssen. Deshalb komme ich zu dem Ergebnis, daß man die Strategie der
Abschreckung bald wird ersetzen müssen. Was aber ersetzt Abschreckung? Die
Erkenntnis, daß wir nur noch gemeinsam Sicherheit haben können, also nicht mehr
vor, sondern mit dem möglichen Gegner, das heißt erstens, ich brauche keine
neuen Waffensysteme, ich brauche keine Weltraumwaffen, ich brauche auch keine
Laserwaffen. Wenn ich das habe, habe ich Stabilität. Dann kann ich zu der
Erkenntnis kommen, ich brauche weniger, als jetzt da ist, um gemeinsam sicher
zu sein, das heißt, ich werde an eine Rüstungsreduktion denken können und
dadurch Luft bekommen, mich anderen, wichtigeren Aufgaben zuzuwenden.
Was
war Ihr Berufswunsch als Jugendlicher?
BAHR: Ich wollte Musik studieren. Aber das ging nicht, weil ich eine jüdische
Großmutter hatte. Mein Wunsch war, Pianist und vielleicht Dirigent zu werden.
Ich hatte vom Chorsingen her Sinn für Polyphonie. Ich war berauscht von der
Möglichkeit, mit demselben Orchesterstück die unterschiedlichsten Empfindungen
hervorzurufen, je nachdem, wie man es macht. Das ist für mich noch heute ein
Wunder.
1942 wurden Sie eingezogen.
BAHR: Ja, und da ich ein lauffauler Mensch bin, habe ich mich zur Luftwaffe
gemeldet. Zwei Jahre später bin ich aus der Wehrmacht entlassen worden, weil
man meine nicht-arische Herkunft gefunden hatte.
Wie
erlebten Sie das Ende des Krieges?
BAHR: Ich dachte, Gott sei Dank, ich bin mit heilen Knochen herausgekommen,
Gott sei Dank, das liegt hinter mir, Gott sei Dank, ich kann jetzt alles
machen. Ich war damals noch in Berlin, und dort waren wir nun plötzlich
konfrontiert mit allem, was es in den Jahren davor nicht gegeben hatte, mit
amerikanischen, britischen, französischen und russischen Filmen und
Theaterstücken und Büchern. Die Kultur der ganzen Welt wurde uns plötzlich dort
hingebracht. Man konnte fast besoffen werden vor Fülle.
Verstehen Sie den Drang eines Teiles der Nachkriegsgeneration, im Drogenkonsum
das Abenteuer zu suchen?
BAHR: Das ist etwas, das ich rational nicht erklären kann. Ich halte es aber
für möglich, daß nach etwas mehr als einer Generation, die das eigene Erleben
eines Zusammenbruchs, wie ich ihn kenne, nicht haben kann, fast atavistische
Haltungen entstehen. Ich kann mir, wenn das einmal ausbricht, sogar noch
Schlimmeres vorstellen als diese Drogengeschichte. Wenn ich sage, daß ich
Selbstbeherrschung für wichtig halte, dann heißt das auch, gegen solche Gefühle
anzugehen, die uns angeboren sind, die wir aber überwinden müssen, weil uns der
Ausbruch in das Abenteuer Krieg eben versperrt ist. Es gibt andere Arten von
Abenteuern mit der Möglichkeit, das eigene Leben aufs Spiel zu setzen. Es gibt
die Flucht in den Terrorismus, die Flucht aus der Gesellschaft, die Flucht in
den Krawall, es gibt aber auch die Flucht in den Dienst in Entwicklungsländern.
Es gibt auch das geistige Abenteuer, das allerdings in Depression enden kann.
BAHR: Ja, das ist auch eine Möglichkeit.
Der
amerikanische Diplomat George Kennan erklärt den Rüstungswahn als eine Art
Todessehnsucht, die aus einer unbewußten Verzweiflung kommt.
BAHR: Ich weiß nicht, ob das Verzweiflung sein muß. Es kann auch schlicht Dummheit oder die Unfähigkeit sein, das Notwendige zu erkennen. Die Mehrheit der Menschen heute ist nicht verzweifelt.
Woher wissen Sie das?
BAHR: Die meisten Menschen heute sind doch im großen und ganzen zufrieden. Man sagt, es ist schon ganz gut, so wie es ist, als einzelner habe ich sowieso nicht die Möglichkeit, etwas zu ändern, also weiter wie bisher, in meinem überschaubaren Kreis habe ich mein Auskommen und sogar die Hoffnung auf mehr.
Mehr Wohlstand?
BAHR: Ja, denn das ist das, was man greifen kann, und das möchte man dann auch haben. Aber das darf nicht so bleiben, weil wir uns in einer existentiell bedrohlichen Lage befinden, wie es sie in der Geschichte der Menschheit noch nie gegeben hat. Es gibt eine amerikanische Sekte, die sagt, wir haben den Boden nicht von unseren Vätern geerbt, sondern von unseren Kindern geliehen. Das hat mich beeindruckt, denn es zeigt die Verantwortung, die die heutige Generation gegenüber ihren Nachfolgern hat, damit die überhaupt noch entscheiden können. Bisher war es so, daß sich die Menschheit vor den Gewalten der Natur schützen mußte, heute muß der Mensch die Natur schützen, und zwar vor sich selbst. Man kann sehr skeptisch sein, ob wir das schaffen werden. Aber trotz dieser Skepsis ist Resignation nicht erlaubt. Ich glaube, der Mensch ist verpflichtet, die Welt zu erhalten.
Von wem hat er den Auftrag?
BAHR:
Von der Schöpfung.
Sie meinen, von Gott?
BAHR: Nein, ich mache keine Rangordnung zwischen einem Gott und der Schöpfung.
Ich kann mir Gott nicht vorstellen als ein bestimmendes Wesen, sondern nur als
etwas, das im existierenden All vorhanden oder damit identisch ist.
Was bedeutet für Sie Familie?
BAHR: Nach rückwärts gesehen, also in Bezug auf mein Elternhaus, erinnere ich mich an viele Dinge gern und an viele nicht so gern. Gespräche, Weihnachtsfeiern, Sonntage, wundervoll! Aber es war da auch eine Atmosphäre der Enge, die zum Teil durch die politischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten bedingt war. Mein Vater war Lehrer. Also wir litten nicht Not. Aber es herrschte doch eine gewisse Kleinbürgerlichkeit.
Und heute?
BAHR: Heute empfinde ich zwischen meinem politischen Leben und meinem Leben daheim keinen Bruch. Ich muß mich zu Hause nicht von meinem beruflichen Leben erholen. Gut, ich kann aus dem Korsett der Pflichten ein bißchen heraus. Ich empfinde es zum Beispiel als Erholung, keine Krawatte tragen zu müssen oder etwas zu lesen, eine Mozart-Biographie oder ein Stück Philosophie.
Warum müssen Sie beruflich Krawatte tragen?
BAHR: Eine berechtigte Frage. Leben ist auch Stil. Ich kann mir nicht
vorstellen, daß ich zu einem Empfang, einer Besprechung oder einer Verhandlung
mit einem Ausländer keine Krawatte trage. Aber ich gebe zu, ich habe mir
darüber Gedanken gemacht. Als ich in Israel mit dem Regierungschef und dem
Außenminister verabredet war, kam ich mit Krawatte, und die hatten keine. Ich
fand das hinreißend. Ich habe festgestellt, daß deren Verantwortungsbewußtsein
und Position überhaupt nicht darunter litten, daß sie da mit offenem Hemdkragen
saßen, und ich habe sofort mitgemacht, mit großem Vergnügen. Aber bei uns ist
das anders, und man sollte das Löcken wider den Stachel auf wesentlichere Dinge
verschieben als auf die Kleiderordnung.
Sie schreiben in Ihrem Buch, das emotionale Klima in der SPD sei kälter
geworden.
BAHR: Ja.
Erwarten Sie von der Partei, daß sie Ihr Liebesbedürfnis befriedigt?
BAHR: Nein. Ich wollte damit etwas anderes sagen. Solange die Partei ein
Außenseiter in der Gesellschaft war und um ihre Anerkennung im Staat ringen
mußte, hat sie gegen die Gesellschaftsordnung und gegen den Staat gekämpft. Das
war nur möglich in der Atmosphäre eines inneren Zirkels, einer in sich
geschlossenen Sondergesellschaft. Mief ist warm. Wärme ist angenehm. Aber Mief
stinkt. In dem Maße, in dem die SPD Teil des Staates geworden ist, diesen Staat
sogar bestimmt und gesagt hat, das ist mein Staat, ist dieses Gefühl der
internen Geborgenheit allmählich zurückgegangen. Bis zu einem gewissen Grad
mußte das sein. Die Frage ist nur, ob es so weit gehen muß, daß auch das Gefühl
der Zusammengehörigkeit darunter leidet. Die Art, in der man heute in der SPD
miteinander umgeht, ist zuwenig unterschieden von der Art des Umgangs innerhalb
der CDU oder FDP. Ich meine, ein Stückchen Solidarität im Umgang miteinander
sollte sich die SPD doch erhalten.
Sind in der SPD die besseren Menschen?
BAHR: Nein, aber die konservativen Parteien sind kälter unter dem Gesichtspunkt
von Machterhaltung. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. In der Taktik sind uns
Konservative oft überlegen, während Sozialdemokraten mehr die Gesellschaft, das
heißt das Leben der Menschen in dieser Gesellschaft verändern wollen. Sie haben
eine Vorstellung von menschlichem Zusammenleben, die emotionaler ist, mehr auf
Tuchfühlung, weniger auf Ellbogen ausgerichtet.
Aber Politik verlangt Härte.
BAHR: Ja, gut...
Vielleicht sind Sie dafür zu verletzlich.
BAHR: Heute weniger als früher.
Hat es Sie verletzt, als man Ihnen im Zusammenhang mit Ihrer Ostpolitik den Ausverkauf deutscher Interessen vorwarf?
BAHR: Ja, das hat mich verletzt. Aber nachdem ich mich selbst geprüft habe, kann
es mich heute nicht mehr verletzen, denn ich weiß, daß es nicht stimmt.
Die Entspannungspolitik gegenüber dem kommunistischen Osten ist Ihre politische Lebensleistung.
BAHR: Wahrscheinlich, ja, und das war auch ein Stück des eigenen Lebens, das da mit eingebracht wurde, und wenn das funktioniert, dann kann man sich eigentlich nichts Schöneres wünschen. Ich bin nicht jemand, der darauf besteht, sich, seiner Eitelkeit frönend, in der ersten Reihe des Rampenlichts aufzuhalten, sondern einer, der es für denkbar hält, auch in der zweiten Reihe einiges zu bewirken.
Haben Sie Angst vor dem Alter?
BAHR: Bis jetzt nicht. Ich bin zweiundsechzig und gesund, so weit ich das beurteilen kann. Ich habe mich einmal, in den frühen vierziger Jahren, damit beschäftigen müssen, was wäre, wenn ich morgen tot bin. Man hatte einen Schatten auf der Lunge gefunden, das hätte Tuberkulose sein können. Ich hatte damals das Gefühl, mit mir im reinen zu sein und ruhig sterben zu können. Das hing vielleicht damit zusammen, daß wir die Rede des Sokrates, die er seinen Freunden hielt, bevor er den Schierlingsbecher trank, in der Schule gelesen hatten. Da heißt es dem Sinne nach, wir wissen nicht, was der Tod ist, niemand ist jemals zurückgekommen und hat uns berichtet. Entweder er ist etwas Besseres als das Leben, dann brauchen wir keine Angst zu haben, oder es ist das absolute Nichts, das ist gleichbedeutend mit traumlosem Schlaf.
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*) Schlußphase der gescheiterten Genfer Abrüstungsverhandlungen zwischen den USA und der Sowjetunion. 1983 gestattete die CDU-FDP-Regierung unter Helmut Kohl die im Rahmen des sogenannten NATO-Doppelbeschlusses vorgesehene Aufstellung neuer amerikanischer Raketen in Deutschland.
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Erschienen (in einer längeren Fassung) im September 1984 im „Playboy“