Interview mit dem Kabarettisten Dieter Hildebrandt 1986

(anläßlich der bayerischen Zensur seiner Fernsehsendung "Der Scheibenwischer")



Sie kritisieren seit dreißig Jahren das politische Geschehen in Deutschland. Warum sind Sie nicht in die Politik gegangen?

DIETER HILDEBRANDT: Ganz einfach, ich habe den Job nicht gelernt. Politik ist heute ein normaler Beruf geworden, so wie Arzt oder Schreiner. Man macht ein juristisches Studium, wird Abgeordneter, dann Minister. Außerdem muß man in eine Partei eintreten.

Das wäre in Ihrem Falle die SPD.

HILDEBRANDT: Ja, aber ich habe es nicht getan, denn ich wäre schnell wieder rausgeflogen, spätestens als Schmidt Kanzler wurde. Diese Anbetung des technischen Fortschritts hat mich verschreckt. Als Helmut Schmidt sagte, bald werde jeder Deutsche ein Auto haben, bin ich zusammengezuckt. Aber dafür hat er die Wählerstimmen bekommen. Das hat gewirkt. Ich glaube, bald wird jeder Deutsche zwei Autos haben.

Wie viele haben Sie?

HILDEBRANDT: Nur eins, einen Diesel. Mein Lustgefühl beim Fahren hat aber stark nachgelassen, wie alles.

Was heißt das?

HILDEBRANDT: Ich bin fast sechzig. Da wird man ruhiger.

Denken Sie schon an Ihr Ende?

HILDEBRANDT: Kann sein, daß ich den Eindruck erwecke, als ob ich nicht mehr viel vor mir hätte. Ich habe innerhalb eines halben Jahres zwei der wichtigsten Menschen in meinem Leben verloren. Zuerst starb meine Frau,* dann Sammy Drechsel.** Das war schwer.

Trotzdem gab es keine Unterbrechung in Ihrer Arbeit.

HILDEBRANDT: Das ist ein Reflex. Solange der funktioniert, mache ich weiter. Außerdem geschah viel von außen. Der Helmut Oeller***, dieser Wahnsinnige, hat mir eine Gelegenheit zur Ablenkung gegeben, mit der ich nicht rechnen konnte. Seit Jahren droht er, er würde mein Kabarett im Fernsehen verbieten. Nun hat er es getan. Mir war das unheimlich peinlich. Denn dadurch bekam die Sendung ein Übergewicht, das ich für nicht angebracht halte.

Fanden Sie sich nicht gut?

HILDEBRANDT: Ich war schon besser.

Woran lag das?

HILDEBRANDT: Am Zeitdruck. Ich kann immer erst in den letzten drei Tagen vor einem Termin mit der Arbeit beginnen, damit ich die neuesten Aktualitäten erfasse. Natürlich rede ich mich auch darauf aus. Ohne Druck würde ich wahrscheinlich überhaupt nichts mehr machen. Es gibt Zeiten, in denen ich alles hinschmeißen möchte.

Aus Resignation?

HILDEBRANDT: Aus Müdigkeit, weil ich zuwenig geschlafen habe, zuviel getrunken, zuwenig gelebt. Ich hatte in den letzten fünf Jahren kaum Gelegenheit, über mich nachzudenken. Die Gedanken waren auf meine kranke Frau gerichtet. Ich wollte ihr die Schmerzen abnehmen. Ich wünschte, mit ihr zu tauschen. Als sie tot war, glaubte ich, frei zu werden. Aber das geschah nicht.

Halten Sie es für möglich, daß Sie sich neu verlieben?

HILDEBRANDT: Für möglich schon. Ich habe mit meiner Frau darüber gesprochen, bevor sie starb, Sie sagte, hör nicht auf, wenn ich weg bin. Aber ich will nicht.**** Das Gemeine ist, daß keine Liebe die Liebe zu meiner Frau übertreffen könnte. Wenn ich noch einmal anfangen wollte, bräuchte ich Zeit und Hilfe.

Was würden Sie tun?

HILDEBRANDT: Etwas, das mich länger beschäftigt und womit ich nicht sofort auftreten müßte. Aber das wäre natürlich ein Risiko, denn es kann sein, daß mich dann niemand mehr will. Ich muß mich zeigen. Mein Beruf hat auch mit Exhibitionismus zu tun. Der Entschluß, auf ein Podium zu treten, sich dreißig Zentimeter höher zu stellen und zu sagen, hört zu, ich spiel euch was vor, ist nur aus einer gewissen Eitelkeit zu erklären.

Was wollen Sie mit Ihrer Arbeit erreichen?

HILDEBRANDT: In so einem Fall sagt man immer, man möchte das Publikum zum Nachdenken bringen.

Wollen Sie es nicht auch amüsieren?

HILDEBRANDT: Doch, sicher. Die Leute kommen, weil sie sich freuen, daß es jemanden gibt, der sich wehrt. Ich bin eine Art Vorarbeiter, mit dessen Hilfe sie ihren Ärger abladen.

Durch Lachen?

HILDEBRANDT: Selbstverständlich. Das Lachen ist ein sehr anarchischer Vorgang, fast revolutionär. Ich möchte schon, daß man über mich lacht, so wie auch mich schwierige Situationen zum Lachen zwingen, etwa bei der Beerdigung eines berühmten Dichters. Man geht hin und stellt fest, daß andere Dichter, die gekommen sind, am liebsten vortreten würden, um darüber zu sprechen, was sie alles gedichtet haben. Kurz vor dem Ende der Trauerrede merken sie, daß sie eigentlich den Heimgang eines großen Kollegen beweinen sollten. Aber die Tränen sind ihnen längst abhanden gekommen, weil sie die ganze Zeit an sich selber dachten, das heißt, sie leben bei der Beerdigung eines ihrer Liebsten erst richtig auf.

Ist Ihnen das nie passiert?

HILDEBRANDT: Doch, auch ich bin im Grunde froh, daß ich lebend von einer Beerdigung gehe.

Elias Canetti nennt das den Triumph des Überlebenden.

HILDEBRANDT: Ja, aber er geht noch weiter. Er fordert, auf diesen Triumph zu verzichten.

Soll man sich totstellen?

HILDEBRANDT: Ja, fast. Er beschreibt es am Beispiel eines Behinderten, vor dem er so tat, als wäre er auch behindert, um den Unterschied auszugleichen. Als ich das las, ist mir aufgegangen, daß ich mich meiner Frau gegenüber, die an den Rollstuhl gefesselt war, nicht richtig verhalten habe. Ich spielte ihr das ungebrochene Leben vor. Das war falsch. Zu sehen, daß andere laufen können, ist für jemanden, der im Rollstuhl sitzt, eine ungeheure Provokation.

Erinnern Sie sich, wann Sie zum letzten Mal lachen mußten?

HILDEBRANDT: Gestern während der Übertragung eines Galopprennens im österreichischen Fernsehen. Ein Pferd warf den Jockey ab und ist in den Stall galoppiert. Über so etwas kann ich mich totlachen. Da strample ich sogar mit den Füßen. Ich lache zum Beispiel auch sehr über Otto. Der ist viel anarchischer, als man allgemein annimmt.

Lachen Sie auch über Dieter Hallervorden?

HILDEBRANDT: Also über den kann ich nicht einmal lächeln.

Was sehen Sie gern, wenn Sie fernsehen?

HILDEBRANDT: Fußball zum Beispiel.

Stimmt es, daß Sie ausschalten, wenn Dieter Thomas Heck auf dem Bildschirm erscheint?

HILDEBRANDT: Stimmt nicht, denn bei Heck schalte ich gar nicht erst ein.

Ist Ihnen Joachim Fuchsberger lieber?

HILDEBRANDT: Ach, der Blacky weiß doch nicht, was er tut. Das ist ein gesetzter Unterhalter, gestützt von den Häuptlingen der CSU, ein Besänftiger, der gut aussieht und plaudert. Der kennt seine Wirkung gar nicht. Ich glaube, daß auch seine Fans ihn nicht für eine politische Zeitbombe halten.

Wollen Sie sich noch zu Frank Elstner äußern?

HILDEBRANDT: Der ist am schlimmsten, denn das ist ein hochintelligenter Bursche, der genau weiß, wo er politisch steht und was er bewirken will.

Aber er sagt es nicht?

HILDEBRANDT: Nein, er macht es geschickt.

Was stört Sie an der Unterhaltung im Fernsehen am meisten?

HILDEBRANDT: Ich finde, die Zuschauer werden stündlich verladen. Man hält sie für dumm. Das ist eine unglaubliche Frechheit. Mich stört die Menschenverachtung.

Sind daran die Leute, die sich das gefallen lassen, nicht selber schuld?

HILDEBRANDT: Nein, denn es ginge auch anders. Ich glaube nicht, daß der Mensch von Natur dumm ist. Man kann aber mittels Bestrahlung durch diese Art Unterhaltung einen Verdummungsprozeß herbeiführen.

Zu wessen Nutzen?

HILDEBRANDT: Zum Nutzen derer, die denken, ein dummes Volk sei leichter regierbar. Gezielte Desinformation ist eine politische Grundeinstellung. Ein Mann wie Helmut Kohl, der ein starkes Verhältnis zur Macht hat, ist natürlich daran interessiert, daß die Menschen nicht wissen, was vorgeht. Sonst würden sie ihn nicht wählen. Er ist ein Spitzenmanager der Macht. Schon in den fünfziger Jahren hat er damit begonnen, sich eine Hausmacht zu bilden, das heißt, Leute um sich zu scharen, die in seinem Sinn funktionieren.

Wie erklären Sie sich, daß es jemandem Vergnügen bereitet, über andere Macht zu haben?

HILDEBRANDT: Das hat sicher mit Erotik zu tun. Kohl empfindet Lust dabei, andere einknicken zu sehen. Es gibt eine Geschichte, die das plastisch verdeutlicht. Er ist, als er noch Fraktionschef war, in Oggersheim mit zwei Journalisten vom "Spiegel" spazierengegangen. Sein Wert war gesunken. Damals gab ihm niemand gegen Schmidt eine Chance. Da nahm er, um den Journalisten sein Machtbewußtsein zu demonstrieren, eine Eidechse vom Wegrand und zerdrückte sie in der Faust.

Ist das veröffentlicht worden?

HILDEBRANDT: Bis jetzt nicht. Das liegt wahrscheinlich im Giftschrank der Redaktion mit einem kleinen Kreuz drauf. Ich habe es einmal in meiner Sendung indirekt angesprochen.

Warum indirekt?

HILDEBRANDT: Weil ich nur veröffentlichte Informationen verwende. Das ist natürlich eine gewisse Abhängigkeit. Ich schreibe und rede aus zweiter Hand. Ich erfinde nichts. Ich reagiere.

Verspürten Sie nie den Drang zum Dichter?

HILDEBRANDT: Den Drang schon. Ich wollte, als in den siebziger Jahren die Münchner Lach- und Schießgesellschaft auf mein Betreiben geschlossen wurde, ein Theaterstück schreiben. Aber ich mußte feststellen, daß meine Begabung nicht ausreicht, obwohl die Idee gar nicht schlecht war. Ein Steuerprüfer taucht plötzlich in einer Familie auf, setzt sich dort fest wie eine Zecke und kommt allem möglichen auf die Spur, Korruption, Schiebung, politischen Machenschaften. Als er merkt, welche Macht er in Händen hat, spielt er damit und zerstört die Familie. Bis zur Hälfte bin ich gekommen, dann habe ich es verbrannt. Ich konnte mich nicht in die Dämonie dieses Mannes hineinversetzen. Es wurde zu harmlos. Wahrscheinlich ist mir Böswilligkeit überhaupt unbegreiflich.

Sie lieben die Menschen.

HILDEBRANDT: Das ist zu befürchten. Mir gelingt es nie, richtig zu hassen. Ich könnte zum Beispiel niemanden umbringen, auch nicht durch Geschriebenes.

Haben Sie es versucht?

HILDEBRANDT: Ich habe einmal über Erich Mende, als er noch Chef der FDP war, gesagt, bei dem, was der macht, könne man sich nicht mehr an den Kopf fassen, dazu sei dieser Körperteil viel zu schade. Meiner Ansicht nach habe ich ihn damit als Arschloch bezeichnet. Aber es hat ihm nichts ausgemacht.

Er hat gelacht.

HILDEBRANDT: Ja, die alte Geschichte, Humor ist, wenn man trotzdem lacht. Früher habe ich die Leute, die ich angriff, sogar in meine Sendungen eingeladen, um sie als über sich selbst Lachende vorzuführen. Doch ab einem gewissen Zeitpunkt fand ich das unfair. Was soll jemand, den ich einlade, anderes tun außer lachen?

Sich ärgern.

HILDEBRANDT: Da müßte ich ihn ununterbrochen beleidigen. Das halte ich für nicht sehr ergiebig.

Gibt es für Sie Grenzen des guten Geschmacks, die Sie nicht überschreiten?

HILDEBRANDT: Grundsätzlich nicht, denn ich finde Geschmack unpassend im Zusammenhang mit Satire. Aber instinktiv sind sicher Hemmschwellen vorhanden.

Sie sind nie frivol.

HILDEBRANDT: Nein, weil ich der Meinung bin, es nicht nötig zu haben.

Im Ge­gensatz zu Bruno Jonas, der im "Scheibenwischer" zum Thema Atomenergie witzelte, das Benehmen seiner ihn anstrahlenden Partnerin gehe ihm auf den Brennstab.

HILDEBRANDT: Ja, das fand ich platt. Aber, okay, jeder soll sich auf seine Weise verkaufen.

Nehmen Sie Rücksicht auf religiöse Gefühle?

HILDEBRANDT: Ich würde Menschen nie deshalb verächtlich machen, weil sie an etwas glauben. Das wäre Verletzung. Aber wo Konfession zu Politik wird, wo sich kirchliche Institutionen zu Macht verdichten wie etwa im Vatikan, nehme ich mir das Recht anzugreifen.

Sind Sie gläubig?

HILDEBRANDT: Ich bin zahlender Protestant. Irgend jemand muß die Kirchen doch finanzieren, die gebaut werden, um den Ortschaften eine Mitte zu geben. Wo keine Mitte ist, wird nicht eingekauft. Außerdem sind Kirchen Phallussymbole. Denken Sie an die Münchner Frauentürme. Schön sind sie ja nicht. Ich meine, der Architekt hat sich selbst nicht genau angeschaut, sonst wäre ihm das nicht unterlaufen.

Sie scherzen.

HILDEBRANDT: Ich kann auch ernst sein. Ein Gott, der Auschwitz und Buchenwald zuläßt, ist für mich unvorstellbar, oder er ist der Teufel. Den zu unterhalten, ist schwierig. Dazu reicht meine Phantasie nicht aus. Also denke ich mir, daß es vielleicht doch irgendwo einen Ort gibt, wo es gerechter zugeht. In Tibet sagt man, nach dem Tod geht ein großes Tor auf und im strahlenden Licht erscheinen alle Personen, zu denen man im Leben eine engere Bindung hatte.

Das hoffen Sie?

HILDEBRANDT: Ich überlege es mir. Oder soll ich an gar nichts glauben?

Doch, wenn es hilft.

HILDEBRANDT: Es hilft selten.

Es ist auch nicht immer nötig, beim Geschlechtsakt zum Beispiel.

HILDEBRANDT: Wollen Sie ein Glas Wein mit mir trinken?

Sie weichen aus.

HILDEBRANDT: Kann sein. Denn es ist im Augenblick nicht ganz leicht für mich, über einige Dinge zu sprechen, wo ich noch etwas wund bin. Wenn einen drei Schicksalsschläge hintereinander treffen, so daß man sich schon fast fühlt wie Hiob, verstummt man.

Was war der dritte Schlag?

HILDEBRANDT: Drei Wochen, nachdem Sammy gestorben war, rief mich nachts der Freund meiner Tochter an, sie sei auf der Intensivstation, sie habe eine Gehirnblutung erlitten. Da dachte ich, bitte nicht alles auf mich, warum muß ausgerechnet ich das erdulden? Ich tat mir selbst leid. Ich hätte über mich Tränen vergießen können.

Obwohl die Bedauernswerte eigentlich Ihre Tochter war.

HILDEBRANDT: Natürlich. Das ist typisch. Das erinnert mich an einen Menschen, der einem Todkranken, der ihm erzählt, wie todkrank er sei, nach dem dritten Satz ins Wort fällt, um dann zwei Stunden lang über seine eigenen Krankheiten zu reden. Genauso habe ich mich verhalten. Es ist ekelhaft.

Sie machen den Eindruck, als seien Sie sich nicht sehr sympathisch.

HILDEBRANDT: Der Eindruck stimmt. Ich mag mich oft nicht besonders.

Warum wollten Sie Kinder?

HILDEBRANDT: Wahrscheinlich wollte ich sehen, ob ich mich herauswinden kann durch jemanden, der mich entschuldigt, indem er allen Leuten erzählt, ich sei ein ganz toller Vater.

In Ihrer Autobiographie "Was bleibt mir übrig?" schreiben Sie, über Söhne wären Sie nicht so erfreut gewesen.

HILDEBRANDT: Richtig. Ich wünschte mir Töchter. Töchter sind zärtlicher. Die umhalsen mich einfach. Mit Söhnen, so dachte ich, bekomme ich Schwierigkeiten. Da entstehen Generationskonflikte. Söhne hätten mit mir einen Kampf auf Leben und Tod ausgefochten. Davor hatte ich Angst. Ich bin konfliktscheu, so wie ich auch im Grunde nicht aggressiv bin. Das hat man mir manchmal vorgeworfen.

Wann?

HILDEBRANDT: 1968, während der Studentenrevolte. Da galten wir als liberale Opas, ich und die Lach- und Schießgesellschaft. Das schmerzte ein wenig, denn eigentlich imponierte mir an den Jungen, daß sie rasch etwas ändern wollten. Ich hatte Respekt davor. Nur die Diskussion über Gewalt hat mir nicht so gefallen. Mir war schon immer suspekt, wenn jemand mitten im Ozean den Leuten auf einem Schiff, das zwar leck, aber vielleicht noch zu reparieren ist, zuruft, sie sollen herunterspringen, er wüßte was Besseres.

Aber Sie können doch schwimmen.

HILDEBRANDT: Das schon. Die Frage ist nur, wie lange?

Bis ein anderes Schiff, das intakt ist, Sie auffischt.

HILDEBRANDT: Da bin ich längst abgesoffen. Ich kenne mich.

Halten Sie sich für einen Schwächling?

HILDEBRANDT: Ich würde sagen, meine Stärken sind nicht sehr zahlreich. Ich bin zum Beispiel inkonsequent. Darin komme ich dem Wolfgang Neuss***** ziemlich nahe. Der sagt einen Satz und widerspricht sich schon mit dem nächsten. Der Unterschied ist, er tut es mit Absicht. Mir widerfährt es.

War Neuss Ihr Vorbild?

HILDEBRANDT: Kaum, denn er ist ein Besessener und ein Tyrann. Er hat seine Partner niedergemacht. Das war sein Berufsprinzip. Er hatte den Drang, andere zu vernichten. Wenn jemand private Probleme hatte, war ihm das scheißegal. Er verabscheute alles, was mit Bürgerlichkeit zu tun haben könnte.

Sie nicht?

HILDEBRANDT: Nein, ich bin ordentlich. Ich mag, wenn es sauber ist. Ich ziehe mich gern so an, daß es nicht auffällt. Ich wasche mich oft. Ich habe zum bequemen Leben ein recht gutes Verhältnis.

Typisch deutsch.

HILDEBRANDT: Nicht ganz. Denn es macht mir nichts aus, wenn andere dreckig sind. Ich bin kein Saubermann. Ich kann auch Menschen aushalten, die stinken. Nur ich selbst stinke ungern, außer nach Alkohol und Zigaretten.

Was gefällt Ihnen an Deutschland am besten?

HILDEBRANDT: Schwere Frage. Vielleicht ist es der FC Bayern, obwohl ich sagen muß, mir ist die Freude am Zuschauen vergangen. Früher war Fußball ein Arbeitersport. Heute ist das ein Hobby von Leuten, die fünfzig Mark leicht aus der Brieftasche blättern, um ein Spiel zu sehen, in dem zweiundzwanzig Geschäftsleute, als Werbeflächen vermietet, einander Löcher ins Schienbein treten. Ich gehe nicht mehr ins Stadion. Es ist langweilig geworden.

In einem früheren Interview sagten Sie, Sie wären gern Beckenbauer.

HILDEBRANDT: Jetzt nicht mehr. Das war ein Wunsch, als er noch spielte. Ich wollte die Fähigkeit haben, den Ball aus der Luft herunterzuholen, ihn wie ein Ei auf den Fuß zu legen, mich dann umzudrehen und ihn über vierzig Meter einem Spieler im gleichen Trikot zuzuspielen. Noch lieber wollte ich allerdings bei einer Weltmeisterschaft ein Eigentor schießen und darüber laut lachen.

Können Sie definieren, was Sie unter einem Spießer verstehen?

HILDEBRANDT: Nicht definieren, aber ich kann einen beschreiben. Ich war einmal bei einem Fernsehdirektor zum Essen. Der wollte mich kennenlernen. Nach ungefähr zehn Minuten, in denen er mir die Architektur seines Weinkellers erklärte und wie er die Flaschen attraktiv übereinanderstaple, um bei den Leuten Eindruck zu machen, wußte ich, daß ich diesen Mann wohl zu den Spießern zu rechnen hatte. Ich dachte, mein Gott, die Art, wie der lebt, hat mit dem Fernsehprogramm, das er verantwortet, sehr viel gemeinsam.

Wer war es?

HILDEBRANDT: Sie erraten es sicher.

Oeller?

HILDEBRANDT: Aber nein, es war Dieter Stolte!****** Der Oeller ist auf ganz andere Weise gefährlich. Das ist der Mann mit der Eidechse, ein Machtmensch.

Was würden Sie ändern, wenn Sie beim Fernsehen mehr Einfluß hätten?

HILDEBRANDT: Ich würde ein Gremium gründen, in dem zum Beispiel die "Schwarzwaldklinik" durch einleuchtende Argumente wegdiskutiert werden könnte. Dieses Gremium würde die verheerenden Folgen einer solchen Sendung erkennen, nämlich daß sich bei einer Einschaltquote von 65 Prozent zwei Drittel der deutschen Bevölkerung mit einer Welt identifizieren, die in Wirklichkeil nicht existiert. Danach wäre klar, daß so etwas nicht gezeigt werden dürfte.

Obwohl es so viele sehen wollen?

HILDEBRANDT: Nicht obwohl, sondern weil.

Wäre das nicht eine Bevormundung der Mehrheit?

HILDEBRANDT: Doch, aber zu ihrem Vorteil.

Es wäre Zensur.

HILDEBRANDT: Moment, nein! Man könnte doch etwas weniger Schädliches senden, dessen Einschaltquote vielleicht nur um sieben Prozent niedrige läge.

Wie hoch liegen Sie?

HILDEBRANDT: Zwischen 20 un 25 Prozent. Das ist sehr viel für ein satirische Sendung, fast schon verdächtig.

Sie sind populär.

HILDEBRANDT: Das weiß ich nicht. Ich habe eigentlich nicht den Eindruck, daß ich besonders beliebt bin. Meine Sendung wird ja nicht nur von Anhängern gesehen, sondern es sind auch Masochisten darunter, die sich gern provozieren lassen, weil sie sich ärgern wollen. Daß ich in manchen Punkten inzwischen eine Mehrheit vertrete, etwa in der Frage der Kernenergie, freut mich. Aber das liegt nicht an mir, las liegt an den Themen. Als populär würde ich zum Beispiel jemanden bezeichnen, dem man zutraut, für ein bestimmtes Produkt zu werben.

Ihnen traut man das nicht zu?

HILDEBRANDT: Man wollte mich einmal zum Mister Krawatte wählen, das habe ich abgelehnt. Aber einen Werbevertrag hat man mir nie angeboten. Ich bin nicht genug vertrauenerweckend, um ein Produkt öffentlich darzustellen, weil alles, was ich sage, auch ironisch gemeint oder nicht wahr sein könnte.

Man weiß nie, ob Sie lügen.

HILDEBRANDT: So ist es.

Ihr Freund Gerhard Polt hat es da leichter.

HILDEBRANDT: Ja, der Polt ist sehr volksnah.

Dem hat man 200 000 Mark für eine Bierreklame geboten.

HILDEBRANDT: Das kann ich verstehen. Denn er hat dieses Genießer-Image. Er verkörpert den bayrischen Bauern und Trinker. Ich trinke zwar auch, aber kein Bier, sondern Wein, vor allem beim Schreiben. Ich denke, dann geht es besser. Leider ist das ein Irrtum. Sobald ich merke, der Bauch wird warm, macht der Kopf nicht mehr mit. Am nächsten Tag schmeiße ich alles weg und fange wieder von vorne an. Man kann also sagen, meine Texte sind aus dem Kater geschrieben.

Verändert der Alkohol Ihren Charakter?

HILDEBRANDT: Ich werde gutmütig. Um mich auszuschalten, muß man mich nur betrunken machen. Dann bin ich absolut weg. Deshalb trinke ich mit Politikern ungern. Denn ich käme in Gefahr, mich mit ihnen abzufinden.

Macht doch nichts!

HILDEBRANDT: Das würde ich nicht so sehen, denn dann wäre der Moment der Umarmung nicht weit. Das würde zwar mancher Gemütsaufwallung entgegenkommen, aber es wäre die falsche Richtung. 

Erinnern Sie sich, wann Sie zum ersten Mal eine politische Meinung hatten?

HILDEBRANDT: Mit siebzehn, als ich Soldat war. Da wußte ich schon, Krieg ist nicht das Erstrebenswerte. Das Exerzieren bei der HJ kam mir bekloppt vor. Ich wollte lieber Theater spielen. Deshalb bin ich zur Spielschar gegangen. Trotzdem wäre mir nie in den Sinn gekommen, etwas gegen Adolf Hitler zu sagen. Ich war auch nicht gegen den Nationalsozialismus. Ich ließ mich nur nicht gern kommandieren. Das hat mir vielleicht meine Mutter vererbt, die für alles Militärische überhaupt kein Verständnis hatte. Sie war Tschechin. Mein Vater war Preuße, Direktor einer Landwirtschaftsschule und natürlich deutschnational. Er wollte, daß wir den Krieg gewinnen und ich ein nützliches Glied der Gesellschaft werde.

Gab es nichts Musisches in der Familie?

HILDEBRANDT: Doch, es gab Onkel Ernst. Der malte Hitler-Bilder.

Ich welcher Form sind Sie nach dem Krieg politisch aktiv geworden?

HILDEBRANDT: Zunächst überhaupt nicht. Ich wollte Dramaturg oder Schauspieler werden. Mein Idol war der Regisseur Jürgen Fehling. Mit August Everding war ich befreundet. Wir besuchten an der Münchner Universität das theaterwissenschaftliche Seminar. Ich hatte nur ein großes Ziel, nämlich Mitglied der Münchner Kammerspiele zu werden. Ich wollte so weit kommen, daß mich der Portier, wenn ich vorbeigehe, grüßt, ohne zu fragen, was ich hier wolle. 1954 habe ich mich an der Falckenbergschule beworben und bin glatt durchgefallen. Als Schauspieler war ich nicht komisch genug, nicht jung genug, nicht schön genug, ich war überhaupt nichts. Also bin ich zum Kabarett gegangen.

Ihre bevorzugte Zielscheibe war damals Adenauer.

HILDEBRANDT: Ja, fast ausschließlich. Denn der hatte beschlossen, daß wir wieder eine europäische Großmacht werden. Die Restauration hatte voll zugeschlagen. Adenauer war ein machiavellistischer Typ ohne alle Bedenken, umgeben von einem Clan, der ihm besinnungslos folgte. Der Krieg war zu Ende, schon war der Größenwahn wieder da. Das erschien mir nach einem so fundamentalen Zusammenbruch ganz unbegreiflich.

Ist es nicht verständlich, daß man nach einer Niederlage versucht, wieder stark zu werden?

HILDEBRANDT: Mir leuchtete das nicht ein. Ich leide am meisten unter der eigenen Dummheit, die darin besteht, daß ich andere Menschen oft nicht begreifen kann. Es wird immer schlimmer.

Wird man blöder mit zunehmendem Alter?

HILDEBRANDT: Es sieht so aus. Ich begreife zum Beispiel nicht, wie man an einer geistigen Haltung, die zu einem Atomunfall geführt hat, unverändert festhalten kann, so als wäre gar nichts geschehen.

Karl Kraus schrieb, er wolle nicht verhehlen, daß er sich vom Weltuntergang eine Anregung erwarte.

HILDEBRANDT: Dem pflichte ich bei. Denn mir geht es ähnlich. Als aktiver Teilnehmer finde ich es unerhört stimulierend, daß wir dabei sind, uns umzubringen. Nur was mache ich, wenn der Weltuntergang schiefgeht? Nach einem geplatzten Weltuntergang wird man völlig umdenken müssen.

Der Philosoph Blaise Pascal schrieb schon vor dreihundert Jahren: Sorglos eilen wir in den Abgrund, vor dem wir etwas aufgebaut haben, das uns hindert, ihn zu erkennen.

HILDEBRANDT: Auch dem kann ich nicht widersprechen. Aber würde ich mich an alle Sätze, die kluge Männer und Frauen schon gesagt haben, halten, würde ich überhaupt nichts mehr schreiben.

Darum lesen Sie das erst gar nicht?

HILDEBRANDT: Doch, ich lese es, und es bereitet mir Kummer, daß es vermutlich stimmt. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf, etwas verändern zu können. Ich kämpfe weiter. Ich werde am Schluß noch einmal stark glühen und dann verlöschen.

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*) Irene Mendler, Dieter Hildebrandts erste Frau, mit der er zwei Töchter hat, verstarb 1986 an Krebs.

**) Sammy Drechsel (1925 - 1986), Kabarettist und Sportreporter, gründete 1956 mit Dieter Hildebrandt die Münchner Lach- und Schießgesellschaft.

***) Helmut Oeller, von 1971 bis 1987 Fernsehdirektor des Bayerischen Rundfunks,  sorgte dafür, daß sich der BR am 22. Mai 1986 aus dem ARD-Programm ausblendete, so daß die Sendung "Scheibenwischer" in Bayern nicht zu empfangen war. Anlaß war unter anderem die Nummer "Der verstrahlte Großvater",  die sich nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl kritisch mit der Kernenergie auseinandersetzte.

****) 1992 heiratete Hildebrandt die Schauspielerin und Kabarettistin Renate Küster.

*****) Wolfgang Neuss (1923 - 1989), deutscher Kabarettist

******) Dieter Stolte, von 1982 bis 2002 Intendant des ZDF

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Erschienen am 8. September 1986 im „Spiegel“ (modifizierte Fassung)