Mein Gespräch mit Claus Peymann in seiner Eigenschaft als Direktor des Wiener
Burgtheaters löste einen Skandal aus, der durch die geradezu monströse Bedeutungslosigkeit
dessen, was ihn bewirkt hat, ein schönes Beispiel ist für die heutige Geistesverfassung
derer, die das, was man Kultur nennt, repräsentieren. Am 26. Mai 1988 erschien
das Interview mit dem Titel "Ich bin ein Sonntagskind" in der ZEIT.
Tags darauf machten die ersten Zitate die Runde. Am 28. Mai verbreitete das
österreichische Fernsehen in seinem Kulturjournal die anstößigen Stellen. Wenig
später war die ZEIT in Wien ausverkauft. Aber das störte nicht weiter. Die Erregung
genügte. Mit Recht konnten sich durch den Text folgende Personen beleidigt fühlen:
die Politiker Kohl, Rau und Waldheim, die Schriftsteller Frisch, Dürrenmatt,
Handke, Müller, Kroetz, Strauß und Hochhuth, die Regisseure Grüber, Bogdanov,
Dorn, Benning, Schaaf, Tabori und Zadek, die Schauspieler Minetti und Wussow,
der Showmaster Carrell, der Fußballer Beckenbauer. Doch gerade die Beleidigten
regten sich nicht auf. Zwar dementierte der österreichische Bundespräsident
Waldheim, Peymann geküßt zu haben. Peter Zadek verteidigte in einem Leserbrief
«Tempo, Energie und Courage» seines Nachfolgers als Intendant des Hamburger
Schauspielhauses, Michael Bogdanov. George Tabori bot Peymann, um den er sich
sorge, therapeutische Hilfe an, und Peter Handke sagte mir am Telefon, er habe
entgegen Peymanns Behauptung in seinem Leben noch nie eine Schlaftablette genommen
und folglich auch nicht "auskotzen" können. Richtig empört jedoch
zeigten sich ausschließlich solche Leute, die in dem Interview gar nicht erwähnt
sind, der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki zum Beispiel, der im Zweiten
Deutschen Fernsehen die ZEIT beschimpfte, weil sie das Gespräch veröffentlicht
hatte. Der Anstand erfordere, ein derart inhumanes Geschwätz in einer seriösen
Zeitung nicht abzudrucken. Als besonders unanständig empfand Reich-Ranicki Peymanns
Bemerkung über den "Größenwahn" des Schauspielers Bernhard Minetti.
Zwei Wochen später erklärte Minetti im «Sonntagsgespräch» des ZDF, daß man ihn
als größenwahnsinnig bezeichne, störe ihn nicht. Ohne Größenwahn sei in der
Kunst Qualität nicht möglich. Übertroffen wurde Reich-Ranicki von seinem Kollegen
Hans Weigel aus Wien, der in einer Rede anläßlich der Verleihung des "Staatspreises
für Verdienste um die österreichische Kultur im Ausland" von einer "Österreicher-Verfolgung",
ja einem "Österreicher-Pogrom" sprach, weil am Burgtheater nicht nur
ein deutscher Direktor, sondern auch noch mehrere deutsche Schauspieler beschäftigt
seien. Man muß das schon wörtlich zitieren. Nicht gegen die Deutschen im allgemeinen,
so Weigel, wehre er sich, sondern gegen jene, «die sich einen Staat im Staat
geschaffen haben, der zwar vorläufig mit dem Areal des Burgtheaters begrenzt
ist, aber man weiß ja nie, was kommen wird und kommen soll». Weigel schloß mit
dem Satz: « Wir haben die Jahre des Dritten Reichs überlebt, wir werden auch
das überleben, danke.» Jedoch nicht aus Protest gegen Weigel, sondern gegen
Claus Peymann gab der deutsche Schauspieler Hans Michael Rehberg seine Rolle
in dem Theaterstück "Heldenplatz" von Thomas Bernhard zurück. Ersetzt
wurde er (von Peymann) durch einen Österreicher. Insgesamt 114 Schauspieler
des Burgtheaters sprachen sich gegen ihren Direktor aus. Erika Pluhar (Jahrgang
1939) drohte laut einem Bericht der Wiener Zeitung "Die Presse" mit
ihrer vorzeitigen Pensionierung. Ein Scherz war das nicht. Burgschauspieler
sind, ein Wiener Kuriosum, nach einer bestimmten Beschäftigungsdauer unkündbar
und pensionsberechtigt. Aber nicht nur die doch immerhin irgendwie betroffenen
Schauspieler aus Wien meldeten sich zu Wort. Helmut Griem kommentierte das Ereignis
in der Münchner "Abendzeitung" mit diesen Worten: "Große Würste
scheißen wollen, lieber Peymann, aber ein zu kleines Arschloch haben, ist nicht
abendfüllend." Welch ein Abgrund! Ich halte das Interview mit Peymann keineswegs
für mein bestes, auch nicht für mein wichtigstes. Seine Folgen allerdings heben
es in den Rang einer gruseligen Enthüllungs-Posse. Ein Theaterdirektor läßt
die Hosen herunter, und alle, die ihn schon immer nicht ausstehen konnten, beeilen
sich, es ihm nachzumachen.
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Ihr Vertrag als Burgtheaterdirektor läuft noch drei Jahre*. Nachfolger von Peter
Zadek in Hamburg können Sie nicht mehr werden.
CLAUS PEYMANN: Wollte ich gar nicht. Dort hat man eine drittklassige Figur aus
England, Bogdanov oder wie der heißt, zum Intendanten gewählt, weil er die Etatkürzungen
mitmacht. Das ist das Ende des Hamburger Schauspielhauses.
Wie lange wollen Sie in Wien weitermachen?
PEYMANN: Solange ich produktiv arbeiten kann. Wenn Sie wüßten, was für eine
Scheiße ich hier erlebe! Man müßte dieses Theater von Christo verhüllen und
abreißen lassen. Vielleicht schmeiße ich morgen schon alles hin. Beim österreichischen
Kanzler Vranitzky liegt gerade ein Rücktrittsgesuch.
Gedroht haben Sie bereits öfter. Worum geht es denn diesmal?
PEYMANN: Um eine Lüftungsanlage. Es gibt im Haus drei Lüftungsanlagen, die behördlich
erzwungen wurden und alle außer Betrieb sind. Jetzt will man eine vierte einbauen.
Dieses Land ist ein Irrenhaus. Hier muß zum Beispiel der Bauminister persönlich
die Verantwortung für eine Kiste tragen, die in der Fallbahn des eisernen Vorhangs
steht. Über eine Zigarette, die auf der Vorbühne geraucht wird, entscheidet
der Bundeskanzler. An solchen Entsetzlichkeiten der banalsten Art werde ich
scheitern.
Oder Sie konzentrieren sich auf das Wesentliche.
PEYMANN: Die Kiste war wesentlich, die Zigarette auch. Das sind für einen Regisseur
Lebensfragen. Ich habe in Hamburg eine Inszenierung beinahe sausen lassen, weil
man ein Besteck um 3000 Mark nicht genehmigen wollte. Der Thomas Bernhard bringt
sich um, wenn zwei Tippfehler sein Stück entstellen.
Bernhard schreibt. Sie dagegen haben mit Menschen zu tun.
PEYMANN: Wo liegt da der Unterschied?
Menschen kann man nicht korrigieren wie Dichterworte.
PEYMANN: Das ist auch nicht meine Absicht. Ich habe eine große Vorliebe für
das Improvisierte, andererseits eine nicht bezähmbare Sehnsucht nach Perfektion.
Das ist mein Problem. Ich liebe die Spontaneität, aber ich bin, darüber dürfte
ich gar nicht sprechen, ein Vergewaltiger auf der Probe. Wenn in den Kopf eines
Schauspielers nicht hinein will, was ich mir vorgestellt habe, wende ich die
bedingungsloseste und brutalste Gewalt an. Das geht von Gebrüll bis zu Mord
und Totschlag. Ich breche den Widerstand, und ich weiß, daß es andere Regisseure
genauso machen.
Ihr Kollege George Tabori sagt, er bevorzuge die sanfte Methode.
PEYMANN: Davon glaube ich ihm kein Wort. Tabori ist eine absolute Sau in der
Arbeit. Der gibt in nichts nach, ein Tyrann erster Güte.
Ein Wunder, daß die Schauspieler sich das gefallen lassen.
PEYMANN: Es ist ja zu ihrem Nutzen. Oda Thormeyer, die Miranda in meiner "Sturm"-Inszenierung,
ist deshalb eine tolle Schauspielerin, weil sie durchgestanden hat, was ich
an Quälereien und Verzweiflungen mit ihr angestellt habe. Es war furchtbar,
aber dafür hat sie jetzt einige wirklich bewegende Augenblicke. Diese Aufführung
wird sich für ihre Karriere als ein historisches Datum erweisen. Leider haben
davon die Kritiker nicht das geringste begriffen.
Die Inszenierung wurde total verrissen.
PEYMANN: Ja, schrecklich.
Man hat Ihnen Harmlosigkeit vorgeworfen.
PEYMANN: Eine Schweinerei ist das. Man akzeptiert nicht, daß in deutschen Theatern
gelacht wird, außer bei Feydeau oder Ayckbourn. Eine Art Düsternis wird propagiert.
Das deprimiert mich zutiefst. Man hat ja auch meinen "Richard"** verrissen.
Gelobt wurde ausschließlich Herr Voss. Mit dem "Wintermärchen" ist
es mir genauso ergangen. Das hat zur Folge, daß ich überlege, ob ich "Wie
es euch gefällt", das von mir als nächstes geplante Stück, überhaupt inszenieren
soll. Ich bin dabei, umzusteigen.
Das sollten Sie nicht tun.
PEYMANN: Ich weiß, ich muß mich befreien. Aber leicht ist es nicht. Man verinnerlicht
solche Attacken. Trotz aller Verachtung der Theaterkritiker, auch als Personen,
verstellen sie einem den Blick auf die eigene Arbeit. Sehen Sie sich doch an,
wie verhärmt Heyme herumläuft. Peter Stein rührt keinen Shakespeare mehr an.
Stein sagt, er lese keine Kritiken mehr.
PEYMANN: Das verstehe ich gut. Aber was nützt es? Nach den verheerenden Kritiken
für meinen "Sturm" war es schwer, die Schauspieler wieder in Laune
zu bringen, auf die Bühne zu gehen. Man braucht die Bestätigung. Früher, als
man mich lobte, habe ich, wenn es mir schlecht ging, zwanzig Hefte "Theater
heute" um mich herum auf den Boden gelegt und mich auf diese Weise ganz
pubertär angefeuert. Man stellt sich doch jeden Morgen die Frage, ob das, was
man macht, überhaupt Sinn hat.
Hätten Sie eine Alternative?
PEYMANN: Das weiß ich nicht. Ich habe in diesem Beruf, was auch ein Glück ist,
wenig Gelegenheit, über mich nachzudenken. Andere gehen zum Psychiater, um sich
kennenzulernen. Daran bin ich nicht interessiert.
Haben Sie Angst vor dem, was Sie erfahren könnten?
PEYMANN: Was meinen Sie?
Ihre Abgründe zum Beispiel.
PEYMANN: Abgründe habe ich keine, abgesehen davon, daß ich mich weigere, erwachsen
zu werden. Das könnte man vielleicht abgründig nennen. Ich trage zwar, seit
ich fünfzig bin, keine Bluejeans mehr, aber meine Träume sind immer noch Kinderträume.
Ich erfülle mir ununterbrochen den Traum, daß das Leben ein Märchen ist, in
dem das Gute eindeutig gut und das Schlechte schlecht ist, und ich gehe bedingungslos
davon aus, daß dieser Traum erlaubt ist, das heißt, ich vertrete ihn, wenn es
sein muß, mit aller Brutalität und äußerstem Raffinement.
Möglicherweise ist das die falsche Voraussetzung, um Shakespeare zu inszenieren.
PEYMANN: Das glaube ich nicht. Im "Sturm" träumt auch Shakespeare.
Das ist ein Stück über die Vision einer besseren Welt.
Ja, aber die zur Realisierung dieser Vision gebrauchten Mittel, List, Betrug,
Unterdrückung, lassen auf eine pessimistische Weitsicht schließen.
PEYMANN: Ich sehe das nicht so. Prospero verhält sich wie ein Regisseur auf
der Probe. Er unterdrückt nur, um sein Ziel zu erreichen. Entscheidend ist dabei,
was herauskommt. Denken Sie an Fehling oder an Kortner. Das waren Despoten,
aber gerechtfertigt durch das Ergebnis.
Heißt das, der Zweck heiligt die Mittel?
PEYMANN: Bis zu einem gewissen Grad ja. Wenn Sie Scheiße produzieren, ist das
natürlich schlecht. Aber wenn das Resultat dazu beiträgt, die Gesellschaft positiv
zu verändern, fragt hinterher keiner, wie es zustande kam.
In der Politik wäre das einfataler Standpunkt.
PEYMANN: Aber ich bin kein Politiker. Diese Parallele ziehe ich nicht. Falls
Sie im Hinterkopf das Konzept verfolgen, mich hier als einen potentiellen Diktator
und Unmenschen hinzustellen, unterlägen Sie einem tragischen Irrtum.
Als Diktator haben Sie sich doch selbst hingestellt.
PEYMANN: Ja, auf der Probe. Das bedeutet nicht, daß ich mich in der Realität
so verhalte.
Weil Ihnen die Gelegenheit fehlt.
PEYMANN: Die wird mir immer fehlen.
Das kann man nicht wissen.
PEYMANN: Ich weiß das. Ich lebe zwar mit Kurt Waldheim*** in einer Stadt und
arbeite nur 200 Meter von seinem Büro entfernt. Aber sonst verbindet mich mit
diesem Mann gar nichts. Er hat mich erst neulich überraschenderweise in den
Nacken geküßt.
Sie scherzen!
PEYMANN: Nein. Er hat sich von hinten an mich herangeschlichen. Ich saß mit
einem Besucher im Hotel Imperial. Plötzlich kam von hinten der Bundespräsident
an mich heran und küßte mich. Er war im "Richard" gewesen und wollte
mir gratulieren. Auch seine Frau sei ganz begeistert. Seine Tochter habe noch
nie einen so guten "Richard" gesehen. Er überschlug sich förmlich.
Mein Gegenüber konnte es gar nicht fassen.
War Ihnen das angenehm?
PEYMANN: Was sollte ich machen? Es war eine Vergewaltigung.
In der Öffentlichkeit haben Sie sich zum Thema Waldheim bisher zurückgehalten.
PEYMANN: Ja, weil es ihm doch nur nützen würde, von einem, der politisch links
steht, beschimpft zu werden. Aber in der Arbeit bin ich auf das Thema schon
eingegangen.
Indem Sie Hochhuths «Stellvertreter» aufführen ließen?
PEYMANN: Zum Beispiel.
Finden Sie das Stück gut?
PEYMANN: Nein, grauenhaft, und ich würde es auch nie inszenieren. Aber es hat
herrlich gepaßt. Besser konnte man in der gegenwärtigen Situation nicht reagieren.
In einem Land mit einer katholischen Personalpolitik, die zum Himmel stinkt,
in dieser Wenderepublik Österreich, wo unter dem Deckmantel des Katholizismus
wirklich alles legalisiert wird, war dieses Stück, noch dazu im Jahr des Papstbesuchs,
die einzige moralisch richtige Antwort.
Darüber ließe sich streiten.
PEYMANN: Inwiefern?
Der wahre Moralist sucht den Mörder in sich, nicht im andern.
PEYMANN: Darin stimme ich Ihnen voll zu. Deshalb ist Shakespeare der Himalaya
der Theaterliteratur. Die Mörder in Shakespeares Stücken bestehen zum größten
Teil aus ihm selbst. Dagegen ist Hochhuth ein schwacher Journalist, im besten
Falle ein Kolporteur.
Weil er als Ankläger auftritt, ohne sich selbst zu entblößen.
PEYMANN: Genau.
Aber das tun Sie doch auch.
PEYMANN: Nein, denn ich entblöße mich ununterbrochen in meiner Arbeit. In dem
Stück "Theatermacher" von Bernhard habe ich einen rabiaten Selbstverwirklicher
inszeniert, größenwahnsinnig, autoritär, einen Idealisten und Don Quijote, der
auf den österreichischen Dörfern scheitert. Das ist ein Mensch, der mir sehr
ähnlich ist. Da bin ich mir der Realität des Mannes als Familientyrann und Menschenvernichter
schmerzlich bewußt geworden. Diese erlaubten Selbstentblößungen sind das Herrliche
an der Kunst. Auch in einem KZ-Wächter oder SS-Mann, den Bernhard auf die Bühne
bringt, stelle ich einen Teil von mir selbst dar. Insofern haben Sie natürlich
recht, daß in mir kaum faßbare Abgründe schlummern. Jede Theaterprobe ist doch
die Offenbarung des Grauenhaftesten und Mörderischsten, das man sich vorstellen
kann, aber nicht in der Form, daß sich die Schauspieler wimmernd am Boden wälzen
und blöde herumbrüllen. Diese Art von Exhibitionismus, die mit modernem Theater
verwechselt wird, finden Sie bei Tabori. Damit habe ich nichts im Sinn. Da gehe
ich lieber schön vögeln.
Nach welchen moralischen Grundsätzen sind Sie erzogen worden?
PEYMANN: Weiß ich nicht. Ich glaube, es hatte mit Sport zu tun. Mein Vater war
Turner. 1936 gewann er eine olympische Goldmedaille. Ich spielte Fußball als
Knabe, und zwar glänzend. Ich war ein enorm schneller Läufer und konnte mit
beiden Beinen schießen.
Hat sich Ihr Vater politisch betätigt?
PEYMANN: Er war Nazi, Obersturmbannführer, von Beruf Lehrer, einer der typischen
Nazis mit gutem Charakter. In der Kristallnacht ist er zwar losgezogen, hat
aber die Geschäfte jüdischer Freunde bewachen lassen, damit nichts passiert.
Meine Mutter war eine halbe Antifaschistin. Als sie am 20. Juli über BBC London
vom Anschlag auf Hitler erfuhr, hat sie aus dem Fenster geschrien, das Schwein
ist tot, und ist verhaftet worden. Also was die Grundsätze angeht, war ich ziemlich
gespalten. Wir wußten, daß es Lager gab, in denen Juden getötet wurden. Wir
bekamen die Seife aus Auschwitz. Trotzdem hofften wir auf den Sieg. In den Hochleitungsmasten
hingen die Leichen abgeschossener Amerikaner. Das erlebte man als Kind mit einer
Mischung aus Angst und Abenteuerromantik. Nachts haben wir Indianerschwüre gegen
den Feind geleistet.
Haben diese Erfahrungen Ihre berufliche Entwicklung beeinflußt?
PEYMANN: Sie haben zumindest dazu geführt, daß ich etwas verändern wollte.
Durch Kunst?
PEYMANN: Ja, durch Kunst. Sie können mich ja für blöde halten. Aber ich glaube
an das Theater als moralische Anstalt. Ich glaube an die Erziehbarkeit des Menschen
durch Kunst, weil sich Kunst, wenn sie gut ist, mit dem Auffinden der Wahrheit
beschäftigt, und zwar auf durchaus vergnügliche Weise. Das Theater ist dazu
da, Feste hervorzubringen, damit das Gute, Wahre und Schöne gefeiert werde.
Wunderbar formuliert, nur ist leider das Schöne nicht immer gut und das Wahre
oft häßlich.
PEYMANN: Herrgott, das weiß ich natürlich. Ich weiß auch von der Schönheit des
Krieges. Ich kenne die Faszination eines Kavallerieangriffs. Ich weiß, daß die
schönsten Flugzeuge Kriegsflugzeuge sind. Ich bin nicht so spießig, zu sagen,
den Schrecken des Krieges könne man schon an der Form erkennen. Mir ist klar,
daß die Präzision eines Manövers auch etwas mit Kunst zu tun hat. Das ist gut
inszeniertes Ballett. Ich liebe die Präzision. Aber all diese Erkenntnisse können
mir meinen Optimismus nicht nehmen.
Sehen Sie fern?
PEYMANN: Ja, Nachrichten. Ich sehe das, und ich nehme es mit in die Arbeit.
Ich arbeite aus dem Schreckerlebnis heraus, daß israelische Soldaten vor laufenden
Kameras Palästinensern die Arme brechen. Das habe ich ständig vor Augen. Mit
diesem Entsetzen gehe ich auf die Probe.
Aber es lähmt Sie nicht.
PEYMANN: Nein, es beflügelt mich. Ich versuche, eine Gegenwelt aufzubauen. Das
Theater hat sich immer als staatsfeindlich und menschenfreundlich empfunden.
Wir machen die Mächtigen lächerlich. Wir ziehen ihnen die Hosen aus. Ich interessiere
mich sehr für die menschliche Lüge. Ich beobachte, wie Helmut Kohl aussieht,
wenn er sagt, er sei tapfer, und in Wirklichkeit feig ist. Mich stört an Kurt
Waldheim keine Sekunde, was er während des Krieges gemacht hat. Das nehme ich
ihm überhaupt nicht übel. Wer weiß, wie ich mich damals verhalten hätte. Was
ich ihm übel nehme, ist, daß er lügt. Das allein disqualifiziert ihn. Da kenne
ich keine Gnade.
Muß es nach allem, was Sie eben vertreten haben, nicht Ihr Bestreben sein, ihn
zur Einsicht zu bringen?
PEYMANN: Also hören Sie, so dämlich bin ich nun wieder nicht, das für möglich
zu halten.
Freut es Sie, daß er Ihr Theater bejubelt?
PEYMANN: Ich muß es ertragen. Das Dilemma unseres Berufs ist, daß wir Stücke
aufführen, um die Leute herauszufordern, zugleich aber enttäuscht sind, wenn
sie nicht klatschen. Ein Buch bleibt. Meine Inszenierungen sind vergänglich.
Wir müssen, auch wenn wir das Publikum provozieren, gefallen. Die "Dreigroschenoper"
wurde von der Bourgeoisie, gegen die sie gerichtet war, am meisten bejubelt.
Ein Faschist, der sich ein Stück von Brecht oder Lessing ansieht, kommt als
derselbe Faschist aus dem Theater wieder heraus. Darüber bin ich mir völlig
im klaren.
Trotzdem beharren Sie auf der Behauptung, daß das Theater die Menschen verändert?
PEYMANN: Ich kann nicht anders.
Aber das ist doch absurd.
PEYMANN: Mag sein. Dann bin ich eben ein Narr. Ist mir auch recht. Ich brauche
die Illusion, mit dem, was ich tue, zur Veränderung der Gesellschaft in einem
moralischen Sinn beizutragen. Sonst müßte ich meinen Beruf aufgeben.
Genügt es nicht, daß Ihnen die Arbeit Spaß macht?
PEYMANN: Das wäre zu wenig.
Auch die gute Bezahlung könnte ein Grund sein. 200 000 Mark bekommen Sie im
Jahr als Direktor, dazu rund 40 000 pro Inszenierung.
PEYMANN: Geld interessiert mich nicht. Das liegt auf der Bank, ich weiß nicht
einmal, wo. Sicher bin ich einer der teureren Regisseure. Ich habe einen siebzehnjährigen
Sohn. Als er in der Schule erzählte, was ich verdiene, hat ihm das großen Respekt
verschafft. Aber mir bedeutet es überhaupt nichts. Ich fahre nicht Auto, besitze
keine Yacht und kein Haus in Italien. Also des Geldes wegen bin ich bestimmt
nicht zum Theater gegangen. Man weiß doch oft gar nicht, aus welchen Gründen
man etwas macht.
Vielleicht, um sich abzulenken.
PEYMANN: Das wäre möglich. Ich fliehe geradezu auf die Proben. Aber ich reflektiere
das nicht. Mein Beruf bringt eine gewisse Motorik mit sich, die mich davor bewahrt,
in Grübelei zu verfallen.
Was machen Sie, wenn Sie allein sind?
PEYMANN: Ich lese. Ich bin, das muß man auch einmal sagen, ein relativ gebildeter
Mensch, weitaus gebildeter als die meisten anderen Regisseure.
Gebildet, aber frei von Gedanken.
PEYMANN: Ja, ist doch herrlich! Ich schöpfe dauernd. Ich bringe etwas hervor.
Warum soll ich das ändern? Aus welcher Verzweiflung oder Unsicherheit oder Lebensangst
ich meine Arbeit mache, ist doch völlig egal. Meine Sehnsucht, nicht erwachsen
zu werden, ist zum Teil
auch ein Kampf, nicht über alles Bescheid zu wissen. Ich schäme mich nicht meiner
Windeln. Kann sein, daß ich ein Stück meiner Lebensrealität dabei verdränge.
Aber das ist doch sehr schön.
Andererseits ist es genau das, was Sie Waldheim zum Vorwurf machen.
PEYMANN: Nein, denn es ist ein Unterschied, ob man Menschen auf dem Gewissen
hat oder sich ins Theater flüchtet.
Wer weiß, was Sie alles auf dem Gewissen haben.
PEYMANN: Ich habe, soweit ich das überschauen kann, eine saubere Weste. Was
wollen Sie eigentlich aus mir herausbekommen?
Ich will Sie zum Denken bringen.
PEYMANN: Das ist vergebliche Mühe. Ich habe nicht die Neigung, alles bis ins
letzte ergründen zu wollen. Für mein Leben wäre das auch nicht praktisch. Ich
will inszenieren, und ich will dieses Theater leiten. Wer sich zum Ziel gesetzt
hat, Burgtheaterdirektor zu werden, muß sowieso völlig verrückt sein. So etwas
macht nur ein Irrer. Dieses Haus besteht aus zehn Millionen Quadratmillimetern.
Davon versuche ich jeden Tag fünf zu verbessern. Haben Sie den Theatereingang
gesehen? Der war früher ein dreckiges Loch. Jetzt ist er hell, mit einem Transparent
geschmückt, schönen Fotos.
Wenn das alles ist!
PEYMANN: Es ist schon sehr viel. Ich möchte, daß Schönes entsteht. Warum soll
es in unserer Gesellschaft nicht etwas geben, wo für eine bestimmte Zeit die
Gesetze der Realität außer Kraft sind? Zwischen halb acht und elf Uhr abends
passiert hier das Unmögliche, die Illusion, der Traum, auch der herrliche Mord.
Wir sitzen im Zuschauerraum und freuen uns, daß auf der Bühne ein Verbrechen
geschieht. In gewissem Sinn ist das Theater ein exterritoriales Terrain, auf
dem sich im kleinen die Welt wiederholt, tiefer, kompletter, etwas mehr überschaubar.
Früher hatten die Menschen Angst, den Bären zu jagen. Also haben sie ihn gespielt.
Heute spielen die Kinder Onkel Doktor, bevor sie zum Arzt gehen. Das Theater
war seit jeher Teil des menschlichen Lebens und wird es bleiben, unausrottbar,
unsterblich, durch nichts zu ersetzen.
Gut und schön, nur gehen die meisten Menschen ihr Leben lang nicht hinein.
PEYMANN: Das stimmt nicht. Wir haben eine Platzausnutzung von über 90 Prozent.
Das sind 1500 Zuschauer täglich, 500 000 im Jahr.
Immer noch eine Minderheit.
PEYMANN: Aber eine sehr qualifizierte. Die Wirkung, die ich mit dem Theater
erreiche, geht doch unendlich tiefer als der ganze Herr Beckenbauer oder die
Unterhaltungsscheiße von Herrn Carrell oder Herrn Wussow. Ich konkurriere ja
nicht mit der "Schwarzwaldklinik". In einer auf Vereinsamung abgestellten
Gesellschaft, in der die Leute dösend vor dem Fernseher sitzen, sich besaufen
und Salzstangen fressen, biete ich das Gruppenerlebnis, die gemeinsame Erschütterung,
das gemeinsame Lachen. In manchen meiner Aufführungen ist es vor Schluchzen
kaum auszuhalten.
Ist Wussow noch Schauspieler am Burgtheater?
PEYMANN: Er ist nach den Bestimmungen, die hier gelten, nicht kündbar. Aber
er ist für die Bühne verloren. Er kann vielleicht noch den Arzt am Scheideweg
oder den Arzt wider Willen spielen. Man sieht ihn doch gedanklich, selbst wenn
er ganz normal im Kaffeehaus sitzt, nur noch im weißen Kittel. Ich gebe ihm
Dauerurlaub.
Hat sich im übrigen Ihr Verhältnis zu den Mitgliedern des angestammten Ensembles
gebessert?
PEYMANN: Es war nie schlecht. Auch Wussow ist immer sehr nett zu mir. Das einzige
Problem ist, daß man in Wien, bevor ich kam, nie ernsthaft geprobt hat. Die
Begegnung mit dem Geist, dem Regisseur, fand nicht statt. Es herrscht heute,
auch in Deutschland, der Trend, die Schauspieler zu wichtig zu nehmen. Sie sind
wichtig. Sie waren es immer. Aber die pompöse Gebärde, mit der sie im Augenblick
durch die Gegend rennen, finde ich unangemessen. Den Größenwahn eines Bernhard
Minetti kann ich kaum noch ertragen. Wenn ich ihn anrufe, redet er ununterbrochen.
Er will jetzt auch inszenieren, "Frühlings Erwachen".
In seinen Memoiren beklagt er die Ohnmacht der Schauspieler, die auf Besetzung
und Spielplan keinerlei Einfluß hätten.
PEYMANN: Ach, wissen Sie, da ist auch viel Koketterie dabei. Schauspieler sind
oft sehr dumm. Sie müssen am Abend der König sein, sich aber beim Probieren
vom Regisseur führen, meinetwegen auch manipulieren lassen. Dieser Zwiespalt
zerreißt sie. Was ich bewundere ist ihr Wagemut, auf die Bühne zu gehen. Ich
würde zusammenbrechen vor Angst. Mir fehlt auf der einen Seite der größere Kopf
der Literatur, der Wahnsinn des Schreibens. Einem Thomas Bernhard ordne ich
mich bedingungslos unter, weil ich weiß, meine Munition reicht nicht, um das
zu können. Auf der anderen Seite fehlt mir das Heldentum und die Blödheit des
Spielens. Boy Gobert, Gott hab ihn selig, hat einmal gesagt, er habe nach vierzig
Jahren endlich erkannt, daß es nicht sein Beruf sei, morgens aufzustehen, um
sich abends rote Tünche ins Gesicht schmieren zu lassen.
Ein bitterer Satz.
PEYMANN: Sicher, aber er trifft genau das Problem. Der Schauspieler ist das
Medium. Wir sind die Veranstalter. Wir organisieren einen Theaterabend mit allen
Tricks und Schikanen. Manchmal sind wir auch halbe Dichter. Früher war der Autor
zugleich Regisseur. Moliere und Shakespeare haben das herrlich in sich vereint.
Inzwischen ist das leider auseinandergefallen.
Wieso leider? Würde es wieder wie damals, wären Sie brotlos.
PEYMANN: Da habe ich keine Sorge, denn in meiner Generation wird das nicht mehr
passieren.
Es gibt Gegenbeispiele. Kroetz schreibt, inszeniert und macht neuerdings auch
als Darsteller Karriere.
PEYMANN: Was ich an Kroetz bemerke, ist, daß er den schrecklichen Fehler macht,
erwachsen zu werden.
Kann das nicht eine Pose sein?
PEYMANN: Das will ich zu seinen Gunsten sehr hoffen. Kennen Sie sein letztes
Stück, "Der Dichter als Schwein", dieses Auskotzstück, wo er ganz
exhibitionistisch und sentimental über sich selbst schreibt? Fürchterlich!
Sentimental sind Sie auch.
PEYMANN: Ja, aber ich lache darüber. Außerdem bin ich scheu. Ich attackiere
gern, aber ich wäre nicht larmoyant genug, mein Innenleben so nach außen zu
tragen. Meine Neurosen sind nicht ergiebig, meine Abstürze kein Thema. Ich halte
das lieber zurück. Ich bin ja kein Politiker, der öffentlich auftritt.
Sollen Politiker ihre Neurosen zeigen?
PEYMANN: Sie sollen zumindest den Mut haben, ihre Schwächen nicht zu verbergen.
Als Otto Schily im Bundestag weinte, war das ein großer Moment. Den Schmerz
und die Reue über die deutsche Schuld auf diese Weise zum Ausdruck zu bringen,
fand ich ganz toll. Meine großen Momente sehen Sie auf der Bühne. Ich halte
mich mittlerweile für einen Regisseur, dessen Inszenierungen, selbst wenn sie
mißlingen, zu den besten gehören. Ich bin nicht so superintelligent wie Peter
Stein, obwohl Stein in der Vision oft erschreckend schwach ist. Die Qualität
von Stücken erkennt er nicht. Da irrt er sich häufig. Doch auf der Probe ist
er der einzige Weltmeister des deutschen Theaters. Meine Aufführungen kann man
lieben, seine habe ich immer bewundert. Er steht an der ersten Stelle.
Und wo stehen Sie?
PEYMANN: Ich verteile keine Zensuren, ich will nur sagen, daß ich mir der Unvollständigkeit
meiner Arbeit immer bewußt bin.
Welche Note würden Sie Zadek geben?
PEYMANN: Für Zadek ist das Theater ein Amüsierbetrieb. In diesem Punkt unterscheiden
wir uns fundamental. Er träumt immer noch, der junge, zornige Anarchist zu sein,
der das steife Hamburger Schauspielhaus in eine flitzige Bude verwandelt. Welch
tragischer Irrtum! Ich kenne ihn gut. Er ist das größte Kind von uns allen.
Aber ich will das gar nicht bewerten. Die Motive, weshalb jemand Theater macht,
sind sehr verschieden. Meine Triebkraft ist die Empörung. Ich bin merkwürdigerweise
so verblödet oder engstirnig, daß ich mich immer wieder in Zorn bringen kann.
Andere brauchen den Alkohol. Der Anteil der Säufer in diesem Beruf ist ungeheuer.
Trinken Sie nicht?
PEYMANN: Ich trinke nachts, aber mäßig. Auch Goethe hat gelegentlich Wein getrunken.
Die Situation des Künstlers über fünfzig ist doch immer die gleiche. Er hat
sein Leben lang nichts anderes versucht als Anschluß zu finden, und nun sitzt
er da und stellt fest, daß ihm das niemals gelingen kann. Wir eignen uns nicht
zum Familienpapi und Häuschenbesitzer. Unsere Besessenheit läßt das nicht zu.
Aber Sie sind doch verheiratet.
PEYMANN: Ja, aber seit Jahren getrennt. Meine Frau lebt in Berlin. Unser Sohn
ist ohne mich aufgewachsen. Diese Ehe entstand, weil wir dadurch eine billige
Wohnung bekamen.
Heute suchen Sie sich die Lebenspartnerinnen in Ihrem Ensemble.
PEYMANN: Das ergibt sich so. Es ist ja kein Geheimnis, daß ich viele Jahre mit
der Schauspielerin Therese Affolter eine Affäre hatte.
Danach kam Julia von Sell.
PEYMANN: Sie sind gut informiert. Ich gebe zu, ich bin jemand, der ohne Frauen
nicht leben kann. Ich ertrage es nicht, allein aufzuwachen, geschweige denn
einzuschlafen. Ich fürchte die Einsamkeit.
Ist es nicht problematisch, daß Sie für Ihre Geliebten zugleich der Chef sind?
PEYMANN: Doch, natürlich, und es hat auch immer katastrophal geendet.
Sind Sie verlassen worden?
PEYMANN: Ach Gott, wie soll man das sagen? Wir Männer sind doch furchtbare Schweine.
Ich erwarte die unbedingte Treue, bin selbst aber untreu. Trotzdem ist es ein
Schmerz, wenn die Frau schließlich weggeht. Ich habe zwei Jahre gebraucht, um
die Trennung von Therese zu überwinden.
Haben Sie daran gedacht, sich das Leben zu nehmen?
PEYMANN: Ja, auch. Aber ich wäre bestimmt geschickter gewesen als Peter Handke,
der die Tabletten wieder ausgekotzt hat. Er hatte ja die gleichen Probleme.
Seine Scheidung von Libgart Schwarz geschah auch nicht aus heiterem Himmel.
Er hat sie dauernd mit anderen Frauen betrogen, war aber ganz erstaunt, als
sie weglief. Sie ist von Düsseldorf zu mir nach Frankfurt geflohen und hatte
dann ein Verhältnis mit dem Lyriker Adam Seide. Handke wußte nicht, wo sie war,
und hat Interpol eingeschaltet. Ich glaube, seine Bücher sind eine Art Selbsttherapie.
Er bringt sein Leben in Ordnung. Teilweise ist mir das, was er jetzt schreibt,
ganz unerträglich. Er denkt auf geradezu rührende Weise reaktionär. Da kann
ich ihm nicht mehr folgen.
Gibt es, abgesehen von Thomas Bernhard, Autoren, zu denen Ihnen Positives einfällt?
PEYMANN: Also den Bernhard halte ich für den wahrscheinlich größten Dichter
der Gegenwart, gerade weil er so viel über Liebesbeziehungen aussagt. Das wird
ja oft abgestritten. Man sagt, die Frauen in seinen Stücken kämen schlecht weg.
Absoluter Quatsch! Botho Strauß, der das gleiche Thema behandelt, produziert
meistens Kitsch, während Bernhard die Wahrheit und die Widersprüche solcher
Beziehungen darstellt, weil er die Liebe erkennt als das, was sie ist, nämlich
als Machtkampf. Einer redet, der andere schweigt. Wie soll es sonst sein? Im
Grunde ist er ein zutiefst moralischer Autor. Ich bin ein viel zu fröhlicher
Mensch, um mich lebenslang mit einem Zyniker abzugeben.
Mögen Sie Heiner Müller?
PEYMANN: Ich schätze ihn, obwohl er, wenn man ihn näher kennt, ein ganz biederer
Mensch ist, einerseits ein Maulheld der Revolution, andererseits ein typischer
Kleinbürger, autoritätshörig, ängstlich, man glaubt es kaum. Insgeheim sind
beide, Bernhard wie Müller, konservativ, Anarchisten nach Gutsherrenart. Nur
kann der Bernhard halt besser schreiben.
Das sieht Müller ganz anders.
PEYMANN: Nein, ich glaube, er weiß es. Er ist ein bescheidener, preußischer
Dichter und fast einfaltig als Regisseur. Ich habe ihn in Bochum erlebt. Er
bewundert mich ja, schrecklich, während von Bernhard die vernichtendsten Angriffe
kommen. Er attackiert meine Stückauswahl, auch die Qualität mancher Aufführungen.
Aber ich bin ihm dankbar dafür, weil meine Neigung, auf die Wiener Schmeicheleien
hereinzufallen, sehr groß ist.
Was für Schmeicheleien?
PEYMANN: Ach, ich kann doch als Burgtheaterdirektor in kein Lokal mehr gehen,
ohne daß im nächsten Augenblick das goldene Buch auf dem Tisch liegt. Es gibt
auch keine Dienststelle, wo ich nicht sofort nach vorne gebeten werde. Eine
solche Subordinationsmentalität habe ich in meiner ganzen Laufbahn noch nicht
erlebt, guten Morgen, Herr Direktor, grüß Gott, Herr Direktor, grauenvoll.
Vielleicht ist das, was man hier Schmäh nennt, getarnte Verachtung.
PEYMANN: Nein, das ist reinster Kadavergehorsam. Ich sehe doch, wie es um mich
herum zugeht. Mein Vorgänger Benning ist hier als Gott gesessen, und die Tippsen
sind nur so geflogen. Das versuche ich abzustellen. Heute gibt es öffentliche
Direktionssitzungen. Entscheidungen werden gemeinsam gefällt. Ich bin nicht
der Theaterdonnerer, für den manche mich halten.
Merkwürdig, daß man Sie immer noch so falsch einschätzt.
PEYMANN: Das liegt daran, daß ich unbequem bin. Schlendrian dulde ich nicht.
Ich bin der Prototyp dessen, was man in Österreich eigentlich gar nicht erträgt,
nämlich ein Starrkopf, außerdem auf ganz primitive Art pflichtbewußt. Mich können
Sie irgendwo hinstellen und sagen, das machst du jetzt ordentlich, und ich werde
es machen.
Dann sind Sie ein Mitläufer.
PEYMANN: Ein Mitläufer an der Spitze, wenn Sie so wollen. Ich bin ja Theaterdirektor
geworden aus Not, weil die Direktoren, unter denen ich gearbeitet habe, alle
unfähig waren. Ivan Nagel war nicht einmal in der Lage, Proben zu disponieren.
Da habe ich gesagt, um Gottes willen, ich mache es lieber selbst.
Zum Glück kamen Angebote.
PEYMANN: Das ist wirklich erstaunlich, denn ich habe mich nie opportunistisch
verhalten. Ich habe nie spekuliert. Ich habe nicht gesagt, Ohren ab für Ulrike
Meinhof, sondern 500 Mark für eine offene Zahnarztrechnung nach Stammheim geschickt.
Andere haben den Schwanz eingezogen. Ich habe mich vor aller Welt dazu bekannt,
daß auch Terroristinnen Menschen sind.
Hat das Ihrer Karriere geschadet?
PEYMANN: Filbinger**** hat im Fernsehen haßerfüllt meinen Kopf gefordert. Überall
lauerten Leute, die mich totschlagen wollten. 4000 Briefe kamen, in denen verlangt
wurde, mich zu vergasen. Ich mußte aus meiner Stuttgarter Wohnung ausziehen.
Meine Tuberkulose ist wieder ausgebrochen. Ich hatte Todesangst. Unterschätzen
Sie das nicht! Es war schlimm. Ich dachte, ich würde nie wieder in meinem Beruf
arbeiten können, höchstens in Amsterdam.
Auch nicht schlecht.
PEYMANN: Doch, denn ich bin ja an die Sprache gebunden. Als dann die netten,
harmlosen Leute aus Bochum kamen und mir anboten, ihr Theater zu leiten, erschien
mir das wie ein Wunder.
Anscheinend haben Sie einen Instinkt, der Sie bremst, bevor Sie etwas für Ihren
Aufstieg Nachteiliges machen.
PEYMANN: Das glaube ich nicht. Denn ich habe doch immer das Falsche gemacht.
Aber es hat sich für Sie zum Guten gewendet.
PEYMANN: Wahrscheinlich bin ich ein Sonntagskind.
Wird man so Burgtheaterdirektor?
PEYMANN: Burgtheaterdirektor bin ich geworden, weil ich gute Aufführungen mache
und weil bei mir immer die Kasse gestimmt hat. Die Gleichung, jemand, der Erfolg
hat, muß ein Opportunist sein, ist mir zu simpel. Leute wie Beuys oder Bernhard
waren nie angepaßt, sondern haben für alles bezahlt, während sich andere die
Staatspreise abgeholt haben, und zwar cash down. Den Beuys hat Herr Rau*****,
dieser Versager, für einen Idioten gehalten. Heute fährt er nach Ost-Berlin
und schmückt sich mit ihm. Die ersten Stücke von Thomas Bernhard wurden verlacht.
Aber er hat eben trotzdem keine Kompromisse gemacht wie all die anderen, die
sich schon mit dreißig den Arsch wischen lassen und da eine Professur, dort
eine Villa haben, in der sie dann sitzen mit dicken Bäuchen, weil sie ab einem
bestimmten Zeitpunkt nur noch in Drei-Sterne-Lokalen gegessen haben, Dürrenmatt,
Frisch, ich will keine Namen nennen. Der Dürrenmatt hat mir nach Bochum schlechte
Stücke geschickt und dazu hochtrabende Briefe, die zur Qualität der Stücke in
keinem Verhältnis standen. Aber der war sicher auch toll am Anfang, nur leider
nicht konsequent genug. Man kann doch einem Beuys oder Bernhard, die nach unzähligen
Opfern und Niederlagen endlich erkannt werden als das, was sie sind, nämlich
genial, den Erfolg nicht zum Vorwurf machen. Man kann auch einem Peter Stein
oder Klaus Michael Grüber nicht vorwerfen, daß sie zu einer gewissen Berühmtheit
gelangt sind. Natürlich ist der Jürgen Flimm ein viel netterer Mensch als der
Stein. Den Grüber würde ich gar nicht aushalten, weil er dauernd besoffen ist.
Aber wir reden doch hier über die Kunst! Ein Chereau, der seinen Weg geht wie
ein Irrer, ist halt ein überragender Künstler, während Herr Dorn in München
eine Inszenierung nach der anderen hinwichst, alles halbfertig, gefällig, und
das Resultat ist eben eine Boutique.
Dieter Dorn gilt als großer deutscher Theatermacher.
PEYMANN: Das ist doch ganz unerheblich. Mich interessiert nicht, was in den
Zeitungen steht. Ich probiere mich halb tot sieben Monate lang, schlafe nicht,
fiebere, bringe mich um, während andere am Freitag zum Golfspiel fahren. Das
ist der Unterschied.
Ist das nicht auch eine Frage der Lust? Der eine fiebert gern, der andere spielt
gern Golf.
PEYMANN: Darum geht es nicht. Ich bestreite doch nicht, daß mir das Inszenieren
Vergnügen bereitet. Ich unterscheide nur zwischen Anpassung und Anstand. Ich
habe mir nicht wie Herr Schaaf in Frankfurt einen Vertrag um 150 000 Mark auszahlen
lassen. Ich habe auch keine Orden genommen. Das Bundesverdienstkreuz habe ich
dem Weizsäcker****** um die Ohren gehauen. Das sage ich ganz hart, weil ich
es ekelhaft finde, wenn sich Künstler die Nasenringe hineinziehen lassen. Nichts
gegen Herrn Weizsäcker, mit dem ich einmal sogar ein relativ gescheites Gespräch
führen konnte. Er hatte mir beim Theatertreffen in Berlin aufgelauert. Ich meine
nur, der Staat hat nichts auszuzeichnen, weil er von Kunst nichts versteht.
Ich habe diesen ganzen Scheiß abgelehnt. Ich habe mir den Arsch nicht vergolden
lassen.
Kann man das nicht für sich behalten?
PEYMANN: Doch, sicher.
Aber Sie betonen es dauernd.
PEYMANN: Das liegt an meiner angeborenen Schwatzhaftigkeit. Die wird mir von
meinen Mitarbeitern auch immer vorgeworfen.
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* Der Vertrag wurde verlängert. Peymann war von 1986 bis 1999 Direktor des Burgtheaters
** "Richard III" von Shakespeare mit Gert Voss in der Titelrolle.
*** Kurt Waldheim, von 1986 bis 1992 österreichischer Bundespräsident, berühmt
durch die sogenannte "Waldheim-Affäre", ausgelöst durch die Aufdeckung
seiner nationalsozialistischen Vergangenheit (u.a. Mitgliedschaft im SA-Reiterkorps)
**** Hans Karl Filbinger, ehemaliger Ministerpräsident von Baden-Württemberg,
mußte 1978 aufgrund von Todesurteilen, die er als NS-Richter verhängt hatte,
sein Amt aufgeben, verstarb 2007.
***** Johannes Rau, SPD, von 1978 bis 1998 Ministerpräsident
des Landes Nordrhein-Westfalen,
von 1999 bis 2004 deutscher Bundespräsident,
verstarb 2006.
****** Richard von Weizsäcker, von 1984 bis 1994 Bundespräsident
der Bundesrepublik Deutschland.