(anläßlich der Verhüllung des Berliner Reichstagsgebäudes vom 24. Juni bis zum 9. Juli 1995. Christo Javacheff und seine Frau Jeanne-Claude traten zu dieser Zeit nur noch als Duo auf und gaben auch Interviews nur gemeinsam)
Sie haben etwas in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland Einzigartiges
zuwege gebracht. Politiker diskutierten im Bundestag siebzig Minuten lang über
Kunst.
CHRISTO: Wir sind stolz, daß uns die deutsche Nation das gestattet hat.
Umfragen haben ergeben, daß siebzig Prozent der deutschen Bevölkerung Ihrem
Projekt, das Reichstagsgebäude mit Stoff zu verhüllen, ablehnend gegenüberstehen.
JEANNE-CLAUDE: Das glaube ich nicht.
CHRISTO: Vielleicht stimmt es. Aber das wird sich ändern. Bei unseren früheren
Projekten war es genauso. Vorher sind die Leute dagegen. Wenn sie es sehen,
sind sie begeistert.
Haben Sie triumphiert, als sich das Parlament gegen die Bevölkerungsmehrheit
für Ihr Projekt entschied?
CHRISTO: Nein, es war kein Triumph. Daß ein Parlament gegen die Mehrheit des
Volkes stimmt, ist nichts Besonderes.* Das geschah nicht zum ersten Mal.
JEANNE-CLAUDE: Natürlich waren wir glücklich, daß wir Herrn Kohl siebenundsiebzig
seiner eigenen Leute gestohlen haben. Damit hatten wir nicht gerechnet, und
wissen Sie, wer uns am meisten geholfen hat? Unser größter Gegner, Herr Schäuble**.
Er sagte, durch die Verhüllung des Reichstags werde ein nationales Symbol entwürdigt.
Das empfanden viele als zu pathetisch.
Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth meinte in einer Rede anläßlich der Ausstellungseröffnung
»Christo in Berlin« , viele Leute würden es besser verstehen, wenn Sie ein häßliches
Gebäude verhüllten.
CHRISTO: Diese Leute haben überhaupt nichts begriffen.
JEANNE-CLAUDE: Man schickt uns oft Fotos von häßlichen Gebäuden und schreibt,
das ist so scheußlich, bitte kommen Sie, und verhüllen Sie es.
CHRISTO: Fotos von Kernkraftwerken zum Beispiel.
JEANNE-CLAUDE: Wir haben eine Schublade voll Angeboten. Man hat uns auch offeriert,
die Freiheitsstatue in New York zu verhüllen. Wir haben abgelehnt. Der Bürgermeister
des englischen Badeorts Bath hat uns einen reizenden Brief geschrieben, wir
könnten mit seiner Stadt tun, was wir wollen. Wir haben ihm höflich zurückgeschrieben,
wir fühlten uns sehr geehrt, aber wir hätten kein Interesse. Wir müssen zu den
Plätzen, an denen unsere Kunst entsteht, eine Beziehung haben.
Die Idee, den Reichstag zu verhüllen, entstand 1971. Der amerikanische Journalist
Michael S. Cullen schickte aus Berlin eine Ansichtskarte, auf der das Gebäude
zu sehen war. Sie antworteten umgehend, er solle Ihnen die Genehmigungen besorgen.
Aber Sie waren bis dahin nie in Berlin gewesen.
CHRISTO: Ich war öfter in Deutschland gewesen, aber nicht in Berlin. Ich bin
1956 aus Bulgarien geflohen. Danach war ich staatenlos. Ich fürchtete, die Russen
würden mich schnappen. Erst 1973 bekam ich einen amerikanischen Paß.
Obwohl Sie das Gebäude noch nie gesehen hatten, waren Sie von dem Vorschlag,
es zu verhüllen, gleich angetan.
CHRISTO: Ich kannte Abbildungen, und natürlich wußte ich um die Geschichte des
Bauwerks.
Gefällt es Ihnen?
CHRISTO: Es ist keine große Architektur, ein trivialer viktorianischer Bau.
Das Aufregende ist die Lage. Der Platz, auf dem es wie ein Monolith einsam steht,
ist einzigartig.
JEANNE-CLAUDE: Wir verhüllen nicht nur ein Gebäude. Wir verhüllen die deutsche
Angst, den deutschen Stolz.
Die deutsche Vergangenheit.
CHRISTO: Auch die Zukunft.
Ein Hauptargument Ihrer Gegner war, daß sich Ihre Motive für die Verhüllung
im Laufe der Jahre geändert haben. Vor dem Mauerfall sollte sie als Zeichen
der Freiheit an der Grenze zum Ostblock gesehen werden.
JEANNE-CLAUDE: An der Bedeutung des Baus hat sich nichts geändert. Er ist immer
noch ein Symbol der deutschen Demokratie. Daß er 1933 von den Nazis angezündet
und im Krieg zerstört wurde, wird sich nie ändern.
CHRISTO: Nur haben wir jetzt eine zusätzliche Dimension. Vor 1989 war der Reichstag
ein Mausoleum. Niemand glaubte, daß er noch zu Lebzeiten das Ende des Kalten
Krieges erleben würde. Hätten wir das Projekt damals verwirklicht, hätte es
unausweichlich im Zusammenhang mit der deutschen Teilung gestanden. Der Westen
hätte es propagandistisch benutzen können, um zu zeigen, wie dumm der Osten
ist. Das hätte ich arrogant gefunden. Ich bin froh, daß wir so lange warten
mußten.
JEANNE-CLAUDE: Wir haben ein Dinner bestellt und die Nachspeise gratis dazubekommen.
CHRISTO: Heute ist die Verhüllung ein Symbol für den Neubeginn.
Sie haben sie als »kathartischen Vorgang« bezeichnet.
CHRISTO: Was heißt »kathartisch«?
Geist und Seele werden geläutert durch die Bewußtmachung verdrängter Erlebnisse.
JEANNE-CLAUDE: Oh, Sie meinen so etwas wie Exorzismus? Die Deutschen lieben
dieses Wort.
CHRISTO: Aber wir würden es nie verwenden. Das wäre hochtrabend und dumm. Sie
sollten nicht alles glauben, was in den Zeitungen steht. Die Zeitungen lügen.
JEANNE-CLAUDE: Man fragt uns oft, wie wir dazu kämen, die deutsche Geschichte
für unsere Kunst zu benutzen. Aber ein Künstler darf alles benutzen. Das ist
sein Privileg. Er kann eine Blume malen oder Gott oder ein Baby. Hieronymus
Bosch malte die Hölle. Morandi malte sein Leben lang Flaschen.
CHRISTO: Es gibt keine Tabus in der Kunst. Ein Künstler, der Tabus akzeptiert,
ist nicht ehrlich. Okay, Herr Kohl ist der Meinung, ein Gebäude wie der Reichstag
eigne sich nicht für die Kunst. Aber das kümmert mich nicht.
Haben Sie mit Helmut Kohl über Ihre Kunstauffassung gesprochen?
CHRISTO: Herr Kohl wollte nicht mit uns sprechen.
JEANNE-CLAUDE: Wir haben ihm zwei Briefe geschrieben, persönliche Briefe. Es
kam keine Antwort. Wir sind die einzigen Menschen, denen das Büro von Herrn
Kohl nicht geantwortet hat.
Glauben Sie, daß er etwas von Kunst versteht?
JEANNE-CLAUDE: Leute, die ihn gut kennen, sagen, er mag keine Kunst.
CHRISTO: Er mag vielleicht Käthe Kollwitz. Herr Weizsäcker, in dessen Bonner
Büro ein Gemälde von Kirchner hing, erzählte uns, der Kanzler habe sich jedesmal,
wenn er ihn besuchte, darüber aufgeregt.
Eines der wichtigsten Ziele Ihrer Arbeit, so sagen Sie, ist es, Heiterkeit zu
verbreiten. Auch die Verhüllung des Reichstags soll ein frohes Ereignis werden.
CHRISTO: Das Wichtigste ist die visuelle Erfahrung, eine Feier des Raums und
der Menschen im Raum. In all meinen Arbeiten geht es um das Erlebnis des Raums.
Deshalb sind wir mit unserer Kunst aus dem Atelier hinausgegangen. Wir mieten
öffentlichen Raum und erobern ihn für die Kunst. Die Verhandlungen mit den Eigentümern,
den Regierungen und Distriktsgouverneuren, die dem vorausgehen, sind schon Teil
des Projekts.
JEANNE-CLAUDE: Wir haben den Reichstag von Ihnen geliehen, von Ihnen und achtzig
Millionen anderen Deutschen.
CHRISTO: Sie dürfen nicht vergessen, alles auf der Welt gehört jemandem. Wir
bewegen uns vierundzwanzig Stunden am Tag in einem von Politikern kontrollierten,
von Stadtplanern, Architekten oder Farmern gestalteten Raum. Indem wir ein Stück
dieses Raums für eine begrenzte Zeit in ein Kunstwerk verwandeln, nutzen wir
die enorme Komplexität dieser Zusammenhänge. Wir stellen sie dar. In jedem unserer
Projekte steckt der unglaubliche Reichtum dieser komplizierten Besitzverhältnisse
mit all den Vorschriften, Versicherungen und Auflagen, die damit verbunden sind.
JEANNE-CLAUDE: Viele Leute halten uns für Bildhauer oder Maler. Aber unsere
Arbeit hat viel mehr mit Architektur, Stadtplanung und Logistik zu tun.
CHRISTO: Denken Sie zum Beispiel an unser Projekt »Umbrellas« in Japan und Kalifornien.
Durch das Aufstellen von dreitausendeinhundert Schirmen, jeder sechs Meter hoch,
wollten wir den Lebensstil in zwei technisch hochentwickelten, aber sehr verschiedenen
Kulturen vergleichen. Dazu mußten wir mit vierhundertneunundfünfzig japanischen
Bauern sprechen. Wir mußten mit der Regierung sprechen. Es hat eineinhalb Jahre
gedauert, bis wir vom Bauminister die Genehmigung hatten. Aber was glauben Sie,
wofür?
JEANNE-CLAUDE: Nicht dafür, eintausenddreihundertvierzig blaue Schirme achtzehn
Tage lang in einem japanischen Tal aufzustellen, sondern eintausenddreihundertvierzig
Häuser.
CHRISTO: Der Mann hat unsere Absichten besser kapiert als jede Kunstjournalist.
Denn wir haben nicht Schirme in die Landschaft gestellt, sondern Häuser ohne
Wände, jedes so groß wie ein Junggesellenappartement. Wir haben Dörfer gebaut.
Ein Schirm ist kein Kunstwerk. Auch zwei Schirme sind keine Kunst. Aber dreitausendeinhundert
Schirme in einen Raum mit Bäumen, Flüssen, Brücken, Kirchen und Tempeln zu integrieren,
diesen vielschichtigen Raum zu erschließen, das ist etwas absolut Einmaliges.
Das kann niemand erfinden. Nicht der Einfall, sondern die Durchführung ist das
Entscheidende. Kein Theaterregisseur kann den vierundzwanzig Jahre dauernden
Kampf inszenieren, den wir ausfechten mußten, um das Reichstagsprojekt zu verwirklichen.
JEANNE-CLAUDE: Es war wie Krieg.
Und was ist der Lohn?
JEANNE-CLAUDE: Der schönste Moment wird sein, wenn wir das Baby sehen. Wir waren
vierundzwanzig Jahre lang schwanger damit.
CHRISTO: Ein Traum wird Gestalt annehmen. Die Wirklichkeit wird die Phantasie
in den Schatten stellen. Der Stoff wird aussehen wie Seide. Er wird in Bewegung
sein. Die Falten sind einen Meter tief. Das Sonnenlicht wird in ihnen spielen.
Mit jeder Wolke wird sich das Bild verändern. Wenn der Wind weht, werden neue
Formen entstehen. Nachts wird sich der Mond darin spiegeln. Es wird umwerfend
sein.
JEANNE-CLAUDE: Wie Musik, die man sehen kann.
CHRISTO: Wir machen aus dem Stein etwas Lebendiges. De Reichstag wird atmen.
JEANNE-CLAUDE: Es wird kein tragisches Kunstwerk sein, weil wir keine tragischen
Menschen sind.
CHRISTO: Ich weiß natürlich, daß manche Leute ihre depressiven Gedanken an unser
Projekt knüpfen wollen. Diese Leute verstehen uns nicht. Es geht nicht um irgendwelche
traumatischen Erfahrungen, die wir wachrufen möchten. Unsere Kunst ist optimistisch,
weil wir optimistisch sind. Jeanne-Claude kann Ihnen erzählen, wie sehr ich
mich über jede Kleinigkeit freue. Ich freue mich am Wind, am Regen, an der Sonne,
an der verrinnenden Zeit. Ich freue mich über jeden Menschen, der auf der Straße
geht. Ich bin ein optischer Mensch. Mich fasziniert, was man mit den Augen erfühlen
kann. Ich sitze nicht vor dem Bildschirm. Ich hasse Computer. Ich kann Elektronik
nicht ausstehen. Ich kann nicht einmal telefonieren, weil ich die Person, mit
der ich spreche, physisch vor mir haben muß. Deshalb mache ich meine Kunst nicht
im Studio. Es würde mich fürchterlich langweilen, den ganzen Tag im Atelier
zu stehen und Bilder zu malen. Die dummen Künstler, die das tun, werden nie
wissen, was Schauen bedeutet.
Meinen Sie mit depressiven Gedanken die Erinnerung an die dunklen Kapitel der
deutschen Geschichte in diesem Jahrhundert?
JEANNE-CLAUDE: Ja, das existiert natürlich.
CHRISTO: Man muß sich dafür interessieren. Aber man darf nicht so allgemein
von den Deutschen sprechen. Jeder Mensch ist ein Individuum.
JEANNE-CLAUDE: Haben denn Sie im Krieg etwas falsch gemacht?
Ich war nicht geboren. Trotzdem bedrückt mich, was damals geschah.
CHRISTO: Sicher ist Auschwitz etwas, das man niemals vergessen darf.
JEANNE-CLAUDE: Aber auch Goethe war Deutscher, verstehen Sie? Es gibt nicht
nur Auschwitz.
CHRISTO: Das Böse ist Teil der menschlichen Psyche, wie auch das Gute.
JEANNE-CLAUDE: Gewalt ist menschlich. Man sagt immer, Auschwitz sei unmenschlich.
Bedauerlicherweise ist es das nicht. Haß gehört zum Menschen genauso wie Liebe.
CHRISTO: Natürlich ist Grausamkeit schrecklich. Auschwitz war ein Gipfel der
Grausamkeit. Aber wir dürfen nicht so tun, als wäre sie abzuschaffen. Bis 1989
lebten wir in einer erstarrter Welt des Kalten Krieges. Das Böse war wie unter
einer Eisdecke verborgen. Niemand wußte, was im Osten geschah weil nicht berichtet
wurde. Nun befinden wir uns plötzlich in einem Shakespearschen Drama. Tag für
Tag erleben wir ungeheure Gewaltausbrüche. Einer tötet den anderen. Es is wie
im Mittelalter. Es ist grauenvoll, aber menschlich. Wir können die Welt nur
verbessern, wenn wir fähig sind, die menschliche Natur so zu sehen, wie sie
ist. Vereinfachungen sind mir ein Greuel. Heute erkennen wir, wer wir wirklich
sind. Wir haben unsere Menschlichkeit wiederentdeckt.
Haben Sie das Böse auch in sich selbst gesucht?
CHRISTO: Jeanne-Claude sagt, daß ich oft schreie. Ich bin kein sanftmütiger
Mensch.
JEANNE-CLAUDE: Das stimmt nicht. Er ist die verkörperte Sanftmut. Aber wissen
Sie, warum er so ist? Er will seine Zeit nicht mit Haß vergeuden.
CHRISTO: Die Zeit ist zu kostbar. Ich mag es auch nicht, wem Leute ständig über
ihre Probleme reden. Ich hasse Leute, die sich dauernd beklagen.
Sie klagen nie?
CHRISTO: Ich war schon sehr frustriert, als uns Herr Carstens***, Her Stücklen****
und Herr Jenninger***** für das Reichstagsprojekt keine Erlaubnis gaben. Wir
haben drei Bundestagspräsidenten überlebt. Nach der Ablehnung durch Jenninger
1987 war ich so wütend, daß ich drei Jahre keine Zeichnungen vom Reichstag mehr
machte. Erst 1990 kam durch Frau Süssmuth die Wende.
JEANNE-CLAUDE: Ich glaube, sie hat nur zugestimmt, um Helmut Kohl zu ärgern.
CHRISTO: Aber sie war sehr pessimistisch. Vor der Debatte im Parlament wettete
sie mit uns um fünf Flaschen Champagner, daß wir verlieren werden.
Sie sind trotzdem optimistisch geblieben.
CHRISTO: Ich mag es nicht, wenn man mich in eine pessimistische Stimmung bringt.
Ich kann ohne Hoffnung nicht leben. Ich glaube, Pessimismus entsteht aus einer
Art Arroganz. Ein Pessimist meint, er wisse schon alles. Darüber streite ich
oft mit meinem Sohn.
JEANNE-CLAUDE: Mit unserem Sohn.
Ihr Sohn ist Pessimist?
CHRISTO: Ja, er glaubt, daß die Welt untergeht. Ich bin da viel zweifelnder.
Ich weiß, daß es Atombomben, Erdbeben und alles mögliche Schlechte gibt. Aber
ich halte es für naiv, anzunehmen, daß wir das Glück haben, die letzten Menschen
zu sein.
JEANNE-CLAUDE: Unser Sohn ist Dichter. Ein Dichter kann nicht nur lustig sein.
Vielleicht muß er dafür bezahlen, daß Sie dauernd fröhlich sind.
JEANNE-CLAUDE: Das sagt er auch.
Er muß es ausbaden.
JEANNE-CLAUDE: Nobody ist perfect.
CHRISTO: Ich glaube, mein Optimismus kommt daher, daß ich mit nichts als meiner
Liebe zur Kunst aus meiner Heimat geflohen bin. Ich kannte keinen einzigen Menschen
im Westen Ich konnte keine westliche Sprache.
JEANNE-CLAUDE: Er konnte nicht einmal das Alphabet, weil in Bulgarien Kyrillisch
geschrieben wird.
CHRISTO: Ich hatte dreihundert Dollar gespart. Damit bestach ich in Prag einen
Zollbeamten, der mich in einem plombierten Waggon über die Grenze ließ.
Was war das Motiv Ihrer Flucht?
CHRISTO: Ich ging in den Westen, um künstlerisch frei zu sein.
Nicht auch aus politischen Gründen?
CHRISTO: Doch, natürlich. Ich hatte rasch begriffen, daß der Kommunismus in
Wahrheit ein Staatskapitalismus wie in irgend einer Bananenrepublik in Südamerika
war. Mein Vater besaß vor dem Krieg eine Textilfabrik, die 1947 verstaatlicht
wurde. Ich war ein kleiner Junge, als eines Tages kurz vor Weihnachten die Geheimpolizei
mit Gewehren kam und sagte, jeder nimmt einen Koffer und verläßt in zehn Minuten
das Haus. Wir haben durch die Kommunisten alles verloren. Zwei Wochen später
befahlen sie meinem Vater, da sie sein Wissen brauchten, in die Fabrik, die
nun nicht mehr ihm gehörte, zurückzugehen. Nichts funktionierte. Dann passierte
ein Unfall. Man beschuldigte ihn der Sabotage. Er kam ins Gefängnis. Hätte sich
meine Mutter, die als Generalsekretärin de Kunstakademie einigen Einfluß hatte,
nicht für ihn eingesetzt, man hätte ihn hingerichtet. Das war eine schreckliche
Zeit. Ich durfte nicht mehr zur Schule gehen. An unserer Hauswand stand: Hier
wohnen Volksverräter.
Wann begannen Sie, sich mit Kunst zu beschäftigen?
CHRISTO: Als ich sechs Jahre alt war. Meine Mutter hatte bemerkt daß ich gut
zeichnen konnte. Sie stellte einen Privatlehrer an, der mich in Geometrie, Kunstgeschichte
und Malerei unterrichtete. Sie war eine phantastische Frau. Sie ermutigte mich,
Künstler zu werden, wie auch meinen älteren Bruder, der heute in Sofia ein berühmter
Schauspieler ist.
Gab es in Bulgarien die Möglichkeit, westliche Kunst zu sehen?
CHRISTO: Nein, aber ich lernte die russischen Konstruktivisten kennen. Die gegen
den bürgerlichen Kunstbegriff gerichtete Idee der sowjetischen Künstler in den
zwanziger Jahren, aus den Museen hinaus auf die Straßen und Plätze zu gehen,
hat mich sehr stark beeinflußt. Unter Stalin durfte man über diese Leute nicht
sprechen. Aber es gab einige alte Kunstprofessoren, die es trotzdem taten, wenn
sie betrunken waren. Im Westen wurde dann Dubuffet für mich wichtig, weil er
in seinen Bildern verschiedene Materialien, nicht nur Farbe, benutzte. Ich studierte
ein Semester an der Wiener Kunstakademie. Dann ging ich nach Genf. Aber mein
Traum war Paris.
Wovon lebten Sie damals?
CHRISTO: Ich malte. In Genf machte ich Ölporträts von den Mitarbeitern der Vereinten
Nationen. Zum Beispiel habe ich Giscard d'Estaing****** und seine Familie gemalt.
Schließlich hatte ich genug Geld, um nach Frankreich zu fahren. Im November
1958 bekam ich das Angebot, Jeanne-Claudes Mutter, die aus einer reichen aristokratischen
Familie stammte, zu porträtieren. So lernte ich meine Ehefrau kennen.
JEANNE-CLAUDE: Zu dieser Zeit hatte er schon begonnen, Dosen, Flaschen und andere
kleine Gegenstände in Stoff einzupacken. Als ich zum erstenmal in sein Studio
kam und all diese Pakete sah, dachte ich, um Himmels willen, der Mann ist übergeschnappt.
Wie kamen Sie auf die Idee, das Verpacken von Dosen für Kunst zu halten?
CHRISTO: Es war keine Idee.
JEANNE-CLAUDE: Würden sie Cézanne fragen, warum er Äpfel malte?
Warum nicht?
CHRISTO: Wahrscheinlich hatte es mit meiner Ausbildung zu tun. Die Kunstschulen
in Bulgarien waren sehr konservativ. Als ich das Land verließ, hatte ich mich
noch nicht entschieden, welche Art Künstler ich werden wollte. Also war es ganz
natürlich, daß ich mehreres ausprobierte.
Den Einfall, die Ästhetik wertloser Gegenstände durch ihr Verpackung hervorzuheben,
hatten vor Ihnen schon andere
CHRISTO: Jede Kunstrichtung hat ihre Vorläufer. Textilien sind seit Tausenden
Jahren ein Motiv in der Kunst. Nur hat man früher, um sie darzustellen, Bronze
und Marmor verwendet. Degas verwendete für seine Skulptur einer Ballerina zum
erstenmal richtigen Stoff. Von Man Ray gibt es schon verpackte Objekte. Henry
Moore zeichnete 1942 eine verpackte Säule.
JEANNE-CLAUDE: Sie müssen bedenken, Christo war 1958 ein armer Flüchtling, der
sich Gold und Marmor nicht leisten konnte
CHRISTO: Ja, aber das war nicht das Entscheidende. Der wesentliche Aspekt unserer
Arbeit ist ihre Kurzlebigkeit. Stein un Metall sind Materialien für die Ewigkeit.
Unsere Projekte gibt es nur für eine bestimmte Zeit, zehn Tage, zwei Wochen,
manchmal auch länger. Die Verhüllung des Reichstags wird vierzehn Tage dauern.
Dann verschwindet sie wieder. Unsere Kunst steht nicht für immer da. Niemand
kann sie kaufen. Niemand kann sie besitzen. Sie entsteht einzig un allein, weil
wir es wollen. Kein Staatspräsident, kein Kulturminister, kein Museumsdirektor
hat sie bestellt. Sie dient keinem Zweck. Sie gehorcht keiner Moral. Sie ist
absolut frei. Sie muß sich nicht rechtfertigen. Sie ist irrational. Wir bezahlen
sie mit unserem Geld. Deshalb sind wir niemandem eine Erklärung schuldig.
Das werden die Abgeordneten des deutschen Bundestage, die mit den verschiedensten
Argumenten für oder gegen Ihr Vorhaben stritten, nicht gerne hören.
JEANNE-CLAUDE: Jetzt ist es zu spät.
CHRISTO: Wir haben nie anders geredet. Wir haben immer die Wahrheit gesagt.
JEANNE-CLAUDE: Wir haben Herrn Schäuble in seinem Büro erklärt, wir verhüllen
den Reichstag, weil es uns so gefällt.
Wie reagierte er?
JEANNE-CLAUDE: Er war sehr höflich. Er hat französisch mit mir gesprochen.
CHRISTO: Der Individualismus in der Kunst ist eine der wichtigsten Errungenschaften
in diesem Jahrhundert. Früher arbeitete ein Künstler für Auftraggeber. Er mußte
sich nach den Wünschen der Kunden richten. Er war nicht frei. Erst im neunzehnten
Jahrhundert begannen die Maler, ihre Bilder nur für sich selbst zu machen. Aber
sie hatten diese Freiheit nur in den Ateliers. Dort konnten sie tun, was sie
wollten. Ich habe die Freiheit des Künstlers unendlich erweitert. Ich habe den
öffentlichen Raum zu meiner Leinwand gemacht.
Glauben Sie, Michelangelo war künstlerisch unfrei, weil er im Auftrag des Papstes
malte?
CHRISTO: Mein Gott, Sie begreifen nichts.
JEANNE-CLAUDE: Darling, ich glaube, er begreift sehr gut. Er möchte nur, daß
wir es mit unseren Worten sagen.
CHRISTO: Die gotischen Künstler waren weniger frei als die der Renaissance,
die der Renaissance weniger als die des Barock. Es gibt einen Fortschritt der
Freiheit. Aber erst heute haben wir die totale Freiheit. Wir lassen uns auf
keinerlei Kompromisse ein. Wir bestimmen die Plätze, an denen unsere Projekte
entstehen. Wir bestimmen, wie sie aussehen. Wir bestimmen den Monat, den Tag,
den Moment, in dem sie zum Leben erwachen.
Und auch den Moment ihrer Zerstörung.
JEANNE-CLAUDE: Nicht Zerstörung.
CHRISTO: Ihrer Entfernung.
Sie achten darauf; daß Ihr Werk von niemandem außer Ihnen beseitigt wird.
JEANNE-CLAUDE: Natürlich, denn es ist unser Werk. Wir haben dafür bezahlt.
Sie beschäftigen Wachpersonal, das dafür sorgt, daß niemand den Stoff berührt.
CHRISTO: Wer hat Ihnen denn diesen Unsinn erzählt?
Stimmt es nicht, daß Sie die Umhüllung gegen Beschädigung schützen?
JEANNE-CLAUDE: Wenn jemand auf die Idee kommt, unser Eigentum zu beschädigen,
werden wir das natürlich verhindern. Denn wir haben den Leuten versprochen,
daß sie es vierzehn Tage lang anschauen können.
CHRISTO: Erstens sind unsere Wachen nicht Polizisten, sondern nur dazu da, um
für Ordnung zu sorgen. Zweitens kommen die Leute nicht, um zu zerstören. Nur
Kunstwerke aus Stein und Stahl fordern Vandalismus heraus, weil sie bedrohlich
sind Auf das zarte Material, das wir verwenden, reagieren die Menschen mit Zärtlichkeit.
JEANNE-CLAUDE: Weil sie Ehrfurcht haben, verstehen Sie? Wir geben ihnen die
Gelegenheit, etwas zu sehen, das sie nie wieder sehen werden, und sie begreifen,
daß das ein großes Geschenk von uns ist.
CHRISTO: Die Leute, die den verhüllten Reichstag betrachten, wissen, daß sie
Zeuge von etwas Einmaligem sind. Nur die Erinnerung bleibt. Unsere Kunst ist
sehr flüchtig und sehr verwundbar. Andere Künstler haben fünftausend Jahre lang
die Welt mit ihrem Kram vollgestellt. Wir räumen alles weg. Wir lassen nichts
zurück. Wir sind die saubersten Künstler, die es je gab. Der temporäre Charakter
unserer Werke ist eine Kampfansage an den naiven Hochmut der Menschen, die glauben,
man könne Unsterbliches schaffen. Er ist ein Symbol für die Vergänglichkeit.
Ein Symbol für die Vergänglichkeit ist jedes Kunstwerk, das verfällt oder verlorengeht.
Ein Symbol für die Vergänglichkeit ist auch die Frauenkirche in Dresden.*******
CHRISTO: Die wurde zerstört.
Ja, aber nicht vom Erbauer.
JEANNE-CLAUDE: Was, glauben Sie, ist der Grund, weshalb wir so großen Wert darauf
legen, daß unsere Werke nur für eine gewisse Zeit bestehen?
Dazu muß ich Ihnen eine kurze Geschichte erzählen.
JEANNE-CLAUDE: Bitte.
Ich habe als Kind, wenn mich meine Mutter zum Essen rief, die Burgen, die ich
im Sandkasten baute, bevor ich ging, niedergetrampelt, um ihrer Vernichtung
durch andere Kinder zuvorzukommen. Indem ich das von mir Geschaffene selbst
zerstörte, fühlte ich mich wie Gott, der Anfang und Ende von allem ist.
JEANNE-CLAUDE: Wir glauben nicht an Gott.
Nein, aber Ihre Kunst ist der verzweifelte Versuch, ihm ähnlich zu werden.
CHRISTO: Ich weiß gar nicht, wovon er spricht.
Christo erschafft seine Projekte...
JEANNE-CLAUDE: Nicht Christo, wir tun es zusammen.
... und er bestimmt, wie lang man sie sehen kann.
JEANNE-CLAUDE: Würden Sie bitte wiederholen, was ich soeben sagte. Nicht Christo
erschafft die Projekte, sondern Jeanne-Claude und Christo.
Also gut.
JEANNE-CLAUDE: Wir haben beschlossen, eine Person zu sein, und wir hoffen, daß
Sie Ihren Lesern das deutlich machen. Wenn Sie fortfahren, von Christo allein
zu reden, ist dieses Gespräch beendet. Dort ist die Tür.
CHRISTO: Darf ich jetzt auch etwas sagen? Es geht nicht um Gott, sondern um
die Unwiederholbarkeit des ersten Augenblicks. Ich glaube, jede Kunst existiert
im eigentlichen Sinn nur in ihrer Entstehungszeit. Dieser sublime Moment des
Beginns, da sie erschaffen und von den Zeitgenossen gesehen wird, ist einzigartig.
Danach verändert sie sich. Sie wird schlechter. Sie verliert ihre Gültigkeit.
Die Venus von Milo stand, als sie geschaffen wurde, auf einer Insel im Sonnenlicht.
Sie war bemalt. Heute ist sie eine weiße Ruine, die im Museum steht, ein armseliges
Überbleibsel. Mit dem Original hat das, was wir heute betrachten, nichts mehr
zu tun.
Eben darum, so meine ich, ist sie ein Symbol der Vergänglichkeit, und ich bin
froh, daß ich das sehen darf.
JEANNE-CLAUDE: Warten Sie, ich werde es Ihnen erklären. Ich will Ihnen sagen,
warum wir uns freiwillig entschieden haben, daß es unsere Werke nur eine bestimmte
Zeit lang gibt. Das Wertvollste im Leben ist das Vergängliche, zum Beispiel
die Kindheit oder ein Regenbogen oder ein glücklicher Augenblick. Gerade weil
etwas vergänglich ist, lieben wir es besonders. Die Kunst hat bisher alles mögliche
ausgedrückt. Aber dieses Wertvollste war ihr, bevor wir, Christo und ich, mit
unserer Arbeit begannen, verwehrt. Wir haben ihr diese Qualität der Vergänglichkeit,
die zum Leben gehört und die so viel Zärtlichkeit weckt, hinzugefügt.
CHRISTO: Es war eine rein ästhetische Entscheidung.
JEANNE-CLAUDE: Und sie bedeutet nicht, daß wir Gott sein wollen.
Sie vergleichen Ihre Projekte mit einem Regenbogen.
JEANNE-CLAUDE: Ja.
Aber ein Regenbogen kommt und vergeht. Er ist Teil der göttlichen Schöpfung.
CHRISTO: Wir brauchen keinen Gott. Unsere Religion ist die Kunst, und Kunst
ist menschlich. Sie ist der erhabenste Ausdruck des Menschlichen. Ein Tier kann
nicht Künstler sein. Ein Mensch der Sinn für die Kunst hat, ist ein gesegneter
Mensch.
Ja, er ist näher bei Gott als eine Gans.
JEANNE-CLAUDE: Woher wissen Sie das? Haben Sie Gott gesehen? Vielleicht ist
Gott eine Gans.
Okay, ein anderes Thema.
CHRISTO: Sie denken zu kompliziert über die Dinge. So kompliziert denken wir
nicht. Wir sind einfache Menschen, und auch, was wir tun, ist sehr einfach.
In der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" haben Sie auf die Frage,
was für Sie das größte Unglück wäre, geantwortet, Ihre Augen und Ihre Frau zu
verlieren.
CHRISTO: Ja, selbstverständlich.
Andererseits fliegen Sie nie im selben Flugzeug wie sie, damit, wenn einer abstürzt,
der andere überlebt.
CHRISTO: Das tun wir, damit, wenn einer stirbt, der andere die Arbeit beenden
kann.
JEANNE-CLAUDE: An der Verhüllung des Reichstages sind Dutzende von Ingenieuren,
Gerüstbauern, Webern und elf Fabriken beteiligt. Wir haben nicht das Recht,
die alle im Stich zu lassen.
Glauben Sie, daß Sie, wenn es das für Sie Wichtigste nicht mehr gibt, weitermachen
können wie bisher?
CHRISTO: Das weiß ich nicht.
Haben Sie noch nie eine Krise erlebt, die Sie so niederwarf, daß Sie nicht mehr
arbeiten konnten?
CHRISTO: Oh nein, nie!
Das ist doch unnatürlich. Jeder Mensch erlebt einmal einen Tiefpunkt.
JEANNE-CLAUDE: Haben Sie Kinder?
Nein.
JEANNE-CLAUDE: Dann wissen Sie nicht, wie es ist, wenn eine Mutter Tag und Nacht
für ihr Baby sorgt. Es ist Liebe. Wir lieben unsere Arbeit. Unsere Arbeit ist
unser Leben. Wir arbeiten nicht, sondern wir leben.
CHRISTO: Ich kann mir den Tod von Jeanne-Claude nicht vorstellen. Ich will nicht
daran denken.
JEANNE-CLAUDE: Ich schon.
CHRISTO: Wir denken an das Leben, nicht an den Tod. Unser Leben ist die Kunst.
Wir leben achtzehn Stunden am Tag für die Kunst. Um Künstler zu sein, bin ich
aus meinem Land geflohen. Ohne die Kunst wäre ich zugrunde gegangen. Ich hab
keine Heimat. Ich habe keine Sprache. Ich habe zwar eine amerikanischen Paß,
aber ich würde nie sagen, daß ich deshalb Amerikaner bin. Mein Englisch ist
miserabel, mein Französisch noch schlechter, und mein Bulgarisch habe ich fast
vergessen. Ich bin ein Fremdling auf dieser Welt. Diese Fremdsein ist der Kern
unserer Arbeit. All unsere Projekt sind davon geprägt.
JEANNE-CLAUDE: Unser Zuhause sind die Orte, an denen unsere Werke entstehen.
CHRISTO: Wir kehren auch, wenn die Projekte beendet sind, immer wieder zu ihnen
zurück.
In einem früheren Interview sagten Sie, das Leben sei voller Grausamkeiten,
aber durch die Kunst würden sie in Schönheit verwandelt.
CHRISTO: Das Leben ist nicht immer angenehm, aber es ist immer dramatisch. In
Shakespeares »Titus Andronicus« sterben neun Leute im ersten Akt. Töten ist
schrecklich. Aber bei Shakespeare ist es sehr schön.
JEANNE-CLAUDE: Während unseres Projekts »Umbrellas« gab es zwei Unfälle. Zwei
Menschen starben. In Japan geriet ein Kranfahrer in den tödlichen Stromkreis
einer Hochspannungsleitung. In Kalifornien erschlug ein von einer Windbö erfaßter
Schirm eine Frau. Das war tragisch, aber so ist da Leben.
CHRISTO: Unsere Kunst spiegelt die Wirklichkeit. Deshalb fasziniert es mich
so, das zu tun. Wir zeigen das wahre Leben, aber wir zeigen es nicht im Museum
oder auf einer Bühne. Unsere Projekte sind kein Theaterstück.
Haben Sie den Angehörigen der Getöteten kondoliert?
JEANNE-CLAUDE: Wir fuhren zu den Begräbnissen, und dort geschah etwas Erschütterndes.
CHRISTO: Es war nicht nur erschütternd. Es war auch sehr aufschlußreich.
JEANNE-CLAUDE: Wie Sie wissen, wollten wir mit diesem Projekt die Lebensart
von Menschen in zwei verschiedenen Landstrichen vergleichen. Der Mann, der seine
Frau verloren hatte, ein Amerikaner, bedankte sich bei uns. Er sagte, der Tag,
an dem sie verunglückt war, sei der schönste in ihrem Leben gewesen. Sie war
sehr krank. Sie hätte nicht mehr lange gelebt, aber sie hat vor ihrem Tod noch
unsere Schirme gesehen. Die Ehefrau des Arbeiters, der in Japan verunglückt
war, kam nach der Beerdigung auf uns zu und bat um Entschuldigung, weil uns
der Tod ihres Mannes in eine so schwierige Lage brachte. Ich mußte weinen, weil
genau das geschah, was wir mit dem Projekt hatten ausdrücken wollen.
CHRISTO: Es war unglaublich.
Sie haben es nicht als Katastrophe empfunden?
JEANNE-CLAUDE: Wenn Sie dreihundertfünfzigtausend Menschen an einem Ort zusammenbringen,
müssen Sie damit rechnen, daß zwei oder drei sterben.
Zur Verhüllung des Reichstags werden vier Millionen erwartet.
CHRISTO: Wir können nur hoffen, daß niemand zu Tode kommt.
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* Am 25. Februar 1994 entschied der deutsche Bundestag in namentlicher Abstimmung
mit 292 gegen 223 Stimmen für die Verhüllung.
** Wolfgang Schäuble, damals Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion
*** Karl Carstens, vom 1976 bis 1979 Präsident des deutschen Bundestages von
1976 bis 1979, danach bis 1984
Bundespräsident der Bundesrepublik
Deutschland.
**** Richard Stücklen, Bundestagspräsident von 1979 bis 1983
***** Philipp Jenninger, Bundestagspräsident von 1984 bis 1988
****** Valery Giscard d'Estaing, von 1974 bis 1981 französischer Staatspräsident
******* 1995 war noch nicht geplant, die Dresdner Frauenkirche wiederaufzubauen.
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Erschienen am 2. Juni 1995 in der ZEIT