Interview mit Bernhard Minetti



Claus Peymann, mit dem Sie oft gearbeitet haben, hat Ihnen in einem Interview in der "Zeit" Größenwahn vorgeworfen.

BERNHARD MINETTI: Kein Problem.

Schauspieler, so Peymann, seien oft dumm. Sie müßten am Abend der König sein, sich aber beim Probieren vom Regisseur manipulieren lassen. Dieser Zwiespalt zerreiße sie.

MINETTI: Hier muß ich den guten Peymann insofern korrigieren, als ich, wenn wir probierten, mehr wußte als er. Im Grunde hat er von mir gelernt, ganz bestimmt, und hat auch wunderbar reagiert. Was er größenwahnsinnig nennt, kommt aus der Irritation, die er empfindet, weil ich in der Auffassung einer Rolle, eines Stückes, ganz sicher bin und diese Sicherheit auch verteidige ihm gegenüber.

Ohne Größenwahn, sagten Sie, sei Qualität in der Kunst nicht möglich.

MINETTI: Eben. Ich meine, daß ein Schauspieler, der überzeugen will, diesen Größenwahn haben muß, dem Direktor, dem Regisseur und dem Publikum gegenüber.

Der größte Feind des Schauspielers sei sein Publikum, so Thomas Bernhard.

MINETTI: In jeder Hinsicht, der größte Feind, ja, weil es den Schauspieler zur Aggressivität oder, wenn es ein gutes Publikum ist, zum Leichtsinn verführen kann.

Zur Aggressivität, wenn es stört.

MINETTI: Ja, wenn Skandal entsteht, wenn rausgegangen wird oder Türen geschlagen werden. Das ist natürlich ein Schock, weil ich ja auf der Bühne ein anderer bin. Dieser andere will leben. Dessen Leben lasse ich mir nicht rauben. Das verteidige ich.

Gegen das Publikum.

MINETTI: Gegen, ja, obwohl ich hinterher glücklich bin, wenn sich Zustimmung zeigt, überglücklich. Ich habe ein großes Gefühl, wenn ich den Beifall entgegennehme. Dafür bin ich genauso empfänglich, wie ich während des Spielens die Enttäuschung spüre oder die Gleichgültigkeit. Hier kommen wir zur Phänomenologie der Schauspielerei. Ich bin auf der Bühne nicht mehr ich selbst. Ich bin die Figur, die ich schützen muß. Ich bin auch verführerisch, werde aber im Grunde verführt, oder ich bin dämonisch, entwickle einen Dämon, um das Publikum zu beherrschen, nehme ihn aber sofort wieder zurück, wenn ich verstanden bin. An manchen Abenden hat man ein Abonnentenpublikum, das primitiv ist, ein Gewohnheitspublikum, träge, das gar nicht zu bewegen ist.

Oder zu häufig lacht.

MINETTI: Ja.

Sie wollen das Lachen zerstören.

MINETTI: Ja, aber auch herstellen, beides.

Lachen die Leute nicht schon genug heutzutage?

MINETTI: Das Lachen wird zu sehr bedient vom Theater, das ist richtig, viel zu sehr. In Berlin klatschen die Leute bei Aufführungen, die so banal sind, so faxenhaft, sich selbst verulkend. Die Tragödien als Farce zu zeigen, ist einmal gut, ein Shakespeare hat die Schultern, das zu ertragen, mühelos, aber im allgemeinen ertragen es die Klassiker nicht. Sie vertragen auch keine Psychologisierung, keine Interessantheit, die aufgepfropft ist. Mein bester Regisseur war Jürgen Fehling. Der sagte, interessant ist gar nicht interessant auf dem Theater.

Sie spielen am Schillertheater den Puck im »Sommernachtstraum«.

MINETTI: Ja, in der Inszenierung von Neuenfels, mit dem ich mich gar nicht verstanden habe, weil er die Schauspieler nicht zueinander bringt und alles psychologisch erklären will, mit originellen Einfällen, sicher, die sich aber nicht auf mich übertragen haben, auf meinen Körper. Ich spiele ja aus dem Zentrum des Körpers, nicht aus dem Kopf, auch nicht aus dem Bauch, wie man sagt, sondern aus dem Herzen, aus einem unbeschädigten Gefühl heraus, das ich schütze wie eine Mutter ihr Kind in allen Unbillen und Fürchterlichkeiten des Lebens.

Warum sind Sie aus der Inszenierung nicht ausgestiegen?

MINETTI: Aus Verpflichtung dem Theater gegenüber, und weil ich abhängig bin als Lohnempfänger, weil ich Geld beziehe. Das erklärt vieles. Dafür bitte ich um Verständnis. Das erklärt auch die Kompromisse, die ich gemacht habe im Leben.

Politische Kompromisse.

MINETTI: Ja, auch.

Sie waren im Dritten Reich Schauspieler am Preußischen Staatstheater.

MINETTI: Ja, das wird mir heute zum Vorwurf gemacht.

Haben Sie sich selbst etwas vorzuwerfen?

MINETTI: Ich habe nicht hingesehen. Ich habe die Augen verschlossen, wissend, was Hitler bedeutet. Ich habe nichts dagegen getan. Vielleicht war ich feige. Das sind Gewissensfragen. Ich durchschaue das Übel der Welt. Ich habe auch den Nationalsozialismus durchschaut. Ich bin nicht dumm und nicht unempfindlich. Aber ich habe gelernt, mich herauszuhalten. Ich habe die Fähigkeit entwickelt, mich abzuschirmen, aus Selbstschutz. Meine Existenz ist mein Theaterleben. Schauspieler zu sein, ist mein Trieb, meine Notwendigkeit. Ich mußte mich am Leben erhalten als Diener der Literatur, als ihr Vollstrecker. Das Theater war meine Rettung und ist es bis heute.

Rettung wovor?

MINETTI: Vor der Welt, vor dem Leben, vor der Verzweiflung.

Kommt aus dem Leiden nicht auch die Kraft für die Kunst?

MINETTI: Wenn ich leide, Verehrtester, kann ich nicht am Abend Theater spielen. Ich fliehe das Leid. Trotzdem überfällt es mich. Ich empfinde mich teils als naiv, teils als fürchterlich wissend. Mit dieser Dialektik müssen Sie fertig werden. Ich wußte, wie gefährlich Konzentrationslager sind. Ich habe mich angepaßt, um nicht dorthin zu kommen. Ich habe die Privilegien benutzt, die ich als Schauspieler hatte. Ich wurde auch nicht zum Militär eingezogen, glücklicherweise. Die Fürchterlichkeit der Gesellschaft zeigt sich für mich in drei Institutionen, die ich hasse, auch wenn sie notwendig sind. Ich meine das Gefängnis, das Militär und das Krankenhaus. Ich hasse es, morgens um sechs aufstehen zu müssen, weil geputzt wird, oder in einem Raum zu liegen, wo noch andere schlafen. Ich kann Gestank nicht ertragen. Ich weiß, wie schweinisch das klingt denen gegenüber, die zu Unrecht oder zu Recht im Gefängnis sitzen. Aber so ist es.

1944 haben Sie in Breslau bei der Uraufführung des Durchhaltestücks »Die Wölfe« von Hans Rehberg Regie geführt.

MINETTI: Das war ein Fehler. Ich bekam aus einem zum falschen Zeitpunkt gewonnenen Ruhm das Angebot, es zu machen. Gründgens, à la bonne heure, hatte abgelehnt, es in Berlin an seinem Theater herauszubringen.

Wollten Sie den Machthabern gefallen?

MINETTI: Nein, daran habe ich überhaupt nicht gedacht. Ich habe an das Stück gedacht und an Rehberg, mit dem ich befreundet war, obwohl er ein Nazi war, was ich nicht wußte, darüber haben wir nie gesprochen. Mir gefiel das Stück, das den Idealismus junger U-Boot-Fahrer jenseits aller Gesinnung zeigt, wie ich behaupte, jenseits aller Ideologie, aus einem jugendlichen Drang zur Gewalt heraus, der natürlich ist, der aber mißbraucht werden kann. Heute wird das Stück als kriegsverlängernd gesehen. Aber so habe ich es nicht aufgefaßt.

Sie haben auch in Filmen gespielt, unter anderem in Leni Riefenstahls »Tiefland«.

MINETTI: Ja, Riefenstahl hat mich becirct noch und noch, so daß ich nicht nein sagen konnte. Außerdem wollte ich filmen. Sie war eine außergewöhnlich gute Technikerin und aus einer Egozentrik heraus hochbegabt in dem Vermögen, sich durchzusetzen. Als Regisseurin war sie ganz furchtbar. Das lag ihr nicht.

Hatten Sie danach noch einmal Kontakt mit ihr?

MINETTI: Ich habe in dem Prozeß, in dem es um inhaftierte Zigeuner ging, die sie in dem Film als Komparsen eingesetzt hatte, eine Aussage gemacht, die für sie positiv war, denn ich habe nur gesehen, wie beliebt sie bei den Zigeunern war. Ich glaube nicht, daß sie wußte, daß diese Leute eliminiert werden sollten.*

Wie sehr belasten Sie die Vorwürfe, die gegen Sie wegen Ihrer Arbeit während des Nationalsozialismus erhoben werden?

MINETTI: Sie belasten mich, weil ich spüre, daß ich gegen eine unsichtbare Wand spielen muß, gegen beeinflußte Leute, die mir gegenüber nicht so offen sind, wie es nötig wäre. Ich leide, weil die Kunst Schaden nimmt. Ich leide nicht als Person, obwohl ich sagen muß, daß man andere meines Alters, die sich genauso verhalten haben, in Ruhe gelassen hat. Martin Held wurde nicht gefragt. Der war in der Provinz engagiert. Ich stand in Berlin an vorderster Stelle. Dadurch bin ich für die Presse leicht angreifbar.

Waren Sie Mitglied der Hitler-Partei?

MINETTI: Nein, im Gegenteil, ich war ja links eingestellt, ein im Grunde anarchischer Mensch, gegen Parteiungen, schon in der Jugend. Ich war, das ist sicherlich nachzuweisen, bei den Nazis ganz unbeliebt. Göring mochte mich nicht. Er mochte auch nicht die Art, wie ich spielte. Gründgens sagte: Du spielst so nackt. Das paßte nicht zur Prüderie des Nationalsozialismus. Ich war weder in der Partei, noch war ich im Widerstand. Ich habe das Böse durchschaut, ich habe es als Katastrophe empfunden und mich innerlich abgesondert. Durch ein gewisses familiäres Wohlergehen, meine privaten Lieben, mein Lesen, habe ich mich über die Zeit gerettet. Meine Literatur habe ich nie verleugnet. Zu Hause hatte ich meinen Brecht, meinen Barlach. Bei der Bücherverbrennung, die ich aus nächster Nähe gesehen habe, denn das geschah direkt vor dem Schauspielhaus, dachte ich, meinetwegen können sie verbrennen, was sie wollen, die Autoren totzukriegen, gelingt ihnen nie.

Mit welchem gedanklichen Konzept haben Sie das Böse, das Sie erkannten, in Ihr Weltbild einordnen können? Dachten Sie, es sei unvermeidlich?

MINETTI: Nein, ich hatte keine Gedanken. Das Böse war da. Es war Wirklichkeit. Mein Wegschauen war nicht so sehr ein bewußter Vorgang. Ich habe mich hingegeben. Anders kann ich es nicht entschuldigen. Ich habe weggesehen aus Not. Das Hinsehen hätte mich zu sehr bedrängt. Es hätte mich unfähig gemacht, künstlerisch impotent. Ich habe vor nichts so große Angst wie vor Impotenz. Das ist vielleicht ein männlicher Zug. Ich muß tätig sein, um mich lebendig zu fühlen. Ich darf, um die Verzweiflung eines Hamlet spielen zu können, nicht im Leben der Hamlet sein. Ein Schriftsteller hat Gedanken zu haben, ein Schauspieler nicht unbedingt.

Sie vermeiden die Verzweiflung im Leben, indem Sie auf dem Theater den Verzweifelten spielen.

MINETTI: Danke.

Mir wäre lieber, Sie würden Verzweiflung nicht darstellen, sondern verzweifelt sein.

MINETTI: Das ist ein grandioser Wunsch von Ihnen. Aber warum soll ich mir das wünschen? Ich gehe in meinen letzten Jahren in eine andere Richtung. Ich fange an, wie Goethe weise zu werden.

Literarisch haben Sie anderen den Vorzug gegeben, Kleist, Büchner, Hölderlin.

MINETTI: Ja, aber die sind im Leben gescheitert. Das kann man nicht wollen.

In dem Theaterstück »Minetti« von Thomas Bernhard steht der Satz: »Der Künstler ist erst der wahre Künstler, wenn er durch und durch wahnsinnig ist.«

MINETTI: Über Wahnsinn möchte ich ungern sprechen, denn das ist ein Begriff aus der Wissenschaft.

Fürchten Sie manchmal, verrückt zu werden?

MINETTI: Ich möchte lieber das Wort »chaotisch« benutzen, oder »wirr«. Ich bin oft verwirrt durch die Welt, durch die Alltagswelt wie auch durch das Dasein an sich. In letzter Zeit kommt es vor, daß die Gedanken im Kopf durcheinanderstürzen. Das zeigt einen gewissen Verschleiß, ich liebe dieses Wort, es bezieht sich auch auf den Körper. Im Geistigen spüre ich, daß ich imstande bin, zwei Gedankenrichtungen parallel zu entwickeln. Ich behalte die Übersicht. Vor dem Irresein bewahrt mich jedes gutartige Erlebnis, das ich habe, oder ein Stück Literatur oder irgendein Zeitungsfetzen, auch die Fähigkeit zum Genuß. Meine Genußsucht ist groß. Schon ein Frühstück ist für mich etwas Wunderbares, die Tatsache, daß ich essen kann und immer noch Hunger habe, Lebenshunger.

Aber nicht Todesangst.

MINETTI: Nein.

Lieben Sie Ihren gebrechlichen Körper?

MINETTI: Ja, ich liebe auch meine Verschleißerscheinungen. Ich habe zwei künstliche Hüftgelenke. Mit den Jahren wird es schwieriger. Ich weiß nicht, ob es dazu kommt, daß ich das Alter als grausam empfinde. Das wird, wenn es geschieht eine kardinale Frage in meinem Leben, die Kopf, Herz und Blut einbezieht. Wenn Sie fragen, wo ich die Kraft hernehme, dann sage ich, sie kommt aus dem Blut, jenseits von Blut und Boden. Es gibt Blut, und es gibt Boden. Daß die Nazis daraus ein so dümmliches Schlagwort machten, zeigt die Perfidie dieser Leute. Blut und Geist waren für mich immer zentrale Begriffe, Geist nicht im Sinne von Denken. Mir hat es bei mittelmäßigen Kollegen geschadet, daß mich Thomas Bernhard einen »Geisteskopf« nannte. Die Dummen glaubten, damit wäre Gehirn gemeint.

Haben Sie Feinde?

MINETTI: Oh ja, die habe ich. Heribert Sasse, der frühere Intendant des Schillertheaters, fragte mich einmal, ob ich nicht wüßte wie sehr ich beneidet werde. Es gibt Intrigen. Ich sollte vor zwei Jahren den Nathan spielen. Ich hatte schon angefangen die Rolle zu lernen. Niels-Peter Rudolph war als Regisseur vorgesehen. Der Dramaturg Gerhard Ahrens hatte wunderbare Striche gemacht. Dann hieß es, die Produktion finde nicht statt. Die Gründe blieben im Dunkeln.

Was vermuten Sie?

MINETTI: Ich vermute, das Theater hatte nicht den Mut, sich über die Angriffe gegen mich in der Presse hinwegzusetzen.

Sie meinen, man fand es aufgrund Ihrer Vergangenheit nicht opportun, Sie einen Juden spielen zu lassen?

MINETTI: Ich weiß es nicht. Ich will es nicht wissen. Ich habe es weggewischt. Ich denke lieber an das, was vor mir liegt. Ich suche das Positive. Ich hatte in jüngster Zeit immer das Glück, daß, wenn ich am eigenen Haus keine Aufgaben fand, Angebote von außen kamen. Ich wurde gewünscht. Die Frage ist, ob einem das Bett gemacht ist und man sich vergnügt oder nicht. Das Bett sind die Regisseure, die mich brauchen und die auch ich, bilde ich mir ein, fördere, indem ich ihnen klarmache, was Dialog bedeutet, Partnerschaft.

Bei Thomas Bernhard gibt es nur Monologe. Harmonie, so Bernhard, ist Irrtum.

MINETTI: Aber wir sprechen doch miteinander, und ich habe den Eindruck, daß wir aneinander Vergnügen haben.

Das Gespräch, das wir führen, ist künstlich.

MINETTI: Das möchte ich nicht so sagen.

Es ist ein Interview.

MINETTI: Der Dialog ist der Prüfstand, auf dem sich zwei Wesensverschiedenheiten bewähren müssen. Entweder es gibt eine Gemeinsamkeit, oder es gibt den Sieg und die Niederlage. Ich habe den Dialog immer gesucht.

Aus Einsamkeit?

MINETTI: Vielleicht, ja. Ich war schon in der Pubertät, bei aller Radikalität, ein Melancholiker, weil ich sah, wie Bemühungen scheitern. Der Expressionismus mit seiner Utopie, daß der Mensch sich verstehend entwickeln könnte, war mein Jugenderlebnis. Dann kam die neue Sachlichkeit, dann der Surrealismus, Kunstrichtungen, die mir im Ansatz alle verständlich waren, aber fehlschlugen in den Ergebnissen. Ich finde es albern, zu meinen, der Mensch könne als Individuum etwas bewirken.

Er ist angehalten, das Gute zu wollen, wissend, daß er es nur im Vergleich mit dem Bösen erkennen kann.

MINETTI: Ja.

Also muß er das Böse für nötig halten.

MINETTI: Ja, gut, lieber Freund, grüß Sie Gott.

Was ist die Rettung?

MINETTI: Das weiß ich nicht.

Demut?

MINETTI: In gewisser Weise, ja. Ich entdecke an mir gegenüber früher eine Tendenz zur Bescheidenheit. Ich bin, auch in meinen Mitteln, nicht mehr so anspruchsvoll. Meine Kunst ist ja reproduktiv. Ich habe Maler und Komponisten immer beneidet. Ein Maler kann ein Bild, wenn es nicht fertig ist, hinstellen und nach einem halben Jahr weitermachen. Er ist frei. Er kann warten, bis er ein Werk für vollendet hält. Der Schauspieler ist nicht frei. Er hängt von Faktoren ab, Kulturpolitikern, Intendanten, oft mittelmäßigen Leuten.

Empfinden Sie diese Abhängigkeit als Erniedrigung?

MINETTI: Sie ist das Alltägliche. Es gab Intendanten, die ich nicht ausstehen konnte, Boy Gobert, Sasse, der eine elegant mittelmäßig, der andere untermittelmäßig, plebejisch. Die wurden in Positionen lanciert, die sie nicht ausfüllen konnten.

Unter Sasses Regie haben Sie in dem Stück »Unbefleckte Empfängnis« von Hochhuth gespielt.

MINETTI: Leider, ja. Das war einer der Fälle, wo ich mich habe breitschlagen lassen aus Verpflichtung dem Theater gegenüber. Ich hatte lang nicht gespielt. Ich wollte spielen. In so einer Situation nimmt man Rücksichten, um nicht an einen Punkt zu kommen, wo man allein dasteht, ohne Möglichkeit, innerhalb des Theaters zu wirken.

Bei der Premiere des Hochhuth-Stückes hatten Sie den ersten großen Blackout Ihrer Karriere. Der Text war weg.

MINETTI: Ja, weil es ein Schreibtext ist und kein Redetext. Außerdem hatte ich einen Partner, den ich unbehaglich und gar nicht vorhanden fand. Der hat mich gestört. Auch mit der Inszenierung war ich nicht einverstanden.

Welche der modernen Autoren, glauben Sie, werden die Zeit überdauern, Pinter, Beckett, Thomas Bernhard, vielleicht sogar Handke?

MINETTI: Über Handke will ich nichts Schlechtes sagen, weil ich ihm einen Film verdanke, »Die linkshändige Frau«, in dem ich mitgewirkt habe. Aber mein Fall ist er nicht, weil er mir zu poetisch ist, zu schön trotz aller Gefährdung. Bei Beckett frage ich mich, warum er für das Theater geschrieben hat. Die Art, wie er dem Schauspieler vorschreibt, was er zu tun hat, drei Schritte rechts, drei Schritte links, stößt mich von vornherein ab. Das werden Sie bei Thomas Bernhard nicht finden. Bei Bernhard ist die Verzweiflung echt. Bei Beckett ist alles sehr raffiniert, sehr gekonnt, aber immer um eine Spur zu fein, zu intellektuell.

Meinen Sie, er hätte sich auf die Prosa beschränken sollen?

MINETTI: Nein, »Warten auf Godot« ist sicher ein Glücksfall für das Theater. Aber das andere, vor allem die Einakter: Krampf. Die Geschwätzigkeit der Frau in »Glückliche Tage«: unerträglich. Beckett hat es den Kritikern leicht gemacht. Aber seine Tragik ist vorgetäuscht. Mein größter Wunsch, der kaum zu erfüllen ist, wäre, einmal ohne vorgegebenen Text auf einer Bühne zu stehen und mich mit dem Publikum zu unterhalten.

Worüber?

MINETTI: Das würde sich aus der Situation ergeben, improvisiert. Ich würde eine Meinung äußern und mit dem Publikum diskutieren, Fragen stellen, mich ausleben im Kontakt mit der Leuten.

Frei sein.

MINETTI: Ja, aber wahrscheinlich bin ich doch zu gehemmt dafür. Meine Aufgabe ist es, Dichtung zu interpretieren, sie zu verstehen und mit dem Körper zu übersetzen.

In Ihren »Erinnerungen« schreiben Sie, der Schauspieler müsse sich von der Gefühlskraft der Rolle, die er spielt überwältigen lassen.

MINETTI: Ja, er muß bereit sein zur Hingabe, offen.

Ist das nicht eine weibliche Haltung?

MINETTI: Doch, sicher. Schauspieler zu sein, ist ein femininer Beruf. Schon der Vorgang, sich einem Regisseur zu verpflichten, ist weiblich. Das Feminine ist die Abhängigkeit und die Lust, in der Abhängigkeit zu verführen, um dadurch die Oberhand zu gewinnen. So haben auch Frauen in der Geschichte gelegentlich herrschen können.

Die Steigerung von Hingabe ist Unterwerfung.

MINETTI: Richtig. Ich habe, mich unterwerfend, vieles mitgemacht auf dem Theater. Es gibt Regisseure, denen ich zugestehe, ihre Anschauungen aus fremden Texten herauszuholen. Es gibt einige von Format. Es gibt aber auch welche, die aus reiner Spekulation und um sich darzustellen ein Stück verfälschen. Schuld sind die Medien, die sich zu sehr an der Regie festhalten. Schlagen Sie eine Zeitung auf, und Sie werden sehen, wenn eine Premiere angekündigt wird, steht da der Name des Regisseurs, der des Bühnenbildners, manchmal sogar der des Komponisten, der die Bühnenmusik geschrieben hat, aber wer den Othello spielt oder den Wallenstein, steht da nicht. Das ist Scheiße.

Ein für Sie wichtiger Regisseur der letzten Jahre war Grüber.

MINETTI: Klaus Michael Grüber, ja, aber auch Zadek, obwohl ich nur einmal mit ihm gearbeitet habe. Ich weiß nicht, warum er nie wieder auf mich gekommen ist.


Vielleicht hat er Angst vor Ihnen.

MINETTI: Ich weiß es nicht.

Sie gelten als der heute bedeutendste Schauspieler Deutschlands.

MINETTI: Das finde ich überzogen.

Freut es Sie nicht, so gerühmt zu werden?

MINETTI: Es macht mich scheu. Es gibt Kollegen, die ich mit mir durchaus auf einer Stufe sehe, auch jüngere, Voss, Wildgruber, Bruno Ganz', Benrath. Im Zusammenhang mit diesen Namen kann ich es akzeptieren, gelobt zu werden. Gegenüber anderen, gleichermaßen Gefeierten, fühle ich mich konträr, Schauspielern, die alles nach vorne spielen, Ernst Schröder, Quadflieg, beide hochbegabt, fähig, aber mir entgegengesetzt, Quadflieg der eher traditionelle Typus, immer auf einer etwas pathetischen Höhe, in dem Glauben, durch edle Kunst den Menschen verändern zu können, ein Vertreter der heilen Welt, Oskar Werner vergleichbar, der aber bewegter war, romantisch, oft auch nur sentimental.

Von Gründgens schätzten Sie nur den Mephisto.

MINETTI: Als Höhepunkt, ja. Auch in manchen Boulevardstücken gefiel er mir, nicht als Hamlet, nicht als Tasso, nicht als Franz Moor. In seiner Funktion als Direktor des Preußischen Staatstheaters während des Dritten Reiches war er ein Glücksfall, so weit gehe ich in meiner Verteidigung. Er hat das Haus von Tendenzstücken freigehalten, ein Mann, der es verstand, mit den Machthabern umzugehen, gerissen, ein glänzender Taktiker, fabelhaft, wie übrigens auch Claus Peymann.

Peymann?

MINETTI: Ja, doch. Der hat die Kulturpolitiker fest in der Hand, mühelos, ist befreundet mit einem Teil der Presse, dem größten Teil, ein geschickter Theaterleiter, dabei ein ganz kindlicher Mensch, sensibel, hochwertig sowieso.

Haben Sie je eine leitende Position angestrebt?

MINETTI: Ich war nach dem Krieg kurze Zeit Schauspieldirektor in Kiel. Sonst habe ich mich dem immer entzogen, vielleicht aus Feigheit, vielleicht aus dem Wissen, ich schaffe es nicht. Ich habe auch ein paarmal Regie geführt. Die Schauspieler waren glücklich mit mir, weil ich sie zueinander brachte. Das Zuhören ist ja das Wichtigste auf dem Theater. Ich kann eine Rolle nur fühlen, wenn ich auf das, was mein Partner tut, höre. Dieses herzustellen, ist mir gelungen. Was mir als Regisseur nicht gelang, war, das Schicksal der Stücke, die mich faszinierten, selbst in die Hand zu nehmen. So wie ich mich der Wirklichkeit nicht zu stellen vermag, so vermied ich es, mich künstlerisch festzulegen.

Was, glauben Sie, wird bleiben von Ihrer Arbeit?

MINETTI: Das weiß ich nicht, der Name vielleicht durch das Stück »Minetti« von Bernhard.

Thomas Bernhard hat Sie unsterblich gemacht.

MINETTI: Wenn Sie so wollen.

Was war Ihr erster Gedanke, als Sie von seinem Tod erfuhren?

MINETTI: Da war der Gedanke: Er schreibt nicht mehr. Ich habe nicht egoistisch gedacht, daß er nun für mich nicht mehr schreibt. Ich dachte, sein Leben war doch das Schreiben. Dazu kam, daß er sein letztes Stück, "Heldenplatz", für sein schlechtestes hielt. Das hat er mir wörtlich gesagt. Die Bestürzung darüber, daß durch seinen Tod eine Korrektur nicht mehr möglich war, schwang mit bei jenem Gedanken.

In »Minetti« sagt der Schauspieler: »Wir sind tot. Das Schneiden einer Grimasse ist zurückgeblieben, eine Handbewegung, der erschrockene Kopf... «

MINETTI: Ja, nichts sonst.

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* Leni Riefenstahl hatte gegen den 1983 vom WDR ausgestrahlten Dokumentarfilm »Zeit des Schweigens und der Dunkelheit« der Filmemacherin Nina Gladitz eine Einstweilige Verfügung erwirkt, weil darin Zigeuner, die 1941 aus dem Lager Maxglan bei Salzburg als Komparsen für »Tiefland« zwangsverpflichtet worden waren, ausgesagt hatten, sie, Riefenstahl, habe von dem ihnen bevorstehenden Abtransport nach Auschwitz gewußt und ihr Versprechen, ihnen zu helfen, nicht eingehalten. Das Landgericht Freiburg entschied im Juni 1985, daß die betreffenden Stellen aus dem Film von Nina Gladitz entfernt werden müßten.

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Erschienen  am 2. Juli 1993 in der ZEIT