Du* nennst die Bundesrepublik Deutschland eine Wüste der Phantasielosigkeit.
ANDRÉ HELLER: Ja, weil ich glaube, daß viele Jahre die Phantasie in unseren
Breiten etwas Anrüchiges war.
In welchen Breiten?
HELLER: Dort, wo es meist kalt ist. Dazu gehören unbedingt auch Österreich und
die Schweiz. Wenn ich gezwungen bin, in Zürich zwischenzulanden, ist das, als
hätte man mich mit einer Maschine entführt, so leide ich dann. Für mich ist
diese Art von Rationalität, dieser Materialismus, den die Deutschen Machertum
nennen, körperlich spürbar wie eine Aura.
Deine Phantasieprodukte haben aber doch auch mit Material und Machen zu tun.
Du brauchst Zirkuszelte, Varietebühnen, Feuerraketen.**
HELLER: Meine Projekte sind äußere Leuchtzeichen dessen, was ich im Inneren
fühle. Ich sehe einen gewaltigen Unterschied zwischen dem Herstellen eines Mercedes
und dem Herstellen eines Feuertheaters.
Phantasie ist auch zum Herstellen eines Mercedes nötig.
HELLER: Richtig. Ich spreche natürlich von einer spezifischen Phantasie. Man
kann nicht die Materialien schuldig sprechen für den Mißbrauch, den man mit
ihnen treibt. Wer "Roncalli"***, "Flic Flac"****, mein Feuertheater,
meine Parkprojekte, Tourneen und Filme gesehen hat, weiß, von welcher Gegenwelt
ich da rede. In Wirklichkeit nenne ich diese Gegenwelt auch nicht Phantasie,
sondern ich nenne sie Heller. Da man sich aber so eine Eitelkeit nicht erlauben
kann, weil sie ununterbrochen zu Mißverständnissen führt, sage ich halt Phantasie
in der Hoffnung, daß die Menschen begreifen, was gemeint ist. Ich weiß aus unzähligen
Briefen, die ich bekomme, daß viele Tausende nach meinen Veranstaltungen ihr
Leben ändern. Sie lassen sich zum Beispiel scheiden oder wechseln ihren Beruf.
Ein tolles Ergebnis.
HELLER: Ich finde es hervorragend, wenn sich jemand, der seit fünfzehn Jahren
in einer schrecklichen Ehe lebt, scheiden läßt. Aber ich habe überhaupt keine
missionarische Absicht. Ich mache das, was ich tue, nicht, um den Menschen zu
helfen, sondern um meine Phantasie zu ermutigen, sich zuzugeben. Ich kann mich
nicht damit aufhalten, Entwicklungshelfer zu spielen. Ich habe hier einen entscheidenden
Auftrag, nämlich mich so zu verändern, daß ich am Ende meines Lebens vom Entwurf
eines Menschen zu einem Menschen mutiert bin. Ich will mich lernend verwandeln.
Und dazu brauchst du Publikum?
HELLER: Erst einmal freue ich mich, wenn mir etwas gelingt. Zweitens finde ich
es wunderschön, ein gelungenes Werk mit anderen teilen zu können. Ich bin wie
jeder künstlerische Mensch bis zu einem gewissen Grad ein exhibitionistisches,
schamloses Wesen, das die eigene Genauigkeit erst erreicht, wenn es sie herzeigt.
Ich weiß, daß in mir etwas ist, meine Phantasie, die mich mündiger und wehrhafter
macht, und ich habe den Wunsch, diese Gnade anderen mitzuteilen, aus Freude,
so wie jemand laut lacht oder schreit, wenn es ihm gut geht. Dieses Lachen oder
Schreien drückt sich aus in meiner Arbeit. Damit kann dann jeder tun, was er
will. Er kann sagen, das ist ihm zu grell, zu pathetisch, zu flach, zu erhaben.
Aber damit reagiert er doch nur, anstatt selbst Phantasie zu entwickeln.
HELLER: Dagegen wehre ich mich. Es gibt zwei grundverschiedene Dinge, die ähnlich
heißen. Das eine ist Phantasie, die im Betrachter eine positive Erschütterung
auslöst. Das zweite ist fantasy, das bedeutet für den Konsumenten ein Emigrieren
in die phantastischen Vorstellungen anderer. Man geht dorthin wie in einen Puff,
lebt sein Bedürfnis nach exzentrischen Visionen aus, geht wieder heraus und
ist die gleiche verzweifelte Figur, der gleiche Kretin oder freundliche Kleinbürger
wie vorher.
Glaubst du, du kannst jemandem durch deine Veranstaltungen die Verzweiflung
nehmen?
HELLER: Das will ich gar nicht. Ich kann nur für mich sprechen, und für mich
gibt es Grenzen, wo auch die Kunst nichts mehr vermag. Eine der schrecklichsten
Erfahrungen meines Lebens war die, in Situationen gekommen zu sein, wo ich sogar
eine bestimmte Musik, die ich liebe, sagen wir "Wozzeck" von Alban
Berg, als lästig empfunden habe, weil die immer noch mit dem Anspruch auftrat,
sie könnte für mich etwas tun, und es doch nicht konnte. Es gibt ein Stürzen
in einen Abgrund, wo ich als einzige Musik nur noch das Echo der eigenen Schreie
ertrage.
Sind das die Feuerwerke?
HELLER: Zum Beispiel.
Kannst du die Not beschreiben, die dich so erfinderisch macht?
HELLER: Ich muß zunächst einmal sagen, daß mir das Veranstalten einer Erzählung
aus brennenden Bildern auf Schiffen am offenen Meer mit 40 000 Tonnen Sprengstoff
so selbstverständlich erscheint wie einem Buchhalter das Ausfüllen seiner Kolonnen.
Ich habe nicht das Gefühl, ich mache etwas Außergewöhnliches, aber ich bemerke,
daß es außer mir niemand macht. Deshalb frage ich mich, ist das an mir eine
Deformation, eine Verkrüppelung, ein riesiger Buckel, oder braucht man davon
in dieser Welt nur eine so winzige Menge, wie man vielleicht von einer bestimmten
Chemikalie mehr nicht benötigt. Warum ist das vom Schöpfer so eingerichtet,
daß es zu meinen Lebzeiten nur mich gibt, der das hervorbringt?
Wahrscheinlich weil sonst niemand in der speziellen Notlage ist, das alles veranstalten
zu müssen.
HELLER: Über meine Not kann ich schlecht reden, weil ich sie als völlig normal
empfinde. Ich kenne nichts anderes. Sie ist mir nie unerträglich erschienen,
auch nicht, als ich ein Kind war, weil ich schon wußte, daß die Lösung das Verwirklichen
meiner Vorstellungen sein muß als Gegenmittel gegen die Ängste. Ich war vollkommen
allein, ohne von irgend jemand geliebt zu werden. Die Mutter hat gesagt, das
Kind irritiert sie. Also wurde ich in ein Internat abgeschoben. Das war eine
Gemeinschaft, die ich verachtet habe, die mir körperliche Schmerzen erzeugt
hat. Diese stinkenden, ungewaschenen, brünftigen Versammlungen von achtzig Buben
in einem Schlafraum waren für mich eine Kinderausgabe der Inquisition. Jede
Individualität galt als Sünde. Spazierengehen, wo man will, war verboten, und
was von den Jesuiten, den Stellvertretern Gottes auf Erden, verboten war, das
war sündig. Das Internat war wirklich die größte Not, weil ich mich dort als
einer unter vielen an die Regeln zu halten hatte, die für die vielen aufgestellt
wurden. Es gibt ein Schlüsselerlebnis, das war sozusagen die Probe, wo ich gemerkt
habe, daß ich mich wehren muß, um nicht für immer ein fügsamer Mensch zu werden.
Wir hatten einen Handarbeitslehrer, der mich nicht mochte, weil ich ungeschickt
war im Herstellen von kleinen Holzflugzeugen, kein König der Laubsägekunst.
Neben mir saß ein Schüler, dem schlecht wurde während der Bastelstunde. Er hat
erbrochen. Der Boden war voll mit Frühstücksresten. Mir hat entsetzlich gegraust.
Der Bub ging auf die Krankenstation, und mir wurde vom Lehrer der Auftrag erteilt,
die Speibe aufzuwischen. Ich hab' den Fetzen eingetunkt, und während des Eintunkens
war der Augenblick, wo ich wußte, wenn ich mich füge, bin ich verloren für ewige
Zeiten. Ich wage zu behaupten, daß ich das damals, ich war elf Jahre alt, schon
genauso empfinden konnte. Also hab' ich den Fetzen mit der Speibe genommen und
ihn dem Lehrer um das Gesicht gehauen.
Wer hätte deiner Meinung nach die Kotze aufwischen sollen?
HELLER: Der Zeichenlehrer, in dessen Schulstunde es passiert war.
Was geschah weiter?
HELLER: Nichts. Eine Putzschwester wurde geholt, die hat das aufgewischt, und
danach wurde nie mehr darüber gesprochen. Der Lehrer hatte in der Sekunde verstanden,
daß ich der Stärkere und daß ich im Recht war.
Erschien es dir nicht ungerecht, daß diese Frau das dann machen mußte?
HELLER: Nein, denn das war ihr Beruf. Ich glaube, daß es wunderbare, erleuchtete
Speibeaufwischer gibt, zu denen ich allerdings nicht gehöre.
Das ist doch Zynismus.
HELLER: Wieso? Es gibt Leute, die haben einen Grad der Demut erreicht, wo sie
das als einen Dienst akzeptieren, der sie weiterbringt in dem, was sie lernen
wollen. Das war eine Klosterschwester. Die hatte das im Rahmen ihrer frei gewählten
Dienste offensichtlich im Repertoire, ich hoffe zumindest, und wenn nicht, dann
ist das nicht meine Schuld, weil die Verantwortung für die Menschwerdung dieser
Frau nicht bei mir, sondern bei ihr liegt. Ich weiß, daß es innerhalb des materialistischen,
kommunistischen, kapitalistischen Alltagsdenkens nur underdogs gibt oder overdogs.
Aber so denke ich überhaupt nicht, sondern ich sage, jeder Mensch ist begnadet.
Sobald er sich mit seinen Bedürfnissen solidarisiert, kann er gewiß sein, daß
es in ihm etwas gibt, das es ihm leichter macht, die Schwierigkeiten, die aus
dieser Solidarisierung entstehen, zu meistern. Das ist dann seine Kreativität
oder Phantasie oder wie immer du das benennen willst.
In deinem Fall hat es sehr viel mit Geld zu tun. Deine Phantasieprojekte sind
teuer.
HELLER: Nicht alle. Aber ich glaube schon, daß ich ein Bündnis eingegangen bin
mit dem, was man Qualität nennt, und darunter fällt für viele auch Luxus. Ich
bin dagegen, daß wir uns ununterbrochen beleidigen, unsere Augen durch die Architektur,
unsere Körper durch die Materialien, die wir tragen, unsere Sinne durch niedrige
Räume. Natürlich weiß ich, aufgrund welcher Zwänge es niedere Räume und billige
Materialien gibt, aber es gibt auch einen Erdteil, auf dem wir uns realisieren
können, ohne uns einschränken zu müssen, das ist der innere Erdteil. Den meine
ich, wenn ich sage, die wahren Abenteuer finden im Kopf statt. Es ist nicht
notwendig, mit dem Rennauto durch Indien zu rasen, sondern du kannst die unglaublichsten
Expeditionen in deinem Inneren machen. Nur bin ich halt ein Mensch, der von
allem Besitz ergreift. Das ist meine Grundstruktur. Deshalb mache ich große
Projekte genauso wie ich auch manchmal nur durch Meditation oder Hingabe zu
phantastischen Resultaten komme. Ich bin sicher, daß ich schon mehrere Verwandlungen
hinter mir habe. Meine Seele erinnert sich an Dinge, die weit über dieses Leben
hinausgehen. Ich glaube, daß das, was ich verwirkliche, deshalb so verschieden
ist von der Verwirklichung anderer Leute, weil ich aus früheren Verwandlungen
so viel Schutt und Anregungen zur Verfügung habe. Ununterbrochen meldet sich
in mir etwas an. Das sind Pakete, die müssen abgeholt werden. Ich zeichne, ich
komponiere, ich filme, mache Scherenschnitte, Schattenspiele, schreibe, trete
auf, singe. Aber das Äußerste an Phantasie sind nicht die sichtbaren, benennbaren
Dinge. Heute, nachdem ich so viel verwirklicht habe an für andere Menschen Monströsem,
würde ich sagen, die letzten und tiefsten Abenteuer ereignen sich in der Seele,
und meine einzige Verbindung zu diesen Abenteuern ist eine große, unbegreifliche
Sehnsucht.
Meinst du Liebe?
HELLER: Nein, die Liebe ist eine sehr irdische Eigenschaft. Sicher ist die Voraussetzung
für eine gute Arbeit, daß ich auch sinnlich lebe. Daß ich mich selbst vernachlässige
zur Herstellung eines sinnlichen Kunstwerks, das geht nicht. Es gibt vielleicht
Tage, an denen man keine Lust hat oder zu müde ist. Aber ich bin schon jemand,
der seine Phantasie auch im Erotischen auslebt. Ich bin der Befürworter eines
lustvollen, anarchischen Lebens und immer auf der Suche nach meinen Grenzen.
An die kann ich vielleicht auch im Bett gelangen. Aber deshalb verzichte ich
nicht auf die Reise. Ich verweigere mich nicht einem Aufbruch, nur weil ich
weiß, daß es irgendwo ein Ankommen und eine Schranke gibt.
Betest du manchmal?
HELLER: Ich habe eine sehr persönliche Konversation mit meinem Schöpfer. Ich
bete nicht nach den Ritualen des FC Vatikan, aber ich führe Gespräche mit etwas,
das ich für erleuchteter halte als mich oder meinesgleichen.
Warum benutzt du in deiner Arbeit so häufig eine biblische Sprache?
HELLER: Meine Sprache hebt sich ab von unserer computerhaften Zeitgeistformulierungswut.
Aber wo verwende ich Bibel-Zitate?
Als "Roncalli" eröffnet wurde, hieß das, es werde Zirkus!
HELLER: Gut, das gefiel mir. Ich bin wie jeder die Wurzel aus meinem Bildungsunrat,
meinen Erkenntnissen, Irrtümern, Triumphen und Niederlagen. Mir war schon als
Kind die Bibel eine wunderbare Literatur. Ich hatte einen Hausaltar in meinem
Kinderzimmer. Da habe ich in einer erfundenen Sprache meine Phantasiemessen
gelesen, drei oder vier Mal am Tag in einer von unserer Hausschneiderin genähten
Kardinalstracht, Ich wollte die Menschen schwebend machen. Meine Vorstellung
von einem Beruf war die, daß sich durch meine Sprache, meinen Gesang oder einfach
meine Anwesenheit die Menschen in die Lüfte erheben. Ich hatte immer das Gefühl,
die sitzen in Körben wie Schlangen vor einem Schlangenbeschwörer. Damals hatte
ich noch viel mehr die Ambition, in anderen etwas auszulösen. Diese Ambition
habe ich heute nicht mehr. Ich muß meine Arbeit mit mir, für mich, in mir und
an mir tun. Kein Künstler, keine Religion, kein Staatssystem wird mir das abnehmen
können, weil es nicht möglich ist, daß jemand für einen anderen etwas erledigt.
Wenn ich mein Feuertheater und meine Himmelsflugkörper nicht mache, dann sterbe
ich. Wenn ich meine Leuchtzeichen über den Städten dieser Welt nicht entzünde,
bin ich tot. Es besteht ein magischer Zusammenhang zwischen diesen Verwirklichungen
und den Bedürfnissen meiner Seele. Der eine braucht, um in Würde und Selbstachtung
zu überleben, die Genauigkeit eines Gedichtes, der andere, das bin ich, muß
den ganzen Himmel mit sich besudeln. Man muß kein Prophet sein, um zu wissen,
daß eines Tages gesagt werden wird, da hat einer die Tür aufgemacht, wo man
vorher bloß Mauer gesehen hat. Nur wird sich das erst nach meinem Tod abspielen,
so daß ich mir davon nichts werde abschneiden können.
In den Medien bist du doch schon jetzt sehr präsent.
HELLER: Das ist klar. Das bringt die heutige Medienlandschaft mit sich. Ich
brauche die Öffentlichkeit als Verbündete, denn wäre ich auf die Kunstkritik
angewiesen, wäre überhaupt nichts zustandegekommen. Die hätte das nur verhindert.
Ich muß, so wie gewisse Tiere zum Überleben bestimmte Farben haben, eine Art
Strahlkraft entwickeln, um meine Projekte durchsetzen zu können. Das ist für
den Typ von Arbeiter, der ich bin, ein notwendiger Begleitschutz.
Trotzdem schimpfst du auf das Fernsehen.
HELLER: Ich kritisiere bestimmte Sendungen. Ich könnte das, was der Herr Dalli
Dalli***** noch entspannt machen kann, da er sich danach offensichtlich ohne
Brechreiz ins Bett legt, nicht machen, weil meine Schmerzgrenze das eben nicht
zuläßt, diese Aneinanderreihung von Ablenkungsmanövern. Wenn man eine schlechte
Ehe hat und sich vor den Fernsehapparat setzt, um sich von seinen Problemen
ablenken zu lassen, wird man nicht weiterkommen, und wenn dann der Ablenker
auf die Frage, ob es die heile Welt, die er vorspiegelt, überhaupt gibt, antwortet,
die Menschen würden in den Nachrichten schon genügend schreckliche Dinge erfahren,
dann halte ich das für ein Verbrechen, denn wir sind nicht auf der Welt zu unserem
Vergnügen, sondern um Aufschluß zu erhalten über unsere Niedertracht, unsere
Erbärmlichkeit, unsere vermeintliche Unfähigkeit und unsere Chance, sie in eine
Fähigkeit zu verwandeln. Wir können nicht Urlaub nehmen vom Lernen, indem wir
uns einen sozusagen staatlich subventionierten Blackout erlauben.
Was macht dich so sicher, daß du eine andere Wirkung hast?
HELLER: Ich weiß, daß in "Flic Flac" der Satz fiel, jeder von uns
ist einzigartig.
Ja und?
HELLER: Das bedeutet, ich habe einen einzigen Menschen, an dem ich kontrollieren
kann, ob das, was ich tue, eine Wirkung hat oder nicht, das bin ich. Ich kann
an mir sehen, ob ich widerstandsfähiger geworden bin im Laufe der Jahre. Ich
habe, obwohl man mir eine Million Mark Gage geboten hat, kein drittes Feuertheater
gemacht. Ich habe es geschafft, das abzulehnen, und ich weiß, daß ich es vor
sechs Jahren noch nicht geschafft hätte. Natürlich haben nicht alle meine Arbeitsergebnisse
den gleichen Anspruch. Es gibt auch Dinge darunter, die einfach ein Fest sind,
so wie man einen Blutegel ansetzt, eine Art Aderlaß, den ich mir gönne, um den
inneren Druck zu senken. Aber eine heile Welt habe ich nie vorgespiegelt.
Nein, eine schöne.
HELLER: Ja, aber Schönheit ist in der Welt, in der wir leben, schon an sich
eine Provokation. Mir ist es egal, wenn manche meine Vorstellung von Schönheit
als geschmacklos bezeichnen.
Günter Grass hat dein Berliner Feuerspektakel****** mit dem Nürnberger Reichsparteitag
verglichen.
HELLER: Der Grass hat gemeint, es wäre immer schlecht, wenn sich irgendwo eine
Masse versammelt. Deshalb hat er die "Blechtrommel" verfilmen lassen,
damit sich das nur vierhundert Leute anschauen, nicht fünf Millionen, also das
ist doch vollkommen absurd. Ein Autor, der sich darüber freut, daß seine Bücher
eine Millionenauflage haben, und auch noch dafür sorgt, daß daraus Filme werden,
die man überall sehen kann, der soll mir einmal erklären, warum diese Millionen
gut und die Millionen, die mir zuschauen, schlecht sind.
Der Unterschied ist, daß die Millionen, die Günter Grass lesen, das nicht alle
zur gleichen Zeit auf demselben Platz tun.
HELLER: Aber daran ist doch nichts Schlechtes! Die Massen, die ich versammle,
sind eine Zusammenkunft von Individuen, für die es eine positive Erfahrung ist,
zum Beispiel an der Grenze zwischen Ost und West zu erleben, wie nach Musik
von Strawinsky Therese Giehse ein Gedicht von Bertold Brecht spricht, in dem
es heißt, schaut euch die verbrannten Städte an, führt nie wieder Krieg, lernt
aus der Unvernunft der Vergangenheit, übernehmt selbst die Verantwortung für
euer Leben, statt sie an den Staat und die Politiker zu delegieren. Der für
mich eindrucksvollste Moment in Berlin war, als zehn Minuten lang Ruhe herrschte,
keine Musik, kein Feuer, gar nichts, nur dieses Gedicht und im Hintergrund das
Glühen der Städte.
Das kannst du in jedem Theater erleben.
HELLER: Eben nicht, weil ich dort halt nicht mit Hunderttausenden stehe, um
mit denen gemeinsam an etwas teilzunehmen, das mich aber nicht entmündigen will
wie der Reichsparteitag oder eine Massenveranstaltung wie Woodstock, die einzig
und allein der Schallplattenindustrie gedient hat, sondern mich wehrhafter macht
gegen die Verdummungsversuche von außen. Mir liegt nicht daran, eine amorphe,
anonyme Masse zu haben, sondern ich will die Versammlung einiger hunderttausend
Individuen, die begreifen, daß sich darin ein gemeinsames Wollen sehr vieler
anarchischer oder weniger anarchischer Einzelkämpfer ausdrückt.
Wogegen kämpfen die?
HELLER: Gegen eine bestimmte Art von Narkotisierung zum Beispiel. Ich sage in
jedem Interview, mißtraut den Technokraten, den Politikern, die ihnen hörig
sind, diesen fortschrittsgläubigen Lemmingen, mißtraut denen, die ein unbegrenztes
Wachstum für möglich halten, mißtraut denen, die sagen, gebt uns euer Leben,
wir werden damit schon das richtige machen. Ich warne die Menschen.
Aber du hast dich in Berlin von einer CDU-geführten Regierung einladen lassen,
die dein Feuertheater finanziert hat.
HELLER: Das ist wirklich ein Tölpel-Satz! Ich bin nicht eingeladen worden von
dieser Regierung, sondern die Gelder, die ich genommen hätte, wenn es schiefgegangen
wäre, sind Steuergelder. Ich habe sie gar nicht genommen, weil sich die Veranstaltung
aus den Eintrittskarten finanziert hat. Aber der Wahnsinn ist, zu denken, dies
wäre das Geld der Politiker. Es ist unser Geld! Wenn mir heute ein Politiker
Geld gibt, gibt er mir nicht das Geld seiner Fraktion, sondern der Steuerzahler.
Welche Politiker schätzt du?
HELLER: Keinen. Die Politiker sind zu allen Zeiten größtenteils phantasielos.
Anders können sie gar nicht an die Spitze gelangen. Die Mechanismen, wie man
heute an die Macht kommt, sind so, daß dem nur opportunistische, fügsame Menschen
entsprechen, deren Denken von Freunderlwirtschaft geprägt ist. Da gibt es manchmal
Ausnahmen wie Brandt oder Kreisky zu einer bestimmten Zeit ihres Lebens, aber
das sind Irrtümer im System. Den Kreisky habe ich unterstützt, aber hinterher
hat er mich unendlich enttäuscht, denn er hat dafür gesorgt, daß Herr Sinowatz*******
zum Bundeskanzler gewählt werden konnte, der jetzt in einer Koalition mit der
Freiheitlichen Partei sitzt, in der es von Nazis wimmelt. Ich habe erst unlängst
gesagt, daß man als Österreicher mit dem Genieren für das, was diese Regierung
macht, nicht mehr nachkommt.
Was sind deine nächsten Pläne?
HELLER: Ein Gartenlabyrinth in Berlin. Außerdem arbeite ich an einem Projekt
mit Flugkörpern und Himmelszeichen, das sind leuchtende Objekte, die nachts
über Städten fliegen. Ich sehe, daß sich die Kunst bisher immer nur auf dem
Boden abspielt. Das werde ich ändern. Mein Feuertheater war der erste Schritt
in andere Räume.
Damit wirst du dir wieder den Vorwurf der Gigantomanie einhandeln.
HELLER: Das interessiert mich überhaupt nicht. Niemand würde auf die Idee kommen,
den Himalaya anzuklagen, weil er groß ist, oder einen Hirschkäfer, weil er klein
ist.
Nein, nur ist weder der Himalaya noch der Hirschkäfer von Menschen erschaffen.
HELLER: Was heißt das? Gibt es eine bestimmte Dimension, in der wir schaffen
dürfen, und in einer anderen nicht ? Wo ist die Grenze? Bis zu wieviel Metern
darf ein Kunstwerk groß sein? Das ist doch absolut lächerlich. Natürlich ist
auch ein Aphorismus von Karl Kraus etwas, das ich sehr achten kann, oder ein
Roman von Dostojewskij. Ich habe auch eine große Liebe zum Kleinen. Ein Kunstwerk
wird gemessen an seiner Wahrhaftigkeit und Radikalität. Alles andere ist vollkommen
uninteressant. Ich habe mich an keine Regeln zu halten, solange ich nicht das
Leben anderer Menschen gefährde oder sie behindere bei der Verwirklichung dessen,
was sie für wichtig halten. Für mich ist Freiheit immer die Freiheit des anderen.
Hast du nie die Verlockung der Macht gespürt?
HELLER: Schau, diese Verlockung ist natürlich immer da, und sie sieht immer
so aus, daß du die Kraft, die du zur Verfügung hast, um etwas besonders Tiefes,
Genaues oder Erbarmungsvolles hervorzubringen, mißbrauchst, so daß etwas Flaches
und Rohes herauskommt. Menschen verführen zu können, also mit der Energie, mit
der man zum Beispiel einen Roman schreiben könnte, seelische Kolonisation zu
betreiben, ist eine große Versuchung. Ich bin damit beschäftigt, ihr keine Chance
zu geben. Ich kenne meinen geheimen Faschismus, aber ich entscheide mich gegen
ihn, um mich achten zu können. Ich sage, daß ich ihn nur über meine Leiche zulassen
werde. Das ist die Erkenntnis aus einem langen Entwicklungsprozeß. Vor fünfzehn
Jahren hätte ich noch ganz anders gesprochen, weil ich bereit war, mich der
Wollust hinzugeben, über andere Macht zu bekommen. Es ist ja ein unglaublicher
Augenblick, wenn man merkt, ich bin nicht jemand, der geduckt wird, sondern
ich kann ducken. In diesem Augenblick steht man wie unter Drogen. Vielleicht
gibt es irgendwo wunderbare Geschöpfe, die dann sofort auf die Bremse steigen.
Ich habe das nicht getan.
Welche Mittel hast du denn angewendet?
HELLER: Das waren oft sehr trickreiche Geschichten. Das ist ein wesentlicher
Punkt, dieser Trickreichtum, dem ich mich lange anvertraut habe. Die Menschen
waren durch die Art und Weise, wie ich auf sie gewirkt habe, wehrlos, weil diese
Art von Feind in ihren Verteidigungstheorien nicht vorkam. Sie hatten meiner
Strategie, sie zu erobern, nichts entgegenzusetzen. Ich war von der Veranlagung
her ein Spitzensportler im Tricksprung, das ist eine bestimmte Geschicklichkeit,
eine Form von Gehirnakrobatik, die mir inzwischen unerträglich geworden ist,
weil ich weiß, daß die Frucht immer nur ein schlechtes Gewissen oder das furchtbare
Gefühl ist, andere Menschen nicht glücklich zu machen. Ich bin kein Sadist.
Ich empfinde keinen Triumph, wenn sich wegen mir eine Frau aus dem zehnten Stock
stürzt********, sondern eine schreckliche Niederlage.
Hättest du es verhindern können?
HELLER: Sicher hätte ich es verhindern können, wäre ich mit dieser Frau vorsichtiger,
behutsamer umgegangen. Ich weiß, was mein Beitrag dazu war, daß sie es getan
hat. Er war gewaltig, und das ist unverzeihlich. Das wird mir nicht mehr passieren.
Man darf nicht mit seiner Macht Amok fahren. Es gibt eine Art von Amok-Mentalität,
die ich als ein Veruntreuen der Kraft empfinde, die einem gegeben ist, als einen
unerlaubten Griff in die Kassa. Jemand gibt dir fünftausend Schilling, damit
du etwas bezahlst, was er gekauft hat, und du machst damit etwas anderes. Das
Böse ist eine Falle. Man kann damit berühmt werden, reich, eine begnadete Witzfigur,
aber ein Mensch kann man nicht damit werden. Ich habe die Erfahrung gemacht,
daß Lüge immer nur Lüge zeugt und daß das Unglück, das ich verursache, als Echo
zu mir zurückkehrt.
Was wäre aus dir geworden, wenn du von Anfang an auf das Lügen verzichtet hättest?
HELLER: Ich hatte nicht diese Möglichkeit. Ich akzeptiere meinen Weg. Ich wäre
anders nicht dahin gekommen, wo ich jetzt bin. Vielleicht gibt es Leute, die
werden erst dann wahrhaftig, wenn ihnen die Lügen ausgehen. Aber die gehen ihnen
wahrscheinlich nie aus. Ein für mich entscheidendes Erlebnis war es, als begann,
Kafka zu lesen, der wirklich ohne Tricks auskommt. Plötzlich habe ich mich so
geschämt, und ich habe gewußt, weg mit den Ornamenten, weg mit dem Zierrat.
Ich hatte immer die Sehnsucht nach einem kargen Raum. Es gibt einen sehr frühen
Text von mir, da heißt es, karg möchte ich sein wie ein Stück Brot auf dem Tisch.
Aber der Raum, in den ich geboren wurde, war voll von Schutt*********. Ich trat
in das Zimmer, in dem ich es gerne karg haben wollte, sah den Schutt, schaute
ihn an, und da begann er zu funkeln und glitzern und verwandelte sich. Plötzlich
war ich ein Schutt-Herzeiger und bin damit ganz rasch berühmt geworden, denn
es ist wirklich das leichteste im Leben, berühmt zu werden. Aber ich habe immer
gewußt, welche Funktion dieser Ruhm hat. Ich war ein ungeliebtes Geschöpf, mein
Nachholbedarf an Eitelkeit uferlos. Ich habe mich als häßlich empfunden, hatte
keinerlei Voraussetzungen, akzeptiert zu werden, weil ich nicht begabt war zum
Schwimmen, Skifahren, Raufen, einem raschen Doktorat oder einer Karriere in
der Geschäftswelt. Ich war irrsinnig tolpatschig mit siebzehn. Zehn Jahre später
war meine Eitelkeit sozusagen eine gesättigte Flüssigkeit, so daß ich meinen
Ruhm dazu verwenden konnte, den Schutt wegzuräumen.
Beschleicht dich nicht manchmal die Ahnung, daß das Verkünden deiner Wahrhaftigkeit
wieder ein Trick sein könnte?
HELLER: Nein, denn über die Wahrhaftigkeit mache ich mich nicht lustig. Das
ist eine Frage zwischen mir und mir, die lautet: Betrüge ich mich? Führe ich
mich lächelnd auf einen Holzweg? Verkaufe ich mir meinen Untergang als einen
Aufgang? Es ist kein Kunststück, sich mit fünftausend Tonnen auf einen Marienkäfer
zu stürzen. Ich gehe davon aus, daß jeder zu retten ist, weil ich zu retten
bin, und zwar durch mich.
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*) Mit André Heller bin ich
seit nun fast vierzig Jahren befreundet.
**) Im Juni 1983 inszenierte Heller in Lissabon das Feuerspektakel "Teatro
de Fogo"
***) 1976 gründete Heller zusammen mit Bernhard Paul den Zirkus Roncalli, stieg jedoch
nach Zwistigkeiten mit Paul, der den Zirkus bis heute alleine führt, bald wieder
aus.
****) Revue, die 1981 in Wien Premiere hatte
*****) "Dalli Dalli", Quizsendung mit Hans Rosenthal, der 1987
verstarb
******) Gemeint ist die Freiluftschau "Sturz der Träume" 1984 vor dem
Berliner Reichstagsgebäude.
*******) Fred Sinowatz, von 1983 bis 1986 österreichischer Bundeskanzler
********) Anspielung auf den Selbstmord der Zirkusartistin Monika Krenner im November
1977, die zeitweilig Hellers Geliebte war
*********) André (eigentlich Franz) Heller entstammt einer Wiener Fabrikantenfamilie,
deren Süßwaren-Unternehmen "Gustav &
Wilhelm Heller" heute zu Nestlé gehört.
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Das Interview, geführt für die ZEIT, erschien, da Fritz J. Raddatz,
damals Feuilletonchef, André Heller für zu unseriös hielt, arg verstümmelt in
dem Männermagazin "Penthouse" und ungekürzt in dem Buch "Österreicher(innen)",
Bibliothek der Provinz, 1994