Interview mit André Heller 1985



Du* nennst die Bundesrepublik Deutschland eine Wüste der Phantasielosigkeit.

ANDRÉ HELLER: Ja, weil ich glaube, daß viele Jahre die Phantasie in unseren Breiten etwas Anrüchiges war.

In welchen Breiten?

HELLER: Dort, wo es meist kalt ist. Dazu gehören unbedingt auch Österreich und die Schweiz. Wenn ich gezwungen bin, in Zürich zwischenzulanden, ist das, als hätte man mich mit einer Maschine entführt, so leide ich dann. Für mich ist diese Art von Rationalität, dieser Materialismus, den die Deutschen Machertum nennen, körperlich spürbar wie eine Aura.

Deine Phantasieprodukte haben aber doch auch mit Material und Machen zu tun. Du brauchst Zirkuszelte, Varietebühnen, Feuerraketen.**

HELLER: Meine Projekte sind äußere Leuchtzeichen dessen, was ich im Inneren fühle. Ich sehe einen gewaltigen Unterschied zwischen dem Herstellen eines Mercedes und dem Herstellen eines Feuertheaters.

Phantasie ist auch zum Herstellen eines Mercedes nötig.

HELLER: Richtig. Ich spreche natürlich von einer spezifischen Phantasie. Man kann nicht die Materialien schuldig sprechen für den Mißbrauch, den man mit ihnen treibt. Wer "Roncalli"***, "Flic Flac"****, mein Feuertheater, meine Parkprojekte, Tourneen und Filme gesehen hat, weiß, von welcher Gegenwelt ich da rede. In Wirklichkeit nenne ich diese Gegenwelt auch nicht Phantasie, sondern ich nenne sie Heller. Da man sich aber so eine Eitelkeit nicht erlauben kann, weil sie ununterbrochen zu Mißverständnissen führt, sage ich halt Phantasie in der Hoffnung, daß die Menschen begreifen, was gemeint ist. Ich weiß aus unzähligen Briefen, die ich bekomme, daß viele Tausende nach meinen Veranstaltungen ihr Leben ändern. Sie lassen sich zum Beispiel scheiden oder wechseln ihren Beruf.

Ein tolles Ergebnis.

HELLER: Ich finde es hervorragend, wenn sich jemand, der seit fünfzehn Jahren in einer schrecklichen Ehe lebt, scheiden läßt. Aber ich habe überhaupt keine missionarische Absicht. Ich mache das, was ich tue, nicht, um den Menschen zu helfen, sondern um meine Phantasie zu ermutigen, sich zuzugeben. Ich kann mich nicht damit aufhalten, Entwicklungshelfer zu spielen. Ich habe hier einen entscheidenden Auftrag, nämlich mich so zu verändern, daß ich am Ende meines Lebens vom Entwurf eines Menschen zu einem Menschen mutiert bin. Ich will mich lernend verwandeln.

Und dazu brauchst du Publikum?

HELLER: Erst einmal freue ich mich, wenn mir etwas gelingt. Zweitens finde ich es wunderschön, ein gelungenes Werk mit anderen teilen zu können. Ich bin wie jeder künstlerische Mensch bis zu einem gewissen Grad ein exhibitionistisches, schamloses Wesen, das die eigene Genauigkeit erst erreicht, wenn es sie herzeigt. Ich weiß, daß in mir etwas ist, meine Phantasie, die mich mündiger und wehrhafter macht, und ich habe den Wunsch, diese Gnade anderen mitzuteilen, aus Freude, so wie jemand laut lacht oder schreit, wenn es ihm gut geht. Dieses Lachen oder Schreien drückt sich aus in meiner Arbeit. Damit kann dann jeder tun, was er will. Er kann sagen, das ist ihm zu grell, zu pathetisch, zu flach, zu erhaben.

Aber damit reagiert er doch nur, anstatt selbst Phantasie zu entwickeln.

HELLER: Dagegen wehre ich mich. Es gibt zwei grundverschiedene Dinge, die ähnlich heißen. Das eine ist Phantasie, die im Betrachter eine positive Erschütterung auslöst. Das zweite ist fantasy, das bedeutet für den Konsumenten ein Emigrieren in die phantastischen Vorstellungen anderer. Man geht dorthin wie in einen Puff, lebt sein Bedürfnis nach exzentrischen Visionen aus, geht wieder heraus und ist die gleiche verzweifelte Figur, der gleiche Kretin oder freundliche Kleinbürger wie vorher.

Glaubst du, du kannst jemandem durch deine Veranstaltungen die Verzweiflung nehmen?

HELLER: Das will ich gar nicht. Ich kann nur für mich sprechen, und für mich gibt es Grenzen, wo auch die Kunst nichts mehr vermag. Eine der schrecklichsten Erfahrungen meines Lebens war die, in Situationen gekommen zu sein, wo ich sogar eine bestimmte Musik, die ich liebe, sagen wir "Wozzeck" von Alban Berg, als lästig empfunden habe, weil die immer noch mit dem Anspruch auftrat, sie könnte für mich etwas tun, und es doch nicht konnte. Es gibt ein Stürzen in einen Abgrund, wo ich als einzige Musik nur noch das Echo der eigenen Schreie ertrage.

Sind das die Feuerwerke?

HELLER: Zum Beispiel.

Kannst du die Not beschreiben, die dich so erfinderisch macht?

HELLER: Ich muß zunächst einmal sagen, daß mir das Veranstalten einer Erzählung aus brennenden Bildern auf Schiffen am offenen Meer mit 40 000 Tonnen Sprengstoff so selbstverständlich erscheint wie einem Buchhalter das Ausfüllen seiner Kolonnen. Ich habe nicht das Gefühl, ich mache etwas Außergewöhnliches, aber ich bemerke, daß es außer mir niemand macht. Deshalb frage ich mich, ist das an mir eine Deformation, eine Verkrüppelung, ein riesiger Buckel, oder braucht man davon in dieser Welt nur eine so winzige Menge, wie man vielleicht von einer bestimmten Chemikalie mehr nicht benötigt. Warum ist das vom Schöpfer so eingerichtet, daß es zu meinen Lebzeiten nur mich gibt, der das hervorbringt?

Wahrscheinlich weil sonst niemand in der speziellen Notlage ist, das alles veranstalten zu müssen.

HELLER: Über meine Not kann ich schlecht reden, weil ich sie als völlig normal empfinde. Ich kenne nichts anderes. Sie ist mir nie unerträglich erschienen, auch nicht, als ich ein Kind war, weil ich schon wußte, daß die Lösung das Verwirklichen meiner Vorstellungen sein muß als Gegenmittel gegen die Ängste. Ich war vollkommen allein, ohne von irgend jemand geliebt zu werden. Die Mutter hat gesagt, das Kind irritiert sie. Also wurde ich in ein Internat abgeschoben. Das war eine Gemeinschaft, die ich verachtet habe, die mir körperliche Schmerzen erzeugt hat. Diese stinkenden, ungewaschenen, brünftigen Versammlungen von achtzig Buben in einem Schlafraum waren für mich eine Kinderausgabe der Inquisition. Jede Individualität galt als Sünde. Spazierengehen, wo man will, war verboten, und was von den Jesuiten, den Stellvertretern Gottes auf Erden, verboten war, das war sündig. Das Internat war wirklich die größte Not, weil ich mich dort als einer unter vielen an die Regeln zu halten hatte, die für die vielen aufgestellt wurden. Es gibt ein Schlüsselerlebnis, das war sozusagen die Probe, wo ich gemerkt habe, daß ich mich wehren muß, um nicht für immer ein fügsamer Mensch zu werden. Wir hatten einen Handarbeitslehrer, der mich nicht mochte, weil ich ungeschickt war im Herstellen von kleinen Holzflugzeugen, kein König der Laubsägekunst. Neben mir saß ein Schüler, dem schlecht wurde während der Bastelstunde. Er hat erbrochen. Der Boden war voll mit Frühstücksresten. Mir hat entsetzlich gegraust. Der Bub ging auf die Krankenstation, und mir wurde vom Lehrer der Auftrag erteilt, die Speibe aufzuwischen. Ich hab' den Fetzen eingetunkt, und während des Eintunkens war der Augenblick, wo ich wußte, wenn ich mich füge, bin ich verloren für ewige Zeiten. Ich wage zu behaupten, daß ich das damals, ich war elf Jahre alt, schon genauso empfinden konnte. Also hab' ich den Fetzen mit der Speibe genommen und ihn dem Lehrer um das Gesicht gehauen.

Wer hätte deiner Meinung nach die Kotze aufwischen sollen?

HELLER: Der Zeichenlehrer, in dessen Schulstunde es passiert war.

Was geschah weiter?

HELLER: Nichts. Eine Putzschwester wurde geholt, die hat das aufgewischt, und danach wurde nie mehr darüber gesprochen. Der Lehrer hatte in der Sekunde verstanden, daß ich der Stärkere und daß ich im Recht war.

Erschien es dir nicht ungerecht, daß diese Frau das dann machen mußte?

HELLER: Nein, denn das war ihr Beruf. Ich glaube, daß es wunderbare, erleuchtete Speibeaufwischer gibt, zu denen ich allerdings nicht gehöre.

Das ist doch Zynismus.

HELLER: Wieso? Es gibt Leute, die haben einen Grad der Demut erreicht, wo sie das als einen Dienst akzeptieren, der sie weiterbringt in dem, was sie lernen wollen. Das war eine Klosterschwester. Die hatte das im Rahmen ihrer frei gewählten Dienste offensichtlich im Repertoire, ich hoffe zumindest, und wenn nicht, dann ist das nicht meine Schuld, weil die Verantwortung für die Menschwerdung dieser Frau nicht bei mir, sondern bei ihr liegt. Ich weiß, daß es innerhalb des materialistischen, kommunistischen, kapitalistischen Alltagsdenkens nur underdogs gibt oder overdogs. Aber so denke ich überhaupt nicht, sondern ich sage, jeder Mensch ist begnadet. Sobald er sich mit seinen Bedürfnissen solidarisiert, kann er gewiß sein, daß es in ihm etwas gibt, das es ihm leichter macht, die Schwierigkeiten, die aus dieser Solidarisierung entstehen, zu meistern. Das ist dann seine Kreativität oder Phantasie oder wie immer du das benennen willst.

In deinem Fall hat es sehr viel mit Geld zu tun. Deine Phantasieprojekte sind teuer.

HELLER: Nicht alle. Aber ich glaube schon, daß ich ein Bündnis eingegangen bin mit dem, was man Qualität nennt, und darunter fällt für viele auch Luxus. Ich bin dagegen, daß wir uns ununterbrochen beleidigen, unsere Augen durch die Architektur, unsere Körper durch die Materialien, die wir tragen, unsere Sinne durch niedrige Räume. Natürlich weiß ich, aufgrund welcher Zwänge es niedere Räume und billige Materialien gibt, aber es gibt auch einen Erdteil, auf dem wir uns realisieren können, ohne uns einschränken zu müssen, das ist der innere Erdteil. Den meine ich, wenn ich sage, die wahren Abenteuer finden im Kopf statt. Es ist nicht notwendig, mit dem Rennauto durch Indien zu rasen, sondern du kannst die unglaublichsten Expeditionen in deinem Inneren machen. Nur bin ich halt ein Mensch, der von allem Besitz ergreift. Das ist meine Grundstruktur. Deshalb mache ich große Projekte genauso wie ich auch manchmal nur durch Meditation oder Hingabe zu phantastischen Resultaten komme. Ich bin sicher, daß ich schon mehrere Verwandlungen hinter mir habe. Meine Seele erinnert sich an Dinge, die weit über dieses Leben hinausgehen. Ich glaube, daß das, was ich verwirkliche, deshalb so verschieden ist von der Verwirklichung anderer Leute, weil ich aus früheren Verwandlungen so viel Schutt und Anregungen zur Verfügung habe. Ununterbrochen meldet sich in mir etwas an. Das sind Pakete, die müssen abgeholt werden. Ich zeichne, ich komponiere, ich filme, mache Scherenschnitte, Schattenspiele, schreibe, trete auf, singe. Aber das Äußerste an Phantasie sind nicht die sichtbaren, benennbaren Dinge. Heute, nachdem ich so viel verwirklicht habe an für andere Menschen Monströsem, würde ich sagen, die letzten und tiefsten Abenteuer ereignen sich in der Seele, und meine einzige Verbindung zu diesen Abenteuern ist eine große, unbegreifliche Sehnsucht.

Meinst du Liebe?

HELLER: Nein, die Liebe ist eine sehr irdische Eigenschaft. Sicher ist die Voraussetzung für eine gute Arbeit, daß ich auch sinnlich lebe. Daß ich mich selbst vernachlässige zur Herstellung eines sinnlichen Kunstwerks, das geht nicht. Es gibt vielleicht Tage, an denen man keine Lust hat oder zu müde ist. Aber ich bin schon jemand, der seine Phantasie auch im Erotischen auslebt. Ich bin der Befürworter eines lustvollen, anarchischen Lebens und immer auf der Suche nach meinen Grenzen. An die kann ich vielleicht auch im Bett gelangen. Aber deshalb verzichte ich nicht auf die Reise. Ich verweigere mich nicht einem Aufbruch, nur weil ich weiß, daß es irgendwo ein Ankommen und eine Schranke gibt.

Betest du manchmal?

HELLER: Ich habe eine sehr persönliche Konversation mit meinem Schöpfer. Ich bete nicht nach den Ritualen des FC Vatikan, aber ich führe Gespräche mit etwas, das ich für erleuchteter halte als mich oder meinesgleichen.

Warum benutzt du in deiner Arbeit so häufig eine biblische Sprache?

HELLER: Meine Sprache hebt sich ab von unserer computerhaften Zeitgeistformulierungswut. Aber wo verwende ich Bibel-Zitate?

Als "Roncalli" eröffnet wurde, hieß das, es werde Zirkus!

HELLER: Gut, das gefiel mir. Ich bin wie jeder die Wurzel aus meinem Bildungsunrat, meinen Erkenntnissen, Irrtümern, Triumphen und Niederlagen. Mir war schon als Kind die Bibel eine wunderbare Literatur. Ich hatte einen Hausaltar in meinem Kinderzimmer. Da habe ich in einer erfundenen Sprache meine Phantasiemessen gelesen, drei oder vier Mal am Tag in einer von unserer Hausschneiderin genähten Kardinalstracht, Ich wollte die Menschen schwebend machen. Meine Vorstellung von einem Beruf war die, daß sich durch meine Sprache, meinen Gesang oder einfach meine Anwesenheit die Menschen in die Lüfte erheben. Ich hatte immer das Gefühl, die sitzen in Körben wie Schlangen vor einem Schlangenbeschwörer. Damals hatte ich noch viel mehr die Ambition, in anderen etwas auszulösen. Diese Ambition habe ich heute nicht mehr. Ich muß meine Arbeit mit mir, für mich, in mir und an mir tun. Kein Künstler, keine Religion, kein Staatssystem wird mir das abnehmen können, weil es nicht möglich ist, daß jemand für einen anderen etwas erledigt. Wenn ich mein Feuertheater und meine Himmelsflugkörper nicht mache, dann sterbe ich. Wenn ich meine Leuchtzeichen über den Städten dieser Welt nicht entzünde, bin ich tot. Es besteht ein magischer Zusammenhang zwischen diesen Verwirklichungen und den Bedürfnissen meiner Seele. Der eine braucht, um in Würde und Selbstachtung zu überleben, die Genauigkeit eines Gedichtes, der andere, das bin ich, muß den ganzen Himmel mit sich besudeln. Man muß kein Prophet sein, um zu wissen, daß eines Tages gesagt werden wird, da hat einer die Tür aufgemacht, wo man vorher bloß Mauer gesehen hat. Nur wird sich das erst nach meinem Tod abspielen, so daß ich mir davon nichts werde abschneiden können.

In den Medien bist du doch schon jetzt sehr präsent.

HELLER: Das ist klar. Das bringt die heutige Medienlandschaft mit sich. Ich brauche die Öffentlichkeit als Verbündete, denn wäre ich auf die Kunstkritik angewiesen, wäre überhaupt nichts zustandegekommen. Die hätte das nur verhindert. Ich muß, so wie gewisse Tiere zum Überleben bestimmte Farben haben, eine Art Strahlkraft entwickeln, um meine Projekte durchsetzen zu können. Das ist für den Typ von Arbeiter, der ich bin, ein notwendiger Begleitschutz.

Trotzdem schimpfst du auf das Fernsehen.

HELLER: Ich kritisiere bestimmte Sendungen. Ich könnte das, was der Herr Dalli Dalli***** noch entspannt machen kann, da er sich danach offensichtlich ohne Brechreiz ins Bett legt, nicht machen, weil meine Schmerzgrenze das eben nicht zuläßt, diese Aneinanderreihung von Ablenkungsmanövern. Wenn man eine schlechte Ehe hat und sich vor den Fernsehapparat setzt, um sich von seinen Problemen ablenken zu lassen, wird man nicht weiterkommen, und wenn dann der Ablenker auf die Frage, ob es die heile Welt, die er vorspiegelt, überhaupt gibt, antwortet, die Menschen würden in den Nachrichten schon genügend schreckliche Dinge erfahren, dann halte ich das für ein Verbrechen, denn wir sind nicht auf der Welt zu unserem Vergnügen, sondern um Aufschluß zu erhalten über unsere Niedertracht, unsere Erbärmlichkeit, unsere vermeintliche Unfähigkeit und unsere Chance, sie in eine Fähigkeit zu verwandeln. Wir können nicht Urlaub nehmen vom Lernen, indem wir uns einen sozusagen staatlich subventionierten Blackout erlauben.

Was macht dich so sicher, daß du eine andere Wirkung hast?

HELLER: Ich weiß, daß in "Flic Flac" der Satz fiel, jeder von uns ist einzigartig.

Ja und?

HELLER: Das bedeutet, ich habe einen einzigen Menschen, an dem ich kontrollieren kann, ob das, was ich tue, eine Wirkung hat oder nicht, das bin ich. Ich kann an mir sehen, ob ich widerstandsfähiger geworden bin im Laufe der Jahre. Ich habe, obwohl man mir eine Million Mark Gage geboten hat, kein drittes Feuertheater gemacht. Ich habe es geschafft, das abzulehnen, und ich weiß, daß ich es vor sechs Jahren noch nicht geschafft hätte. Natürlich haben nicht alle meine Arbeitsergebnisse den gleichen Anspruch. Es gibt auch Dinge darunter, die einfach ein Fest sind, so wie man einen Blutegel ansetzt, eine Art Aderlaß, den ich mir gönne, um den inneren Druck zu senken. Aber eine heile Welt habe ich nie vorgespiegelt.

Nein, eine schöne.

HELLER: Ja, aber Schönheit ist in der Welt, in der wir leben, schon an sich eine Provokation. Mir ist es egal, wenn manche meine Vorstellung von Schönheit als geschmacklos bezeichnen.

Günter Grass hat dein Berliner Feuerspektakel****** mit dem Nürnberger Reichsparteitag verglichen.

HELLER: Der Grass hat gemeint, es wäre immer schlecht, wenn sich irgendwo eine Masse versammelt. Deshalb hat er die "Blechtrommel" verfilmen lassen, damit sich das nur vierhundert Leute anschauen, nicht fünf Millionen, also das ist doch vollkommen absurd. Ein Autor, der sich darüber freut, daß seine Bücher eine Millionenauflage haben, und auch noch dafür sorgt, daß daraus Filme werden, die man überall sehen kann, der soll mir einmal erklären, warum diese Millionen gut und die Millionen, die mir zuschauen, schlecht sind.

Der Unterschied ist, daß die Millionen, die Günter Grass lesen, das nicht alle zur gleichen Zeit auf demselben Platz tun.

HELLER: Aber daran ist doch nichts Schlechtes! Die Massen, die ich versammle, sind eine Zusammenkunft von Individuen, für die es eine positive Erfahrung ist, zum Beispiel an der Grenze zwischen Ost und West zu erleben, wie nach Musik von Strawinsky Therese Giehse ein Gedicht von Bertold Brecht spricht, in dem es heißt, schaut euch die verbrannten Städte an, führt nie wieder Krieg, lernt aus der Unvernunft der Vergangenheit, übernehmt selbst die Verantwortung für euer Leben, statt sie an den Staat und die Politiker zu delegieren. Der für mich eindrucksvollste Moment in Berlin war, als zehn Minuten lang Ruhe herrschte, keine Musik, kein Feuer, gar nichts, nur dieses Gedicht und im Hintergrund das Glühen der Städte.

Das kannst du in jedem Theater erleben.

HELLER: Eben nicht, weil ich dort halt nicht mit Hunderttausenden stehe, um mit denen gemeinsam an etwas teilzunehmen, das mich aber nicht entmündigen will wie der Reichsparteitag oder eine Massenveranstaltung wie Woodstock, die einzig und allein der Schallplattenindustrie gedient hat, sondern mich wehrhafter macht gegen die Verdummungsversuche von außen. Mir liegt nicht daran, eine amorphe, anonyme Masse zu haben, sondern ich will die Versammlung einiger hunderttausend Individuen, die begreifen, daß sich darin ein gemeinsames Wollen sehr vieler anarchischer oder weniger anarchischer Einzelkämpfer ausdrückt.

Wogegen kämpfen die?

HELLER: Gegen eine bestimmte Art von Narkotisierung zum Beispiel. Ich sage in jedem Interview, mißtraut den Technokraten, den Politikern, die ihnen hörig sind, diesen fortschrittsgläubigen Lemmingen, mißtraut denen, die ein unbegrenztes Wachstum für möglich halten, mißtraut denen, die sagen, gebt uns euer Leben, wir werden damit schon das richtige machen. Ich warne die Menschen.

Aber du hast dich in Berlin von einer CDU-geführten Regierung einladen lassen, die dein Feuertheater finanziert hat.

HELLER: Das ist wirklich ein Tölpel-Satz! Ich bin nicht eingeladen worden von dieser Regierung, sondern die Gelder, die ich genommen hätte, wenn es schiefgegangen wäre, sind Steuergelder. Ich habe sie gar nicht genommen, weil sich die Veranstaltung aus den Eintrittskarten finanziert hat. Aber der Wahnsinn ist, zu denken, dies wäre das Geld der Politiker. Es ist unser Geld! Wenn mir heute ein Politiker Geld gibt, gibt er mir nicht das Geld seiner Fraktion, sondern der Steuerzahler.

Welche Politiker schätzt du?

HELLER: Keinen. Die Politiker sind zu allen Zeiten größtenteils phantasielos. Anders können sie gar nicht an die Spitze gelangen. Die Mechanismen, wie man heute an die Macht kommt, sind so, daß dem nur opportunistische, fügsame Menschen entsprechen, deren Denken von Freunderlwirtschaft geprägt ist. Da gibt es manchmal Ausnahmen wie Brandt oder Kreisky zu einer bestimmten Zeit ihres Lebens, aber das sind Irrtümer im System. Den Kreisky habe ich unterstützt, aber hinterher hat er mich unendlich enttäuscht, denn er hat dafür gesorgt, daß Herr Sinowatz******* zum Bundeskanzler gewählt werden konnte, der jetzt in einer Koalition mit der Freiheitlichen Partei sitzt, in der es von Nazis wimmelt. Ich habe erst unlängst gesagt, daß man als Österreicher mit dem Genieren für das, was diese Regierung macht, nicht mehr nachkommt.

Was sind deine nächsten Pläne?

HELLER: Ein Gartenlabyrinth in Berlin. Außerdem arbeite ich an einem Projekt mit Flugkörpern und Himmelszeichen, das sind leuchtende Objekte, die nachts über Städten fliegen. Ich sehe, daß sich die Kunst bisher immer nur auf dem Boden abspielt. Das werde ich ändern. Mein Feuertheater war der erste Schritt in andere Räume.

Damit wirst du dir wieder den Vorwurf der Gigantomanie einhandeln.

HELLER: Das interessiert mich überhaupt nicht. Niemand würde auf die Idee kommen, den Himalaya anzuklagen, weil er groß ist, oder einen Hirschkäfer, weil er klein ist.

Nein, nur ist weder der Himalaya noch der Hirschkäfer von Menschen erschaffen.

HELLER: Was heißt das? Gibt es eine bestimmte Dimension, in der wir schaffen dürfen, und in einer anderen nicht ? Wo ist die Grenze? Bis zu wieviel Metern darf ein Kunstwerk groß sein? Das ist doch absolut lächerlich. Natürlich ist auch ein Aphorismus von Karl Kraus etwas, das ich sehr achten kann, oder ein Roman von Dostojewskij. Ich habe auch eine große Liebe zum Kleinen. Ein Kunstwerk wird gemessen an seiner Wahrhaftigkeit und Radikalität. Alles andere ist vollkommen uninteressant. Ich habe mich an keine Regeln zu halten, solange ich nicht das Leben anderer Menschen gefährde oder sie behindere bei der Verwirklichung dessen, was sie für wichtig halten. Für mich ist Freiheit immer die Freiheit des anderen.

Hast du nie die Verlockung der Macht gespürt?

HELLER: Schau, diese Verlockung ist natürlich immer da, und sie sieht immer so aus, daß du die Kraft, die du zur Verfügung hast, um etwas besonders Tiefes, Genaues oder Erbarmungsvolles hervorzubringen, mißbrauchst, so daß etwas Flaches und Rohes herauskommt. Menschen verführen zu können, also mit der Energie, mit der man zum Beispiel einen Roman schreiben könnte, seelische Kolonisation zu betreiben, ist eine große Versuchung. Ich bin damit beschäftigt, ihr keine Chance zu geben. Ich kenne meinen geheimen Faschismus, aber ich entscheide mich gegen ihn, um mich achten zu können. Ich sage, daß ich ihn nur über meine Leiche zulassen werde. Das ist die Erkenntnis aus einem langen Entwicklungsprozeß. Vor fünfzehn Jahren hätte ich noch ganz anders gesprochen, weil ich bereit war, mich der Wollust hinzugeben, über andere Macht zu bekommen. Es ist ja ein unglaublicher Augenblick, wenn man merkt, ich bin nicht jemand, der geduckt wird, sondern ich kann ducken. In diesem Augenblick steht man wie unter Drogen. Vielleicht gibt es irgendwo wunderbare Geschöpfe, die dann sofort auf die Bremse steigen. Ich habe das nicht getan.

Welche Mittel hast du denn angewendet?

HELLER: Das waren oft sehr trickreiche Geschichten. Das ist ein wesentlicher Punkt, dieser Trickreichtum, dem ich mich lange anvertraut habe. Die Menschen waren durch die Art und Weise, wie ich auf sie gewirkt habe, wehrlos, weil diese Art von Feind in ihren Verteidigungstheorien nicht vorkam. Sie hatten meiner Strategie, sie zu erobern, nichts entgegenzusetzen. Ich war von der Veranlagung her ein Spitzensportler im Tricksprung, das ist eine bestimmte Geschicklichkeit, eine Form von Gehirnakrobatik, die mir inzwischen unerträglich geworden ist, weil ich weiß, daß die Frucht immer nur ein schlechtes Gewissen oder das furchtbare Gefühl ist, andere Menschen nicht glücklich zu machen. Ich bin kein Sadist. Ich empfinde keinen Triumph, wenn sich wegen mir eine Frau aus dem zehnten Stock stürzt********, sondern eine schreckliche Niederlage.

Hättest du es verhindern können?

HELLER: Sicher hätte ich es verhindern können, wäre ich mit dieser Frau vorsichtiger, behutsamer umgegangen. Ich weiß, was mein Beitrag dazu war, daß sie es getan hat. Er war gewaltig, und das ist unverzeihlich. Das wird mir nicht mehr passieren. Man darf nicht mit seiner Macht Amok fahren. Es gibt eine Art von Amok-Mentalität, die ich als ein Veruntreuen der Kraft empfinde, die einem gegeben ist, als einen unerlaubten Griff in die Kassa. Jemand gibt dir fünftausend Schilling, damit du etwas bezahlst, was er gekauft hat, und du machst damit etwas anderes. Das Böse ist eine Falle. Man kann damit berühmt werden, reich, eine begnadete Witzfigur, aber ein Mensch kann man nicht damit werden. Ich habe die Erfahrung gemacht, daß Lüge immer nur Lüge zeugt und daß das Unglück, das ich verursache, als Echo zu mir zurückkehrt.

Was wäre aus dir geworden, wenn du von Anfang an auf das Lügen verzichtet hättest?

HELLER: Ich hatte nicht diese Möglichkeit. Ich akzeptiere meinen Weg. Ich wäre anders nicht dahin gekommen, wo ich jetzt bin. Vielleicht gibt es Leute, die werden erst dann wahrhaftig, wenn ihnen die Lügen ausgehen. Aber die gehen ihnen wahrscheinlich nie aus. Ein für mich entscheidendes Erlebnis war es, als begann, Kafka zu lesen, der wirklich ohne Tricks auskommt. Plötzlich habe ich mich so geschämt, und ich habe gewußt, weg mit den Ornamenten, weg mit dem Zierrat. Ich hatte immer die Sehnsucht nach einem kargen Raum. Es gibt einen sehr frühen Text von mir, da heißt es, karg möchte ich sein wie ein Stück Brot auf dem Tisch. Aber der Raum, in den ich geboren wurde, war voll von Schutt*********. Ich trat in das Zimmer, in dem ich es gerne karg haben wollte, sah den Schutt, schaute ihn an, und da begann er zu funkeln und glitzern und verwandelte sich. Plötzlich war ich ein Schutt-Herzeiger und bin damit ganz rasch berühmt geworden, denn es ist wirklich das leichteste im Leben, berühmt zu werden. Aber ich habe immer gewußt, welche Funktion dieser Ruhm hat. Ich war ein ungeliebtes Geschöpf, mein Nachholbedarf an Eitelkeit uferlos. Ich habe mich als häßlich empfunden, hatte keinerlei Voraussetzungen, akzeptiert zu werden, weil ich nicht begabt war zum Schwimmen, Skifahren, Raufen, einem raschen Doktorat oder einer Karriere in der Geschäftswelt. Ich war irrsinnig tolpatschig mit siebzehn. Zehn Jahre später war meine Eitelkeit sozusagen eine gesättigte Flüssigkeit, so daß ich meinen Ruhm dazu verwenden konnte, den Schutt wegzuräumen.

Beschleicht dich nicht manchmal die Ahnung, daß das Verkünden deiner Wahrhaftigkeit wieder ein Trick sein könnte?

HELLER: Nein, denn über die Wahrhaftigkeit mache ich mich nicht lustig. Das ist eine Frage zwischen mir und mir, die lautet: Betrüge ich mich? Führe ich mich lächelnd auf einen Holzweg? Verkaufe ich mir meinen Untergang als einen Aufgang? Es ist kein Kunststück, sich mit fünftausend Tonnen auf einen Marienkäfer zu stürzen. Ich gehe davon aus, daß jeder zu retten ist, weil ich zu retten bin, und zwar durch mich.

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*) Mit André Heller bin ich seit nun fast vierzig Jahren befreundet.

**) Im Juni 1983 inszenierte Heller in Lissabon das Feuerspektakel "Teatro de Fogo"

***) 1976 gründete Heller zusammen mit Bernhard Paul den Zirkus Roncalli, stieg jedoch nach Zwistigkeiten mit Paul, der den Zirkus bis heute alleine führt, bald wieder aus.

****) Revue, die 1981 in Wien Premiere hatte

*****) "Dalli Dalli", Quizsendung mit Hans Rosenthal, der 1987 verstarb

******) Gemeint ist die Freiluftschau "Sturz der Träume" 1984 vor dem Berliner Reichstagsgebäude.


*******) Fred Sinowatz, von 1983 bis 1986 österreichischer Bundeskanzler

********) Anspielung auf den Selbstmord der Zirkusartistin Monika Krenner im November 1977, die zeitweilig Hellers Geliebte war

*********) André (eigentlich Franz) Heller entstammt einer Wiener Fabrikantenfamilie, deren Süßwaren-Unternehmen "Gustav & Wilhelm Heller" heute zu Nestlé gehört.


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Das Interview, geführt für die ZEIT, erschien, da Fritz J. Raddatz, damals Feuilletonchef, André Heller für zu unseriös hielt, arg verstümmelt in dem Männermagazin "Penthouse" und ungekürzt in dem Buch "Österreicher(innen)", Bibliothek der Provinz, 1994