Interview mit Alberto Moravia



Man hat Sie einen Moralisten ohne Moral genannt. Haben Sie Grundsätze, nach denen Sie leben?

ALBERTO MORAVIA: Ich habe schon Grundsätze. Ich brauche welche, weil ich ein sehr leidenschaftlicher Mensch bin. Ich würde zum Beispiel nie jemanden töten, obwohl ich oft Lust dazu hätte. Wenn ich zu wählen hätte, ob ich töte oder getötet werde, würde ich es vorziehen, getötet zu werden. Mein Leben ist mir nie so wichtig gewesen, um einen anderen Menschen dafür zu opfern. Ich hasse auch das Töten von Tieren. Ich bin gegen die Jagd. Deshalb fand ich Hemingway so erbärmlich. Ich kenne Afrika. Ich bin fünfzehnmal dort gewesen, aber ich habe mich kein einziges Mal an einer Safari beteiligt. Ich schlage nicht einmal eine Fliege tot.

Können Sie hassen?

MORAVIA: Ich kenne den Haß. Er ist wie ein schlechter Geruch. Es gibt nichts Langweiligeres. Ich habe oft Mordgedanken, aber ich schreibe sie lieber auf, statt sie in die Tat umzusetzen. In meinen Büchern wird ja sehr viel gemordet. Das Schreiben ist eine gute Methode, sich das Töten in der Realität zu ersparen. Deshalb sind Schriftsteller meist sehr ausgeglichene Menschen. Ich kann mir schon vorstellen, daß es für einen Mann amüsanter ist, in den Krieg zu ziehen und zu kämpfen, aber das ist ja leider nicht möglich, ohne jemanden umzubringen.

Haben Sie Selbstmordgedanken?

MORAVIA: Ja, oft. Solche Gedanken sind ganz alltäglich. Ich glaube, daß jeder Mensch mindestens einmal am Tag daran denkt, sich das Leben zu nehmen. Ich denke daran, aber ich tue es nicht. Es ist nicht wichtig zu leben. Es ist aber auch nicht wichtig zu sterben. In gewissem Sinne ist für mich überhaupt nichts wichtig. Ich meine, es ist natürlich wichtig, daß man die Zeit irgendwie ausfüllt. Man muß sich beschäftigen. Manchmal denke ich, ich lebe, um zu erfahren, warum ich lebe, und ich schreibe, um zu erfahren, warum ich schreibe. Aber ich bin noch nicht dahintergekommen.

Als Ihr letztes Buch »Desideria« erschien, sagten Sie, von nun an würden Sie nichts mehr schreiben.

MORAVIA: Das habe ich gesagt, weil ich erschöpft war. Ich hatte sieben Jahre gebraucht, dieses Buch zu schreiben. Ich war so müde, so überdrüssig. Ich wollte nicht mehr. Aber jetzt arbeite ich wieder. Ich schreibe ein Buch über den Selbstmord.

Eine Geschichte aus Ihrem Leben?

MORAVIA: Nein, denn sonst wäre ich ja jetzt tot.

In einem Interview haben Sie behauptet, daß keine Erfahrung im Leben einen solchen Wandel hervorruft wie die Erfahrung des Todes.

MORAVIA: Ja, denn ich hatte eine falsche Todeserfahrung, also es war ein Irrtum. Man hatte mir gesagt, ich müsse mich unbedingt operieren lassen, ich hätte einen Schatten im Magen, es könnte Krebs sein. Das war der Anfang einer sehr kuriosen Geschichte, denn wenn man den Entschluß faßt, sich aufschneiden zu lassen und einen dafür geeigneten Chirurgen zu suchen, geht man zum erstbesten, aber der sagt einem, daß seine Frau ihn betrüge und er möglicherweise vor Kummer seine Hände nicht würde ruhig halten können. Also bin ich, um jedes Risiko zu vermeiden, zu einem sehr berühmten Chirurgen gegangen, der mich sofort operieren wollte, bat aber darum, mich nicht im Wartesaal sitzen zu lassen, da mein Erscheinen einiges Aufsehen erregen würde. Der Chirurg versprach, mich gleich vorzulassen, aber als ich dann dort war, war der Wartesaal voller Patienten. Also ging ich zu einem anderen Chirurgen. Das hat mich gerettet, denn der nahm nur ein bißchen Blut aus meinem Finger und sagte, eine Operation sei nicht nötig. Ich hatte mich für todkrank gehalten, aber es war ein Irrtum.

Hatten Sie Angst vor dem Sterben?

MORAVIA: Nein, es war mir egal. Ich liebe das Leben nicht genug, um Angst vor dem Sterben zu haben. Ich stand so oft dem Tod gegenüber. Ich bin es gewöhnt. Vor zwei Jahren hatte ich eine Hüftoperation, an der ich beinahe gestorben wäre. Ich fürchte mich nicht mehr. Der Gedanke an den Tod hatte in meinem Leben keine große Bedeutung. Der Tod ist die Abwesenheit von Leben. Basta! Ich beschäftige mich nicht mit diesem Gedanken. Wenn man das Leben liebt, hat man Angst vor dem Sterben. Aber wenn man so lebensmüde ist, wie ich es bin seit meiner Kindheit, ist das Sterben willkommen. Ich bin unlängst in Kalkutta gewesen und habe mit Mutter Teresa gesprochen, der man gerade den Friedensnobelpreis verliehen hatte. Sie hat dort so eine Art Krankenhaus, in das sie Leute bringen läßt, damit sie ein friedliches Ende haben. Die werden auf ein sauberes Leintuch gelegt und sterben ganz glücklich. Die haben überhaupt keine Todesangst. Die sind froh, daß es aus ist.

Wollen Sie sich mit diesen Todkranken vergleichen?

MORAVIA: Als ich krank war, ist es mir genauso gegangen, weil ich furchtbare Schmerzen hatte. Ich wäre froh gewesen zu sterben. Ich bin einmal mit Pasolini in Tansania gewesen, wir saßen in einem kleinen Flugzeug, das ging mit so großer Geschwindigkeit zur Erde hinunter, daß es nicht landen konnte. Der Pilot machte eine Schleife, um die Landung ein zweites Mal zu versuchen, aber da war ein Hügel, und ich sah, wie dieser Hügel auf uns zukam, und ich dachte, das ist das Ende. Aber ich fühlte nichts. Ich sah Kühe und Bäume, und ich dachte, im nächsten Moment werden diese Kühe und Bäume weg sein. Der Tod ist für mich nie ein Trauma gewesen. Ich habe Tiere sterben sehen. Ich denke, jemand soll sterben so wie die Tiere. Sie suchen sich einen Platz. Ein Hund kriecht unter das Bett und stirbt. Ich weiß, wir sind Menschen, aber nur zu fünf Prozent, wahrscheinlich weniger. Der Rest ist Tier. Die Tiere leben richtig und sterben richtig. Ein Hund macht drei Dinge im Leben: Er jagt, er spielt, und er schläft. Der Mensch macht dasselbe. Spielen bedeutet schreiben oder malen oder eine Frau lieben, jagen bedeutet arbeiten und Geld verdienen, und schlafen bedeutet schlafen. Da ist kein Unterschied. Nur: Die Tiere spielen mehr als die Menschen.

Kierkegaard sagt, der Unterschied zwischen Mensch und Tier sei die Verzweiflung. Ein Tier ist niemals verzweifelt.

M0RAVIA: Ich kenne Kierkegaard. Ich habe alles gelesen, und ich stimme völlig mit ihm überein. Die normale Verfassung des Menschen ist die Verzweiflung. Theoretisch müßte der Mensch unterbrochen verzweifelt sein. Aber glücklicherweise ist er eben zu fünfundneunzig Prozent Tier. Das ist seine Rettung. Sonst würde es ihn gar nicht mehr geben, weil sich die Menschheit aus Verzweiflung längst umgebracht hätte. Ich will damit nicht sagen, daß es mir etwas ausmachen würde, wenn es keine Menschen mehr gäbe. Nur: Es wäre eben dann eine Welt ohne Menschen.

Sind Sie gläubig?

MORAVIA: Ich bin gläubig und gleichzeitig gottlos, verstehen Se? Ich brauche keinen Gott, um zu glauben.

Haben Sie Kinder?

MORAVIA: Nein.

Warum nicht?

MORAVIA: Es gibt keinen Grund, höchsten den, daß ich denke, für einen Künstler ist es nicht nötig, Kinder zu haben. Ein Künstler drückt sich genügend aus in dem, was er macht. Kinder sind ja ein Ausdruck der Persönlichkeit so wie das Schreiben oder das Malen. Aber warum fragen Sie? Ich mag Kinder. Ich habe viele Geschichten über Kinder geschrieben.

Haben Sie darauf geachtet, kein Kind zu zeugen?

MORAVIA: Ich habe auf überhaupt nichts geachtet. Meine erste Frau, Elsa Morante, ist Schriftstellerin, und während sie schrieb, wollte sie keine Kinder. Meine zweite Frau, Dacia Maraini, ist neunundzwanzig Jahre jünger als ich und will auch keine Kinder.

Wären Sie gerne jünger? 

MORAVIA: Ich fühle mich nicht so alt. Mein Arzt sagt, ich sei zwanzig Jahre jünger, als ich in Wirklichkeit bin. Also was die Vitalität betrifft, bin ich erst zweiundfünfzig. Es gibt zwei Merkmale des Alters: Erstens, man verliert die sexuellen Begierden, zweitens, man ist nicht mehr fähig zu gewissen Dingen, selbst wenn man wollte. Altsein ist Impotenz in jeder Beziehung. Ich bin noch nicht impotent. Ich mache heute die gleichen Sachen, die ich seit fünfzig Jahren mache.

Haben Sie Angst, Ihre Potenz zu verlieren?

MORAVIA: Nein, überhaupt nicht. Ich meine, Sex ist ganz schön, aber schließlich, wenn man alt ist, wird der Sex so nutzlos wie für ein Kind. Ein Kind benutzt sein Geschlechtsteil zum Urinieren. Ansonsten empfindet es dieses Ding als ganz überflüssig. Ich fing erst an, mich für Sex zu interessieren, als ich neun war.

Aber das ist doch früh.

MORAVIA: Das hängt vom Klima ab. Ich bin Südländer. Kleine Jungen in Italien fangen sehr früh an. Wollen Sie, daß ich Ihnen über Sex etwas erzähle? Es ist so: Mit fünf oder sechs Jahren wird sich ein Junge oder ein Mädchen seines Geschlechtes bewußt, aber so richtig los geht es erst mit zehn oder elf, manchmal auch später.

Welchen Sex kann man mit neun Jahren machen?

MORAVIA: Also gut, ich war nicht neun, sondern elf. Es war ein Mädchen aus dem Bekanntenkreis meiner Mutter, eine Freundin, die zu Besuch kam. Sie war neunzehn.

Was haben Sie mit der gemacht?

MORAVIA: Ich habe gar nichts gemacht. Ich mochte sie eben.

Haben Sie onaniert?

MORAVIA: Wahrscheinlich. Daran kann ich mich nicht mehr erinnern... Richtig mit einem Mädchen geschlafen habe ich erst mit siebzehn. Sie sehen, ich bin in nicht außergewöhnlich. Ich bin kein besonders sexuell veranlagter Mensch. Ich war in einige Frauen verliebt, als ich klein war, aber das war alles platonisch.

Liebten Sie Ihre Mutter?

MORAVIA: Meine Mutter war eine sehr einfache Frau. Nein, ich liebte sie nicht. Sie hatte viel Temperament, aber wenig Verstand. In gewissem Sinne war sie eine recht gute Mutter, aber eben intellektuell völlig uninteressiert. Man kann sich seine Freunde aussuchen, aber nicht seine Eltern. Mein Vater war Architekt. Ich glaube, das waren völlig normale Leute. Der einzige Abnormale in der Familie war ich, denn ich war sehr sensibel. Ich habe sehr früh Dostojewski gelesen und schon mit acht Jahren zu schreiben begonnen, zuerst Gedichte, schlechte Gedichte. Meine Mutter wollte, daß ich die diplomatische Laufbahn ergreife. Deshalb hatte ich Gouvernanten in allen Sprachen, deutsch, englisch, französisch. Aber ich wollte schon damals Schriftsteller werden.

Auch der Held in Ihrem Roman »Ich und er« will Künstler werden, aber ihm steht dabei ständig sein Geschlechtsteil im Wege.

 
MORAVIA: Diese Geschichte hat mit mir überhaupt nichts zu tun. Mein Geschlechtstrieb war nie besonders stark ausgeprägt. Ich bin auf die Welt gekommen als Geschichtenerzähler. Ich mußte nichts sublimieren. Ich glaube, daß das, was Freud Sublimierung nennt, ein Geschenk der Natur ist. Damit wird man geboren. Manche haben es, andere nicht. Sonst gäbe es ja auf der Welt lauter Künstler. Denken Sie nur daran, wie viele Leute zu sublimieren versuchen, aber die meisten werden dann bloß neurotisch. Eine Bekannte erzählte mir einmal von einem Freund. Er hieß Mario, und er liebte sie, aber als er mit ihr Sex machen wollte, war es ein Fehlschlag. Da hat er zu seinem Glied wie zu einem anderen Menschen gesprochen: Warum tust du so was? Warum blamierst du mich so? Also er machte aus sich und seinem Geschlechtsleben zwei Teile. Das brachte mich auf die Idee, diesen Roman zu schreiben. Zuerst wollte ich einen klinischen Fall daraus machen, ein Buch wie »Dr. Jeckyll and Mr. Hyde«, aber dann habe ich es humoristisch geschrieben. Finden Sie es gelungen?

Ich finde es ziemlich stimulierend an manchen Stellen.

MORAVIA: So?

Darf ich zitieren?

MORAVCIA: Bitte!

»Riesig, steif, vom Blutandrang geschwellt, wie ein einsamer Baum in der Ebene unter einem tiefen, heißen Himmel, erhebt er sich fast senkrecht von meinem Leib und wölbt das Laken.«

MORAVIA: Ja, aber das ist doch komisch. Ich bin der Meinung, daß erotische Literatur, wenn sie künstlerisch wertvoll sein soll, komisch sein muß. Pornographische Bücher sind immer ermüdend, weil sie den Sex so todernst betrachten.

Sie sind mehrmals wegen Pornographie angezeigt worden. Ihr Name steht auf der Liste der vom Vatikan verbotenen Bücher.

MORAVIA: Damit muß ich leben. Es gibt in Italien ein Gesetz, das besagt, daß jedes Buch, durch welches das Anstandsgefühl der Bürger verletzt wird, Pornographie ist. Nur ist eben das Gefühl für Anstand in der Lombardei ein ganz anderes als in Sizilien. Deshalb ist dieses Gesetz eine Absurdität. Schaun Sie, es gibt zwei Arten von Büchern, die sich mit Sex befassen. Da gibt es zum Beispiel »Fanny Hill«, diese Geschichte einer Prostituierten, das handelt von Sex und sonst gar nichts, und dann gibt es Bücher, in denen der Sex etwas ist, was man in der Literatur als Metapher bezeichnet. Also da wird über Sex zwar geredet, aber die Sexualität wird als Symbol für bestimmte Verhaltensweisen verwendet. In »Ich und er« wollte ich einen Mann beschreiben, der aufgrund seiner christlichen Erziehung gegen seinen Trieb ankämpft. Das ist ja nicht neu. Das hat Tradition. Sexualität wird ja in der christlichen Moral seit eh und je für etwas ganz Schlimmes gehalten, für den Teufel... Aber lassen Sie mich das lieber anhand meines letzten Buches erklären, das in Deutschland unter dem Titel »Desideria« herauskam, was ganz dumm ist, denn wörtlich übersetzt müßte es heißen »Das innere Leben«. In diesem Buch wird sehr viel über Sex gesprochen, anal, oral, aber es ist kein Buch über Sexualität, sondern es benutzt den Sex, um die Personen zu charakterisieren, so wie man zum Beispiel einen nervösen Menschen dadurch charakterisiert, daß man schreibt: Er ist Kettenraucher. Haben Sie Theophrast gelesen? Oder »Les Caractères« von La Bruyere? Früher hat man eben andere Symbole zur Charakterisierung eines Menschen verwendet, weil die Sexualität tabuisiert war, etwas, über das man nicht schreiben konnte. Seit Freud ist Sex ein Verhalten wie jedes andere auch, wie Essen und Trinken oder Ins-Kino-gehen...

Wollen Sie durch Ihre Werke unsterblich werden?

MORAVIA: Nein, denn unsterblich ist gar nichts. In dreitausend Jahren wird es keine italienische Sprache mehr geben, auch keine französische oder englische oder deutsche. Es wird ein Ende der Sprache geben. Unsterblichkeit ist immer der Wunsch sehr primitiver Menschen gewesen. Die haben Kriege geführt und sich Denkmäler errichtet. Hitler ist vermutlich viel unsterblicher, als ich es je sein kann, oder Nero, der seine Mutter ermordete.

Mit welcher Art Sex würden Sie Hitler charakterisieren?

MORAVIA: Das weiß ich nicht. Aber von Napoleon ist ja bekannt, daß er einen ganz winzigen Penis hatte. Da gibt es einen anatomischen Bericht seines Arztes, in dem steht, daß der Schwanz kleiner war als der eines Kindes, was mich erstaunt hat, denn als Napoleon in Grenoble zum erstenmal mit Marie-Louise allein war, hat er sie in seiner Droschke sofort vergewaltigt. Ich frage mich, wie er das machte. Hitler war wahrscheinlich sexuell nicht sehr ausgeprägt. Er hatte Träume von Größe. Aber ich hatte nie das Gefühl, daß er groß war. Er hatte eine physiologische Kraft, aber im Kopf hatte er wenig. Er war, wie soll ich sagen, ein Flugzeugmotor in einem sehr kleinen Auto. Was passiert dann? Viel Lärm um nichts.

Worin unterschied sich Hitler von Mussolini?

MORAVIA: Mussolini war weniger blutrünstig, ein mediterraner Typ. Er liebte den persönlichen Kontakt mit den Menschen. Aber groß war er auch nicht. Es gab so viele Männer in diesem Jahrhundert, die meinten, die Welt müßte geändert werden. Ein Politiker sollte sich darauf beschränken, die Welt zu organisieren, ein Künstler, sie darzustellen, und ein Wissenschaftler, sie zu erforschen.

Welcher Partei wählen Sie?

MORAVIA: Die Kommunisten.

Nein!

MORAVIA: Doch! Und wissen Sie, warum? Ich werde Ihnen sagen, was ich Edward Kennedy antwortete. Er fragte mich, wo ich politisch stünde. Ich sagte: gemäßigt links. Er fragte: Was wählen Sie? Ich sagte: die Kommunisten. Das konnte er nicht begreifen. Da erklärte ich ihm, daß es in Italien heute sehr viele gibt, die kommunistisch wählen, obwohl sie nicht links stehen. Meine politischen Interessen waren immer realitätsbezogen. Ich bin kein Theoretiker. Ich versuche zu handeln. Als ich 1934 von Paris nach Rom fuhr, baten mich französische Antifaschisten, einen Brief mitzunehmen. Ich fragte: Ist es gefährlich? Man sagte mir: Ja, Sie könnten verhaftet werden. Da habe ich es gemacht wie der Mann in der Geschichte »The purloined letter« von Poe. Ich steckte den Brief in meine Manteltasche und hängte den Mantel deutlich sichtbar vor mein Schlafwagenabteil. Als die Polizei kam, durchsuchte sie jeden Winkel, aber den Mantel durchsuchte sie nicht. Ein anderes Mal, 1936, habe ich eine Generalstabskarte, auf der die von Mussolini geplante Okkupation Taiwans skizziert war, von Hongkong nach Kanton geschmuggelt. Ich war immer ein sehr praktischer Mensch. Die KPI ist heute die einzige Reformpartei, die wir haben. Deshalb wähle ich sie.

Fürchten Sie nicht, daß Ihnen die Kommunisten, wenn sie an die Macht kämen, Ihr Vermögen wegnehmen?

MORAVIA: Ich sage ganz ehrlich: Ich weiß es nicht. Vielleicht würde sie es tun. Aber das würde mich auch nicht stören. Das einzige, was ich brauche, ist ein Tisch und ein Zimmer. Künstler sind anspruchslos. Die meisten kultivierten Leute sind arm. Die Reichen sind nicht sehr kultiviert. Ich bevorzuge arme und kultivierte Leute. Stendhal hat gesagt, wer zu arm ist, denkt dauernd ans Geld, und wer zu reich ist, genauso.


Sie gehören eher zu den Letzteren.

MORAVIA: Ich bin heute zweiundsiebzig. Das ist ein ganz schönes Alter. Es gibt Schriftsteller, die waren schon in jungen Jahren viel reicher. Proust hatte Schiffsaktien. Tolstoi war reich von Geburt. Turgenjew war Großgrundbesitzer. Manzoni war Graf. Thomas Mann hatte sein Leben lang keine Geldprobleme. Sie ahnen ja nicht, wie schlecht es mir ging, als ich jung war. Mein Leben war extrem leidvoll und völlig unsicher bis zum Alter von vierzig. Dann begann ein zweites Leben, das ganz gut war vom finanziellen Gesichtspunkt. Aber bis dahin war es ein einziger Schrecken. In meiner Jugend gab es nur Schmerzen. Wenn ich Ihnen das jetzt mit einem Lächeln erzähle, dann nur, weil es vorbei ist. Vergangenheit ist vergangen. Ich litt ab meinem neunten Lebensjahr an schwerer Knochentuberkulose. Ich konnte jahrelang das Bett nicht verlassen, weil schon die geringste Bewegung mir Schmerzen bereitete. Also ich konnte nicht aufstehen. Ich starb fast.

Sie konnten nicht schreiben.

MORAVIA: Nein.

Nur denken.

MORAVIA: Ja, aber was heißt "denken"? Das Denken hat ja nur Sinn, wenn man die Möglichkeit hat, es jemandem mitzuteilen. Da ich vollkommen isoliert war, wäre es ganz sinnlos gewesen. Nur denken, ohne sich auszudrücken, das geht nicht.

Man würde wahnsinnig werden.

MORAVIA: Eben. Deshalb habe ich es vermieden zu denken, als Lebensrettung. Ich habe vielleicht gepfiffen oder den Geräuschen gelauscht, die von draußen kamen. Man kann sich in eine Gedankenlosigkeit hineinhypnotisieren. Man wird dann abwesend, stumpf. Ich habe gelernt, mich von der Realität abzutrennen. Das kann ich noch heute. Ich schalte ab. Dann denke und fühle ich überhaupt nichts.

In Ihrem Roman »La Noia«, Ihrem Hauptwerk, beschreiben Sie diesen Stumpfsinn. Ein Maler verliert von einer Sekunde zur anderen jedes Gefühl für die Realität. Er vernichtet das Bild auf seiner Staffelei und ersetzt es durch eine leere Leinwand.

MORAVIA: Ja, aber ich bin ja kein Maler. Ich hatte Briefe von Kandinsky gelesen, in denen er schrieb, das beste Bild sei eine weiße Leinwand. Dadurch kam ich auf die Idee zu diesem Roman. Das ist völlig erfunden. Ich war schon immer ein begnadeter Lügner. Ich höre einen bestimmten Ton, das, was man die Inspiration nennt, und dann schreibe ich. Ich bin nicht Proust. Proust erfand wenig. Er schrieb ab, was er erlebte. Ich kann auch sehr gut leben, ohne zu schreiben. Das Schreiben ist keine einfache Sache. Es macht krank. Wenn ich in der Früh die Augen aufschlage, ist es so, daß ich eigentlich gar nicht mehr leben möchte. Aber dann stehe ich auf, dusche und rasiere mich, gehe in die Küche, mache mir Tee, esse ein Brot mit Honig, mache Kaffee, zuerst Tee, dann Kaffee und dann schreibe ich bis zwölf, und nach zwölf tue ich nichts mehr, bis der Tag um ist. Es ist einfach meine Gewohnheit, zu schreiben. Ich bin Schriftsteller seit über einem halben Jahrhundert. Als ich meinen ersten Roman schrieb, war ich knapp neunzehn. Wenn ich sage, ich schreibe, ist es dasselbe, wie wenn jemand anderer sagt, er geht spazieren. Ich setze mich hin, stecke ein Blatt Papier in die Schreibmaschine und fange an. So einfach ist das.

Fördert die Liebe das Schreiben?

MORAVIA: Nein, im Gegenteil, sie raubt einem die Energie. Aber das Kartenspielen oder der Besuch eines Pferderennens sind genauso gefährlich. Ich hatte in meinem Leben einige Abenteuer, aber die waren nicht wichtig. Man geht in ein Hotel, fährt mit dem Lift in das oberste Stockwerk, und dann fährt man wieder hinunter. Man kann viele Frauen haben, wenn man ein potenter Mann ist, aber man kann nur wenige lieben. Ein guter Schriftsteller ist beides, ein Mann und eine Frau. Das hat schon Flaubert gesagt, der behauptete, er sei Madame Bovary. Um ein guter Schriftsteller zu sein, muß man schizophren sein. Joyce identifizierte sich mit Bloom, aber er war nicht Bloom, er war ein großer Dichter.

Flauberts Sexualität beschränkte sich, schreibt Sartre, fast ausschließlich auf die Selbstbefriedigung.

MORAVIA: Ja, ist doch in Ordnung. Seine Vorstellungskraft war eben sehr stark entwickelt. Das ist bei künstlerischen Menschen etwas vollkommen Normales. Die Selbstbefriedigung ist der einzige Sexualakt, der etwas mit Kultur zu tun hat, weil er ganz aus der Phantasie kommt. Auch Kleist onanierte. Haben Sie etwas dagegen?

Nein, gar nicht.

MORAVIA: Jeder soll tun, was ihm Spaß macht. In gewissem Sinne bin ich gegen nichts und für alles. Es gibt viele Wege, ein Mensch zu werden... oder ein Wurm.

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Erschienen im September 1980 im “Playboy”