Die Hälfte der Strecke war schon zurückgelegt, als Köster, der mit der Bahn
geschäftlich nach Süden reiste, plötzlich den Drang verspürte, das Fenster,
durch das er die vorbeifliegende Landschaft sah, einzuschlagen. Er saß allein
in einem Abteil erster Klasse. Da ihn ähnliche Anwandlungen in letzter Zeit
öfter befallen, sich aber rasch wieder verflüchtigt hatten, machte er sich
zunächst keine Gedanken, sondern begann, um sich abzulenken, in einer Zeitschrift
zu blättern. Obwohl er sie erst auf dem Bahnhof gekauft und noch nicht hineingeschaut
hatte, kam ihm ihr Inhalt bekannt vor, so daß er sie gelangweilt zur Seite
legte. Am liebsten hätte er jedes Blatt einzeln herausgerissen, zerknüllt
und in eine Ecke geworfen. Seine Zerstörungswut richtete sich nicht gegen
ein bestimmtes Objekt, sondern, anders als sonst, gegen alles, worauf sein
Blick fiel. Die leeren Sitze weckten in ihm das Verlangen, mit einem Messer
hineinzustechen. Den kleinen Spiegel über der Lehne stellte er sich zertrümmert
vor, die von Schlaufen gehaltenen Vorhänge an Tür und Fenster in Brand gesteckt.
Um vor sich selbst den Schein der Normalität zu wahren, beschloß er zu rauchen.
Mit zitternder Hand ergriff er das Feuerzeug, das auf dem Klapptischchen lag.
Schon das Anzünden der Zigarette machte ihm Schwierigkeiten. Nach einigen
hastigen Zügen drückte er sie in den Aschenbecher. Nun blieb ihm nichts anderes
übrig als nachzudenken. Da für ihn nicht in Betracht kam, sich von seinem
Drang zu befreien, indem er ihm nachgab, mußte er ihn durch ununterbrochene
Selbstbeherrschung unter Kontrolle halten. Daß unter diesen Umständen die
Abwicklung seiner Geschäfte gelingen könnte, hielt er für ausgeschlossen.
Also nahm er sich vor, bei nächster Gelegenheit auszusteigen und abzusagen.
Seine Stellung erlaubte ihm, dies ohne Umschweife zu tun. Doch war damit,
das wußte er, nichts gelöst. Der Druck wurde stärker. Er überlegte, ob er
ihn durch einen harmlosen Zerstörungsakt, etwa dadurch, daß er ein Loch in
die Sitzfläche brannte, verkleinern sollte. Noch vierzig Minuten bis Graz,
dachte er. Als von nebenan Gelächter herüberdröhnte, nahm er seinen Koffer
von der Gepäckablage, steckte die Zeitschrift unter den Arm und verließ das
Abteil.
Im Durchgang fühlte er sich fürs erste sicher. Es fiel ihm leichter, sich
zu beherrschen, wenn man ihn sehen konnte. Was er sonst möglichst vermied,
nämlich unter Menschen zu sein, war nun, so erkannte er, seine Rettung. Er
ging von Tür zu Tür und schaute in die Abteile. Die auf ihn gerichteten Blicke
milderten den Zerstörungstrieb. Im letzten Abteil saß eine, wie es schien,
junge Frau, die ihn, da in die Lektüre eines Buches vertieft, nicht bemerkte.
Ihr Haar verbarg fast ganz das Gesicht. Er schob die Tür auf. Sie hob den
Kopf, lächelte und las weiter. Da er stehen blieb, sagte sie:
"Es ist frei."
Offenbar besaß sie die Fähigkeit, zu lesen und gleichzeitig wahrzunehmen,
was um sie geschah. Köster empfand das als angenehm. Er holte den Koffer herein
und setzte sich auf den Platz an der Tür. Sie saß ihm schräg gegenüber am
Fenster. Die leeren Plätze erinnerten ihn an den Wunsch, mit einem Messer
hineinzustechen. Er schüttelte unwillkürlich den Kopf. In Graz auszusteigen,
erschien ihm nun nicht mehr nötig. Der Zug fuhr durch verschneites Land. Er
sah durch die Tür zum Gangfenster hinaus. Auf einer parallel verlaufenden
Straße fuhr ein Auto mit gleicher Geschwindigkeit, so daß es zu stehen schien.
Die Frau hatte zu lesen aufgehört und die Hand auf das offene Buch gelegt.
Köster drehte den Kopf und war überrascht, in ihr Gesicht zu sehen. Sie fragte:
"Fahren Sie oft diese Strecke?"
Er brachte kein Wort heraus. Sie schauten einander an, bis die Frau sich wieder
dem Buch zuwandte. In Graz stieg sie aus. Sie hatte, als der Zug langsamer
wurde und in den Mastenwald der Station einrollte, das Buch zugeklappt und
eine Weile wie etwas Liebes im Schoß gehalten. Dann hatte sie es in ihrer
Reisetasche verstaut und war aufgestanden. Köster hatte ihr in den Mantel
geholfen. Als sie das Abteil verlassen hatte, war er sofort zum Fenster gegangen,
hatte es heruntergeschoben und sich hinausgelehnt. Sein Atem bildete eine
weiße Wolke. Während er der Frau mit den Augen folgte, fiel ihm eine Sequenz
aus einem Film ein, den er vor kurzem gesehen hatte. Darin war die Kamera
einer Person gefolgt, die der Zuschauer nicht gleich erkennen sollte. Er stellte
sich vor, die Frau wäre diese Person. Als sie in der Bahnhofshalle verschwand,
dachte er, daß in einem Film über seine Reise das Schließen des Fensters die
nächste Einstellung wäre. Man würde ihn hinter der Scheibe, in der sich der
Himmel spiegelte, stehen sehen.
Und dann? Er setzte sich auf den Fensterplatz, schlug eine Seite der Zeitung
auf und umrandete mit einem Kugelschreiber, den er bei sich trug, einzelne
Wörter, die, hintereinander gelesen, einen sprachlich korrekten, aber sinnlosen
Satz ergaben. Im Film, dachte er, würde es aussehen, als merke er sich in
einem interessanten Artikel einige Stellen an. Alles, was geschah, würde im
Drehbuch stehen. Nichts wäre Zufall. Seine Gedanken wären die eines Filmschauspielers,
der sich bemüht, den Wünschen des Regisseurs gerecht zu werden. Er schloß
die Augen. Die Zeitung entglitt ihm und fiel zu Boden. Als sich der Zug in
Bewegung setzte, war ihm, als ob er auszusteigen vergessen hätte. Er lachte
und dachte zugleich, daß jemand, der ihn jetzt sehen könnte, den Grund nicht
erraten würde. Das Gefühl, nicht wirklich zu reisen, sondern einen Reisenden
darzustellen, verstärkte sich. Während er sich nach der Zeitung bückte, achtete
er darauf, daß er es auf natürliche Weise tat.
Durch den Gang drängten sich Menschen mit Koffern. Köster mußte jeden Augenblick
damit rechnen, daß jemand ins Abteil trat. Er wollte allein sein. Im Geiste
sah er sich die Notbremse ziehen, aus dem Wagen springen und über die Felder
laufen. Statt des Zerstörungsdranges, dachte er, nun also der Fluchtgedanke.
Erst kürzlich war er während einer Vertreterbesprechung von seinem Stuhl plötzlich
hochgefahren und ohne ein Wort der Erklärung aus dem Restaurant, in dem die
Besprechung stattgefunden hatte, hinausgegangen. Auf der Straße hatte er ein
Taxi gerufen, dann aber auf die Frage des Fahrers, wohin er wolle, nicht antworten
können. Er faltete die Zeitung zusammen und lehnte den Kopf zurück. Die Tür
wurde aufgeschoben. Ein älterer Herr trat ein und zeigte seine Platzkarte
vor.
"Sie verzeihen, aber ... "
"Excusez-moi!" sagte Köster. Im Aufstehen ließ er die Zeitung fallen,
die verriet, daß er Deutsch verstand.
"Es ist wahrscheinlich eine Marotte", sagte der Mann, "une
marotte. Ich muß, wenn ich reise, am Fenster und in Fahrtrichtung sitzen."
Er illustrierte den Satz durch eine Geste. "Ich muß mich dem Ziel, vous
comprenez, als Eroberer nähern. Deshalb fliege ich ungern. Ich sehe, wenn
ich im Flugzeug sitze, nicht das eroberte Land. Reiten Sie?"
"Non."
Köster gefiel es, daß ein paar Worte genügten, um als Franzose zu gelten.
"Naturellement", fuhr der Mann fort, "ist eine Bahnfahrt mit
einem Kavallerieangriff nicht zu vergleichen. Aber in einem gewissen Sinn
hat man doch das Gefühl, in Feindesland vorzudringen. Der Mensch braucht den
Widerstand. Was ihm nicht widersteht, das zerstört er. Die Zerstörung ist
ein Ausdruck seiner Sehnsucht nach der Macht, die ihn bezwingt."
"Mais l' amour ... ", sagte Köster.
"Ja, die Liebe, die Liebe!" rief da der Mann, als wollte er ein
Chanson vortragen.
"La femme ... "
"Die Liebe, die Frau, der Tod... Attendez!" Er öffnete seine Aktentasche
und nahm ein Buch heraus.
Köster erkannte den Umschlag. Das gleiche Buch hatte die Frau gelesen.
"Ist gut", sagte er und streckte dem Mann seine Hand entgegen. "Mein
Name ist Köster. Lange hätte ich nicht mehr durchgehalten." Er lachte.
"Meine Französischkenntnisse hätten nicht ausgereicht."
Da der Mann die Hand nicht ergriff, ließ er sie sinken. Im selben Augenblick
entfiel ihm, was er noch hatte sagen wollen. Sein Gesicht nahm einen verstörten
Ausdruck an. Er fragte sich, ob er träume. Aber er war sich auch seiner Gedanken
nun nicht mehr sicher. Vielleicht versuchte er, einen imaginären Beobachter,
der in seinen Kopf schauen konnte, zu täuschen. Der Mann schob das Buch in
die Manteltasche. Eine Schweißperle löste sich an seiner Stirn und rollte
zur Nasenwurzel. Köster konnte der Versuchung, sie wegzuwischen, nicht widerstehen.
Als er die Hand hob, beugte der Mann sich zurück und griff nach der Aktentasche,
wobei er, um sie zu erreichen, seinen Körper verrenken mußte. Den Arm in die
entgegengesetzte Richtung, nämlich nach vorn, gestreckt, sah er aus, als wollte
er einen ihm wertvollen Gegenstand aus dem Feuer retten. Zuschauer, dachte
Köster, würden das komisch finden. Es überraschte ihn nicht, daß der, wie
ihm schien, auch mimisch chargierende Mann beim Verlassen des Abteils gegen
den Türrahmen stieß und im Gang einem Kind, das dort stand, auf die Füße trat.
Mit Befriedigung stellte er fest, daß seine Reise den Erwartungen, die er
an eine interessante Geschichte knüpfte, entsprach. Sie war spannend und abwechslungsreich,
und auch das heitere Element fehlte nicht. Er überlegte, wie sie ausgehen
könnte. Die Frau, dachte er, könnte, wenn er zurückfuhr, in Graz auf dem Bahnsteig
stehen. Das hielt er für einen guten Schluß. Alles Weitere würde er offenlassen.
Als er sich setzte, sah er die Zeitung, die auf dem Boden lag. Er beschloß,
sie nicht aufzuheben. Ohne zu wissen, warum, ließ er sie liegen. Auf die Frage
nach möglichen Gründen fielen ihm mehrere ein, die ihm alle plausibel schienen,
so daß er sich für keinen entscheiden konnte. Beflügelt durch die Erfahrung
grundlosen Tuns, warf er sein Feuerzeug, die Wohnungsschlüssel und, etwas
später, seinen Paß aus dem Fenster. Dabei dachte er, daß er dazu im wirklichen
Leben nicht fähig wäre. An einer Bahnschranke stand ein Mädchen und winkte.
Er zog die Vorhänge zu. Bis zur Grenze wollte er schlafen. Doch da er nicht
müde war, begnügte er sich damit, sich schlafend zu stellen.
Als der Zug an der Grenzstation hielt, öffnete er verwundert die Augen. Das
Auftauchen aus den Erinnerungen, die sich bei geschlossenen Augen automatisch
eingestellt hatten, in die als unwirklich empfundene Gegenwart glich dem Erwachen
aus einem Traum. Sein nach außen hin glückliches Leben mit Frau und Kind,
an das er gedacht hatte, während er scheinbar schlief, gehörte zu einer anderen
Welt als das durch die Verdunkelung purpurne Rot der Sitzbezüge, auf die er
nun, scheinbar aufgewacht, schaute. Er zog die Vorhänge auf. Das vom Schnee
reflektierte Sonnenlicht blendete ihn. Undurchdringliches Dunkel, dachte er,
undurchdringliches Licht. Ein Grenzbeamter stieg in den Zug und kontrollierte
die Pässe. Köster griff in die Innentasche der Anzugjacke. Er hörte das Öffnen
und Schließen der Türen und die von Abteil zu Abteil sich wiederholenden Worte:
"Grüß Gott, Paßkontrolle." Als letzter war er an der Reihe.
"Ich kann meinen Paß nicht finden", sagte er. "Ich habe ihn
weggeworfen. "
Da der Beamte schwieg, fuhr er fort:
"Ich habe ihn aus dem Fenster geworfen. Es wäre sinnlos, nach ihm zu
suchen. Bevor Sie kamen, habe ich mit dem Gedanken gespielt, so zu tun, als
suchte ich ihn. Ich habe mir vorgestellt, wie Sie darauf reagieren würden.
Ich hätte den Koffer geöffnet und meine Hemden, Socken und Unterhosen vor
Ihnen ausgebreitet. Sie hätten nicht gemerkt, daß ich nicht wirklich suche.
Oder Sie hätten so getan, als merkten Sie nichts, Sie hätten mir doch diese
kleine Freude gemacht?"
Er schaute in das Gesicht des Mannes.
"Vielleicht ist alles, was wir tun, vorgetäuscht. Ich spiele den Reisenden.
Sie spielen den Grenzbeamten. Damit wir einander begegnen können, muß es die
Grenze geben. Es ist keine wirkliche Grenze."
Der Beamte nahm eine stramme Haltung an. Köster dachte, daß nun die Amtshandlung
beginne. Doch nichts geschah.
"Ich habe meinen Paß weggeworfen", sagte er wieder. "Ich habe
ihn, wie auch mein Feuerzeug und die Wohnungsschlüssel, aus dem Fenster geworfen.
Sie dürfen mich nicht über die Grenze lassen. Es ist Ihre Pflicht, mir den
Grenzübertritt zu verwehren. Wenn ich mich weigere auszusteigen, müssen Sie
mich zum Aussteigen zwingen. Wenn ich Widerstand leiste, müssen Sie zu gewaltsamen
Mitteln greifen."
Durch den Zug ging ein Ruck, weil Waggons angehängt wurden. Der Grenzbeamte
verlor das Gleichgewicht. Als er sich wieder gefangen hatte, wandte er sich
mit einer abrupten Drehung zur Tür und entfernte sich eilig. Köster sah noch
lang auf die Stelle, wo er gestanden hatte. Später, als der Zug bereits fuhr,
war er sich nicht mehr sicher, ob er mit dem Beamten wirklich gesprochen oder
das Gespräch, um in seiner Geschichte voranzukommen, erfunden hatte. Auch
was das Hinauswerfen des Passes betraf, hegte er Zweifel. Warum sollte er
sich eines so wichtigen Dokuments, noch dazu auf so ungewöhnliche Weise, entledigt
haben? Wie war es möglich, daß er, wie es soeben geschah, ohne Paß über die
Grenze rollte? Rätsel über Rätsel. Doch statt sie zu lösen, begab er sich
in den Speisewagen. Am Ende, davon war er fest überzeugt, würde sich alles
von selbst aufklären. An einem der Tische für zwei Personen erblickte er einen
weiblichen Hinterkopf, der ihm bekannt vorkam. Er stellte sich neben den freien
Platz.
"Sie erlauben?"
Die weibliche Person, die ihn nicht zu bemerken schien, stocherte in einer
Gemüseplatte. Erst als er sich setzte, hob sie den Blick, so daß er ihr Gesicht
sehen konnte. Es war eine Maske, die Haut aus Porzellan, der Mund eine für
immer verschlossene Öffnung. Sogar die Augen schienen künstlich zu sein. Obwohl
sie auf Köster gerichtet waren, fühlte er sich nicht angeschaut.
"Kenne ich Sie?" fragte er.
Sie ließ wie eine Schlafpuppe die Lider sinken. Er wußte nicht, ob ihr Verhalten
ihn überraschen sollte.
"Ich bin nicht eingeweiht", sagte er. "Ist eine Konversation
vorgesehen? Oder soll Ihr Schweigen mich zur Verzweiflung treiben? Wollen
Sie, daß ich Witze erzähle oder Ihnen Wein über die Bluse schütte? Man hat
mich nicht instruiert. Wenn Sie nicht sprechen, werde ich Ihnen meine Liebe
erklären."
Die Person stand auf und setzte sich an einen anderen Tisch.
Köster hielt es für nötig, seine Gedanken zu ordnen. Er fand, daß ihn dabei
die Fortbewegung des Zuges, der er, solange er fuhr, unterworfen war, störte.
Es lag deshalb nahe, das Fahrzeug für eine gewisse Zeit zu verlassen. Den
Koffer ließ er, da er ihn zum Denken nicht brauchte, im Abteil liegen. Zu
seinem Glück befand sich der Zug gerade in einer Kurve. Die Geschwindigkeit
war herabgesetzt. Er purzelte über die Böschung. Ein Strauch fing ihn auf.
Aus seiner Nase tropfte Blut in den Schnee. Schmerzen empfand er keine, doch
erschien es ihm angebracht, welche vorzutäuschen. Stöhnend, alle paar Schritte
zu Boden stürzend, schleppte er sich einen Abhang hinauf. Oben sah er, daß
er als Schwerverletzter das nächste Dorf nicht erreichen konnte. Die Geschichte
seiner Reise sollte offenbar mit seinem Erfrierungstod enden. Er rief um Hilfe.
Es kam aber niemand.
Wie lange, dachte er, dauert es, bis man erfroren ist? Seine Hände waren schon
starr, die Schuhe durchnäßt. Sein Anzug schützte nicht gegen die Kälte. Er
versuchte, sich in einen Todgeweihten hineinzuversetzen. Was, so fragte er
sich, würde er tun, wenn er tatsächlich in gottverlassener Gegend seinem Ende
entgegensähe? Sterbende Tiere verkriechen sich. Er aber richtete sich auf
dem Hügel hoch auf und streckte die Arme zum Himmel. Minutenlang verharrte
er so in bewußt theatralischer Pose. Dann brach er zusammen.
Die Frau im Speisewagen winkte den Kellner herbei. Sie hatte sich ein Glas
Wein bestellt, aber fast nichts getrunken. Nun wollte sie zahlen. Ein Gedanke
durchzuckte sie. Über ihr Gesicht flog der Schatten eines Erschreckens. Während
sie in ihrer Handtasche wühlte, vergaß sie, daß sie die Geldbörse suchte.
Der Kellner schaute gelangweilt zum Fenster hinaus. Sie nahm aus der Tasche
einzelne Gegenstände, ein Feuerzeug, einen Schlüsselbund, eine Nagelfeile,
und legte sie auf den Tisch. Da der Kellner nicht reagierte, hob sie die Tasche
vom Schoß und stülpte sie um.
Der Grenzbeamte war nach seinem Erlebnis mit Köster in den nächsten Waggon
gegangen, hatte die Tür des ersten Abteils geöffnet und, obwohl es leer war,
gesagt: "Grüß Gott, Paßkontrolle." Im zweiten Abteil hatte er, um
seinen Fehler zu korrigieren, geschwiegen. Trotzdem hatten die Fahrgäste,
zwei Studentinnen, ihre Pässe gezeigt. Erst in der Amtsstube, als er über
einen Witz, den ein Kollege erzählte, nicht lachen konnte, hatte er gemerkt,
daß er nicht mehr derselbe wie vorher war. Er hatte den Witz zwar verstanden
und auch komisch gefunden, doch seine Gesichtszüge hatten sich dem Lachen,
so schien es ihm, widersetzt.
"Dir ist wohl eine Laus über die Leber gelaufen", hatte der Kollege
gesagt und war zur Abfertigung eines gerade eingefahrenen Zuges hinausgegangen.
Der Kellner blieb ungerührt. Die Frau nahm einen Smaragdring vom Finger, hielt
ihn über das Weinglas und ließ ihn fallen. Dann stand sie auf, um nach Köster
zu suchen. Da sie ihn nur aus nächster Nähe betrachtet hatte, konnte sie sich
zwar an seine Augenfarbe, die Farbe des Haars, den Schwung der Lippen erinnern,
wußte aber nicht, wie er insgesamt aussah. So mußte sie hoffen, ihn an der
Art zu erkennen, wie er sie anblicken würde. Um die Aufmerksamkeit der in
den Abteilen sitzenden Männer auf sich zu lenken, blieb sie vor der einen
oder anderen Tür auffällig stehen oder öffnete sie wie aus Versehen. In manchen
Gesichtern, in die sie dann schaute, blitzte so etwas wie ein Erkennen auf,
doch je länger der Blickkontakt anhielt, desto deutlicher wurde, daß es das
Gegenteil, nämlich der Ausdruck eines Befremdens war. In das Abteil, in dem
Köster gesessen hatte, sah sie nur kurz, denn sie erkannte sofort, daß der
ältere Herr, der darin saß, nicht der Gesuchte war. Ihre Blicke hatten sich
aber getroffen, und als sie auf dem Rückweg, nachdem sie bis ans Ende des
Zuges gegangen war, zum zweitenmal in das Abteil sah, trat der Mann vor die
Tür und rief ihr nach:
"Ich weiß, wen Sie suchen."
Sie blieb stehen, ohne sich umzudrehen.
Er sagte: "Ich kann Ihnen eine Beschreibung geben."
Sie hob die Hände und preßte sie an die Stirn.
"Dunkle Augen, dunkles Haar ... "
Sie ging langsam weiter.
"Er sprach über Liebe."
Im nächsten Waggon sperrte sie sich in die Toilette ein. Bei der Befragung
durch die Kriminalpolizei, die zu klären versuchte, weshalb Köster, dessen
Leiche ein Streckenwärter gefunden hatte, aus dem Zug gestürzt war, sagte
sie, sie habe sich eingeschlossen, um zur Vernunft zu kommen. Das durch die
Toilettenöffnung deutlich hörbare Fahrtgeräusch habe den durch die Begegnung
mit dem Verstorbenen in ihr ausgelösten Bewegungsdrang abgeschwächt. Schließlich
sei sie, auch innerlich, vollkommen ruhig geworden. Ihre Erregung, die sich,
von jenem Drang abgesehen, in einem Gedankenfluß und dem Wunsch, sich auszusprechen,
geäußert habe, sei abgeklungen. Buchstäblich gedankenlos sei sie dann vor
dem Toilettenspiegel gestanden, ohne zu merken, daß sie sich selbst darin
sah. Nach ungefähr zehn Minuten sei sie in heiterer Stimmung, wie sie sich
nun, da sie wisse, was geschehen sei, vorwerfen müsse, in den Speisewagen
zurückgegangen. Hätte sie das, was sie für unvernünftig gehalten habe, nämlich
die Suche nach dem Verunglückten, fortgesetzt, so wäre er, denke sie jetzt,
noch am Leben.
Der ältere Herr gab an, der zu Tode Gekommene habe einen verwirrten Eindruck
gemacht. Als ehemaliger Offizier, der über einige Menschenkenntnis verfüge,
wäre er nicht überrascht, stellte sich heraus, daß es sich bei dem Mann um
einen Verbrecher handle. Möglicherweise sei er, um der Verhaftung zu entgehen,
aus dem Zug gesprungen. Dagegen erklärte der Grenzbeamte, ihm schiene im nachhinein,
der Tote habe es darauf angelegt, seine Verhaftung herbeizuführen. Offensichtlich
habe er sich bedroht gefühlt.
Auch Kösters Ehefrau, seine Geschäftsfreunde und andere mit ihm bekannte Personen
wurden verhört. Jede Antwort warf neue Fragen auf. Eine Suchaktion nach dem
Reisepaß wurde eingeleitet. Doch als er gefunden war, wußte man mit der Tatsache,
daß dadurch Kösters Behauptung, er habe ihn aus dem Zug geworfen, erhärtet
wurde, nichts anzufangen. Die in der von ihm zurückgelassenen Zeitung umrandeten
Wörter konnte man für eine verschlüsselte Botschaft halten. Die Presse schrieb,
er sei ein Spion gewesen. Sein Tod machte die Menschen erfinderisch. Ganze
Romane entstanden in ihren Köpfen, weil die Beweise fehlten.
Auch die junge Frau, der er in Graz nachgeschaut hatte, bis sie verschwunden
war, las die Berichte. Sie schnitt die Artikel aus den Zeitungen aus und verwahrte
sie in einer Kassette. Seit dem Tag, an dem zum erstenmal ein Foto, das Köster
zeigte, erschienen war, litt sie unter Kopfschmerzen und mußte Tabletten nehmen.
In der Anwaltskanzlei, wo sie als Sekretärin beschäftigt war, machte sie Fehler
beim Tippen und verwechselte Namen. Nachts lag sie wach. So wie für sie außer
Zweifel stand, daß der in der Zeitung abgebildete Mann mit jenem, der sich
im Zug zu ihr gesetzt hatte, identisch war, so sicher war sie sich auch, daß
er noch lebte. Dies zu bezeugen, empfand sie als ihre Pflicht, zögerte aber,
sich als Zeugin zu melden. Als sie es, da offenbar sie allein den Fall lösen
konnte, schließlich doch tat, hatte das öffentliche Interesse schon so sehr
nachgelassen, daß über die Ermittlungen kaum noch berichtet wurde. Am Ende,
dachte sie, gewöhnt man sich an den Irrtum. Auf der Polizeistation stieß sie
auf Gleichgültigkeit. Der Beamte, bei dem sie ihre Aussage machte, zeichnete
Frauenköpfe auf einen Zettel.
"Sie kennen also den Mann", sagte er.
"Ich weiß, daß er lebt", erwiderte sie in einem Tonfall, der ausdrücken
sollte, daß es ihr darauf ankam, die Worte genau zu wählen.
Der Beamte lächelte spöttisch.
"Aha, er lebt. Das soll es ja geben, daß Tote auferstehen."
Sie sprach unbeirrt weiter.
"Wir sind im selben Abteil gesessen. Er sagte die ganze Zeit kein einziges
Wort. Als ich aufstand hat er mir in den Mantel geholfen. Ich hatte sofort
das Gefühl, daß er mir folgen würde. Auf dem Bahnsteig habe ich seinen Blick
im Rücken gespürt. Als ich die Bahnhofshalle betrat, ist er ausgestiegen.
Ich habe mich an einen Kiosk gestellt, als wollte ich eine Zeitung kaufen.
Dann bin ich aus der Halle hinausgegangen und habe ein Taxi genommen. Er ist
mir nachgefahren. Zu Hause habe ich gleich die Fenster geöffnet, damit er
mich sehen konnte. Kurz darauf hat schon das Telefon geklingelt. Ich habe
nicht abgehoben. Ich habe der Versuchung, mit ihm zu sprechen, nicht nachgegeben.
So wie ich mich auf dem Bahnhof nicht nach ihm umgedreht hatte, so habe ich,
als er anrief, den Hörer nicht abgenommen. Drei Tage später kam ein Brief
aus Italien. Ich hatte erwartet, daß er mir schreiben würde. Um mich der Verlockung,
den Brief zu lesen, gar nicht erst auszusetzen, habe ich ihn, ohne den Umschlag
zu öffnen, zerrissen und die Papierschnitzel ins Klo geworfen."
Sie mußte lachen.
"Gäbe es in meiner Wohnung einen Kamin", sagte sie wie zur Entschuldigung,
"hätte ich den Brief natürlich verbrannt."
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Erschienen in: "André Müller, "Zweite Liebe", Bibliothek
der Provinz, 1991