(während seiner Amtszeit als Forschungsminister)
Sie sind in der Regierung der Musterknabe.
HEINZ RIESENHUBER: Da machen wir mal ganz dicke Anführungszeichen.
Stört Sie der Ausdruck?
RIESENHUBER: Das klingt ja so, als würde ich etwas nur machen, um zu gefallen,
nicht um von der Sache her zu einem vernünftigen Ergebnis zu kommen. Die Vernunft
ist das wichtigste.
Lassen
Sie sich nicht auch von Gefühlen leiten?
RIESENHUBER: Also, der heilige Augustinus hat einmal gesagt, Tugend ist das,
was man mit Leidenschaft, Laster, was man aus Leidenschaft tut.
Insofern meine ich, es soll etwas aus dem Kopf heraus vernünftig gebaut, dann
aber leidenschaftlich vertreten werden.
Man sagt, Sie hätten im Kabinett wenig Einfluß.
RIESENHUBER: Das ist freundlich, mir zu wünschen, daß ich mehr Einfluß hätte.
Aber ich kann nicht klagen. Was in meinem Ressort von der Sache her angelegt
ist, haben wir durchbringen können. Ich habe gerade einige schwierige Fragen
mit dem Finanzminister. Denn Frankreich will die europäische Raumfähre
"Hermes" und wird großen Wert auf unseren Beitrag legen. Aber nun
gibt es auf Intervention des Kollegen einen Beschluß, daß kein weiteres
Weltraumprojekt finanziert werden sollte, das heißt, entweder wir kommen hier
zu einer vernünftigen Lösung ...
Oder Sie treten zurück.
RIESENHUBER: Nein, also da muß man das Augenmaß schon behalten. Es gibt Fragen,
bei denen lebt die Politik vom Kompromiß, und es gibt Entscheidungen, die auch gegen
mich laufen können.
Kennen Sie Ihren Intelligenzquotienten?
RIESENHUBER: Nein, den möchte ich gar nicht kennen. Ich vertraue darauf, daß er
ausreicht.
Intelligenz ist das Talent ist, sich anzupassen.
RIESENHUBER: Ja, das hat sicher viel miteinander zu tun.
Sind Sie angepaßt?
RIESENHUBER: Der Begriff der Anpassung hat zwei Aspekte. Es gibt den
klassischen Typ des knorrigen Einzelgängers, der seine Position markant in die
Landschaft setzt, der wird sich in unserem parlamentarischen System mit seinen
Entscheidungshierarchien schwertun, obwohl seine Positionen ungemein
interessant sein können. Dann gibt es den anderen Grenzfall, nämlich den Typus,
der immer nur mitschwimmt, damit er dabei ist. Die Frage ist, welches
Gleichgewicht finde ich zwischen diesen beiden Extremen. Eine gewisse
Angepaßtheit ist nötig, um überhaupt etwas bewirken zu können. Aber ich bin
auch schon auf die Schnauze gefallen, und das kann öfter passieren. Nur hat das
heute auch Folgen für andere. Solange ich keine Familie hatte, konnte ich tun,
was ich wollte, schnell oder langsam studieren, mich ein halbes Jahr nur mit
Soziologie befassen, wochenlang lesen...
Sie haben vier Kinder.
RIESENHUBER: Ja, zuerst kam ein Junge, dann ein Mädchen und noch ein Mädchen.
Da dachte ich, es wäre schön, wenn wir noch einen Buben hätten, sonst sind es
immer zwei gegen einen.
Sie sind Katholik.
RIESENHUBER: Richtig.
Haben Sie je ein Präservativ verwendet?
RIESENHUBER: Also, ich spreche hier über jede Technik, aber über den Bereich
der privaten Techniken spreche ich nicht.
Als gläubiger Katholik dürften Sie nicht verhüten.
RIESENHUBER: Also ein wie hervorragender Katholik ich bin, weiß ich nicht. Es
gab eine Zeit, in der ich etwas ferngerückt war. Ich war damals Stipendiat der
Studienstiftung deutscher Bischöfe. Da war es üblich, in Ferienakademien
Referate zu Themen zu halten, die einen bewegten. Ich habe über das
Bevölkerungswachstum gesprochen und darüber, mit welchen Methoden man es
aufhalten könnte. Daraus ergab sich eine massive und heftige Kontroverse. Ich
war der Ansicht, daß es grundsätzlich bedacht werden müßte, ob man
Empfängnisverhütung zulassen sollte. Ich muß aber auch sagen, daß das
technokratisch überhaupt nicht zu lösen ist, am wenigsten in den
Entwicklungsländern. Alles, was dort versucht wird, und es gab sehr brutale
Methoden, hat sich als unergiebig erwiesen. Indira Gandhi wäre über den Versuch
einer Geburtenkontrolle beinahe gestürzt. In manchen Kulturen ist es ein
Zeichen der Gnade Gottes, viele Kinder zu haben, in anderen ist es die einzig
mögliche Altersversorgung. Insofern habe ich eine enorme Scheu, da etwas
vorzuschreiben.
Aber als Politiker müssen Sie doch eine Lösung haben.
RIESENHUBER: Vor zehn Jahren dachte ich, es gibt eigentlich keine Chance, das
muß zum Kollaps führen, und ich will auch heute nicht sagen, daß man den
Kollaps vermeiden kann. Aber ich sehe eine gewisse Möglichkeit darin, daß wir
den armen Ländern zu etwas mehr Wohlstand verhelfen. Die reichen
Industrienationen haben ja praktisch kein Bevölkerungswachstum.
Stattdessen wächst hier die Naturzerstörung.
RIESENHUBER: Das stimmt bis zu einem gewissen Grad, ja. Wir haben bis weit in
die siebziger Jahre ziemlich geaast mit den Naturvorräten. Wenn ich mir aber
anschaue, was seitdem erreicht worden ist, und zwar von allen Parteien, dann
muß ich sagen, wir haben die Zerstörung im Wasser rückgängig gemacht. Der
Bodensee galt als umgekippt, die oberbayerischen Seen waren weitgehend
verloren. Heute haben sie Trinkwasserqualität mit Ausnahme des Chiemsees. Auch
die Flüsse sind sauberer.
Aber der Wald stirbt weiter.
RIESENHUBER: Das ist richtig. Hier hat man eine Entwicklung verschlafen, von
der man rückblickend weiß, sie hatte sich abgezeichnet. Mich bedrückt der
Gedanke, daß uns so etwas auf einem anderen Gebiet wieder passieren kann, denn
solche Probleme entstehen meist an einer Stelle, wo sie keiner erwartet. Ich
habe unlängst ein paar sensible Leute aus den Großforschungsinstituten
zusammengebeten und ihnen gesagt, lest, was in den Undergroundblättern
publiziert wird, hört euch um, was von allen möglichen Leuten erzählt wird.
Eines der faszinierendsten Phänomene ist doch, daß das Thema der Waldschäden
zunächst nicht von der Wissenschaft kam, sondern von Laien. Bürgerinitiativen
haben das angesprochen.
Für die Wissenschaft ist das ein Armutszeugnis.
RIESENHUBER: Ja, aber das liegt auch daran, daß die Wissenschaft ihren
Charakter völlig gewandelt hat. Früher hat sie sich linear entwickelt,
abgesehen davon, daß sie langsamer fortschritt. Heute werden die
Entwicklungslinien immer zahlreicher, und die Verflechtung wird immer dichter.
Es gab schon 1978 schlimme Berichte über den Wald. Aber so ernst hat das
niemand genommen.
Trauen Sie sich zu, es besser zu machen?
RIESENHUBER: Es ist schwer, das von sich selbst zu sagen. Aber ich glaube
schon, daß ich empfindlich genug bin, zu spüren, was an Risiken auf uns
zukommt. Ich darf hier ein Beispiel nennen. Als ich vor drei Jahren in dieses
Amt kam, hatte ich eine Liste von Problemen, die ich mir anschauen wollte.
Eines war das Problem der Gentechnologie. Der Umgang mit menschlichem Erbgut
kann sehr schlimme Folgen haben. Ich lehne es ab, die Eigenschaften künftiger
Generationen, etwa meiner Kinder, durch Gentechnik zu programmieren. Wenn es
aber gelingt, mit der Gentherapie Krankheiten bei schon lebenden Menschen zu
heilen, muß das erlaubt sein.
Halten Sie Tierversuche für nötig?
RIESENHUBER: Sie sind notwendig, aber ich tue alles, um die Zahl zu
verkleinern, sei es durch den Einsatz von Computern, sei es mit Hilfe
schmerzfreier Zellkulturen. Auch machen wir in Europa zu viele Doppelversuche.
Wir könnten uns von den schätzungsweise acht Millionen Tierversuchen in
Deutschland bis zu zwei Millionen ersparen, wenn die Forschungsergebnisse
gegenseitig anerkannt würden. Andererseits müssen wir mehr Immunforschung
betreiben, um Aids zu bekämpfen. Das können wir nicht ohne Tierversuche.
Ist Aids ein rein medizinisches Problem...?
RIESENHUBER: Ja, sicher.
... oder, wie es Kardinal Höffner* formulierte, eine "Heimsuchung
Gottes"?
RIESENHUBER: Nein, es ist ein medizinisches Problem. Gott greift in die reale
Welt nur sehr wenig ein.
Wo liegen für Sie die Grenzen des Wissens?
RIESENHUBER: Ich bin fest davon überzeugt, daß der Bereich unseres Wissens
grenzenlos ist. Aber es gibt noch eine andere Qualität, die von dem, was wir
wissen, niemals berührt wird, das ist die Qualität von Wert und von Sinn. Wir
werden einen enormen Zuwachs an Verständnis der Wirklichkeit haben, aber das,
was uns diese Wirklichkeit wertvoll macht, werden wir deshalb nicht besser
begreifen. In den eigentlichen Lebensfragen ist die Wissenschaft vollkommen
irreführend.
Der technischen Fortschritt hat uns weder mehr Glück noch mehr Freiheit
gebracht.
RIESENHUBER: Da widerspreche ich. Denn die Technik hat den Umfang unserer
Wahlmöglichkeiten enorm erweitert, und das ist vordergründig schon ein Stück
Freiheit.
Man kann wählen, ob man Auto fährt oder zu Fuß geht.
RIESENHUBER: Zum Beispiel.
Wann gehen Sie zu Fuß?
RIESENHUBER: Oft. Ich fahre auch Rad. Wir haben uns in der Familie jetzt
Fahrräder gekauft, und wenn wir Zeit haben, fahren wir so in der Schweinekette
hintereinander durch die Felder und schwätzen. Das ist eine entspannte,
fröhliche Sache. Aber wenn ich in Duisburg eine Veranstaltung habe, bin ich mit
dem Rad aufgeschmissen.
Ist diese Veranstaltung so wichtig?
RIESENHUBER: Sub specie aeternitatis ist sie natürlich völlig belanglos. Aber
solange ich hier diese Aufgabe habe, muß ich mich an eine Fülle von Regeln
halten.
Welchen Sinn hat die Freiheit, wenn niemand sie nutzt?
RIESENHUBER: Hier stellt sich die Frage, in welchem Umfang man überlegt seine
Zeit gestaltet. Zumindest die objektiven Chancen dazu sind heute größer. Ein
Arbeiter vor hundertfünfzig Jahren hatte keine andere Möglichkeit, als sechzig
Stunden in der Woche zu arbeiten, früh zu altem und krank zu werden. Außerdem
konnte er nicht verreisen.
Heute sagt ihm die Industrie, er ist nichts ohne Auto.
RIESENHUBER: Ja, das ist, wenn Sie so wollen, die List des Marktes. Das Interesse
des Unternehmers besteht darin, etwas zu maximieren. Aber man muß von den
Gegenständen, die da sind, nicht unbedingt abhängig werden. Mir hat einmal ein
Minister der früheren Regierung gesagt, wir haben uns abends beim Bier
getroffen, ich sage jetzt nicht, wer es war, ein kluger, erfahrener,
sympathischer Mann... Herr Riesenhuber, hat der gesagt, für mich war es das
schlimmste, daß ich mich wieder daran gewöhnen mußte, selbst meinen Koffer zu
tragen. Da habe ich mir gesagt, verdammt, wenn es mir einmal so ergeht, das
wäre furchtbar.
Sie wollen nicht bis ans Lebensende Politiker bleiben.
RIESENHUBER: Nein. Denn man lebt hier sehr von der Substanz. Man kommt nicht
mehr dazu, zu lesen, zu denken, einmal danebenzutreten und aus einer neuen
Sicht auf das, was man tut, zu schauen.
Kurz, man verblödet.
RIESENHUBER: Ich würde es nicht so hart sagen. Aber ich ärgere mich über ein
schlechtes Handwerk, speziell wenn es mich betrifft. Ich schieße auch manchmal
Böcke, nur habe ich das bisher immer rechtzeitig gemerkt, um sie wegzuräumen,
bevor andere davon Wind bekamen.
Haben Sie Feinde?
RIESENHUBER: In einem Western stünde jetzt, sie sind alle tot.
Die Fröhlichkeit, sagten Sie in einem Interview, ist Ihre Lieblingseigenschaft.
RIESENHUBER: Habe ich das wirklich gesagt?
Wollen Sie widerrufen?
RIESENHUBER: Nein, bestimmte Dinge kann man nicht durch Widerruf lösen. Ich muß
sagen, ich halte es schon für wichtig, mit Fröhlichkeit an schwierige
Situationen heranzugehen. Das zu können, verdanke ich zu einem großen Teil
meiner Frau, die zum Glück ein sehr heiterer Mensch ist.
Waren Sie vor Ihrer Ehe weniger fröhlich?
RIESENHUBER: Das kann man sagen. Ich hatte während des Studiums manchmal den
Eindruck, ich hätte nichts, was ich so richtig anpacken könnte. Der Schwung und
die Freude fehlten. Ich hatte nie das Gefühl, etwas aufzubauen, das wächst und
das nützlich ist. Vermutlich war ich zu wenig besessen von einer Sache. Ich
habe immer gern in verschiedenen Bereichen gedacht. Mein Deutschlehrer hatte
mir geraten, ich solle Germanistik studieren. Ich schrieb als Schüler noch
viel, auch Gedichte, die ich, worüber ich heute froh bin, nie veröffentlicht
habe.
Können Sie eines auswendig?
RIESENHUBER: Nein, aber ich erinnere mich, eines meiner frühesten war ein Werk
über den Igel. Stachelig, weil milden Sinns, ist der Igel, und ich bin's grad
so im Gemüte, ihn wähl' ich als Wappentier, auf daß sein Charakter meine Ruh'
behüte... So war der Anfang.
Statt zur Kunst hat es Sie zur Politik gezogen.
RIESENHUBER: Ja, Gott sei Dank.
Wollen Sie die Menschen glücklicher machen?
RIESENHUBER: Nein, ich glaube, daß Sie als Politiker zur Förderung des Glücks kaum etwas beitragen können. Sie können nur darauf achten, nichts zu tun, das geeignet ist, Glück zu verhindern.
Was macht Sie glücklich?
RIESENHUBER:
Ich wandere gern durch die Wälder. Der Taunus ist noch ein ziemlich gesunder
Wald. Zu Jahresanfang gehe ich in ein kleines Benediktinerkloster und mache den
Tagesablauf der Mönche mit. Das beginnt in der Früh mit dem Hochamt. Dann gibt
es die Stundengebete. Was ich besonders schätze, ist die Möglichkeit, Gedanken
zu Ende zu spinnen. Man hat dort die Höflichkeit, einen nicht anzusprechen. Man
grüßt zwar, aber mehr nicht. Abends ist es meist so, daß man sich noch eine halbe
oder dreiviertel Stunde zusammensetzt. Ich unterhalte mich gern mit den alten
Brüdern. Da ist zum Beispiel einer von Beruf Uhrmacher oder Schuster, und eines
Tages entschließt er sich und geht ins Kloster. Dort hat er im Grunde nichts.
Er hat sein Zimmer. Er hat sein Bett...
Und er hat seinen Glauben.
RIESENHUBER: Das ist wahr.
-----------------
*) Joseph Kardinal Höffner (1906 - 1987), von 1969 bis zu seinem Tod Erzbischof
von Köln
-------------
Erschienen (Langfassung)
im April 1986 im "Playboy"